Schulpersonalien

Frau Nebiker. Sie waren verständnisvoll und geduldig. Sie brachten uns die Zahlen und Buchstaben bei, das erste Schreiben, die verbundene Schrift, mit der ich mich schwertat. In den Ferien musste ich Schreib- und Rechenübungen machen, weil ich in diesen Fächern zurückzubleiben drohte. Beim Schönschreiben hatte ich eine "Klaue", Rechtschreibung war mir ein Graus, und beim Rechnen tat mir der Kopf weh. Ich war wohl auch etwas faul. Trotzdem kann ich mich an kein einziges böses Wort von Ihnen erinnern. Sie wohnten mit ihrem Mann, der ebenfalls Lehrer war, in einem schönen Haus neben der Staffelenbrücke. Einmal luden Sie die ganze Schulklasse zu sich nach Hause ein. In Ihrer Stube assen wir Schokoplätzchen, die Sie für uns gebacken hatten, und Sie spielten uns auf der Gitarre etwas vor. Nach zwei Jahren wechselten Sie die Stelle, gaben das schöne Haus auf und zogen an einen andern Ort. Wir bekamen eine neue Lehrerin. Da war ich sehr traurig. Ich schrieb Ihnen eine Geschichte, auf 20 A4-Seiten, die ich sorgfältig nummeriert und zusammengeheftet habe. Natürlich waren auch Zeichnungen dabei. Das war mein Abschiedsgeschenk. 

Frau Pachlatko. Sie kamen als Ersatz für Frau Nebiker. Doch die Frau Nebiker war nicht zu ersetzen, und die Zeit mit Ihnen wurde sehr schwierig. Über diese Zeit weiss ich fast nichts mehr. Ausser dass es harzig war, jede Schulstunde, jede Hausaufgabe ein Knorz. Ständig liessen Sie ein neues Aufgabenblatt aus dem Matrizendrucker. Was ich daran mochte, war der Spiritusgeruch. Die Aufgaben mochte ich nicht, ich biss mich durch, blieb ein mittelmässiger Schüler, meine Noten waren solala. Ich weiss, Sie gaben sich Mühe. Sie versuchten alles richtig zu machen. Aber diese Mühe merkte man Ihnen an. Es fehlte die Leichtigkeit, das Selbstverständliche. Ausserdem trugen Sie Zoccoli, und das Klappern dieser Zoccoli war einfach nur nervig. Als wir nach drei Jahren aus der unteren Primar kamen, sprangen und hüpften wir aus dem Schulhaus, als hätte man uns aus einem Straflager entlassen. 

Herr Weber. Sie waren fast zwei Meter gross, ein Riese, den wir anstaunten. Wir nahmen Sie als Leuchtturm wahr. Mit dem Licht, das Sie aussandten, erschlossen Sie uns die Welt. Sie weckten in uns einen Wissensdurst, der in manchen von uns nie wieder erloschen ist. Zum ersten Mal brachte uns jemand die Vergangenheit nahe, die Geschichte als etwas, das man erzählen und erleben kann. Wir besuchten Ritterburgen, August Raurica, die Rheinsalinen. Wir lernten unsere Heimat kennen, modellierten den Tafeljura aus Ton, befassten uns mit den Wirren der Kantonstrennung. Geschichte wurde zum Erlebnis, zum Abenteuer. Mit Ihnen ging unsere Primarschulzeit zu Ende. Sie waren der letzte Lehrer, der noch alles wusste, auf allen möglichen Gebieten kundig und bewandert war. Ein Universalmensch. Sie erklärten uns, weshalb Knoblauch gesund ist. Und wie man den abnehmenden vom zunehmenden Mond unterscheidet. Und Sie zeigten uns, wie man Blumen presst. Blumen presst man zwischen Löschblättern, in möglichst dicken, aufeinander gestapelten Büchern. Zeitweilig benutzte ich jedes meiner Bücher zum Blumenpressen. Und es war für Sie überhaupt keine Sache, jede Blume zu benennen. Sie waren auch sehr musikalisch, studierten mit uns die "Zäller Wiehnacht" ein, begleiteten uns dazu auf der elektronischen Orgel. Pedantisch ritten Sie auf jedem Ton, jeder Note herum. Das war nicht nur lustig. Die Aufführung sollte musterhaft sein. Der Komponist Paul Burkhard sollte von der Himmelstribüne auf uns herablächeln. 

Herr Müller. Sie, ein pensionierter Lehrer, verwalteten ganz alleine die Dorf- und Schulbibliothek. Die war im ersten Stock des Gemeindehauses untergebracht, eine kleine Schalterbibliothek am Ende des Flurs. Häufig musste man anstehen. Es war ein bisschen wie im Wartezimmer des Arztes. Man musste warten, bis man drankam. Hinter dem Schalter waren Sie der Herr der Bücher, souverän und allwissend. Bis ich in die Sekundarschule kam, las ich nur sehr wenig. Ein bisschen Astrid Lindgren, das war's. Sie achteten darauf, dass man eine altersgerechte Lektüre bekam. Alles musste seine Ordnung haben. Eines Tages - es war kurz vor den Sommerferien - mussten Sie mich beinahe ohne Buch wieder nach Hause schicken. Die Bestände im Bereich der Kinder- und Jugendbücher waren restlos geplündert. Was nun? Da hatten Sie eine Erleuchtung. Sie gaben mir den zweiten Band einer Trilogie, die sich "Der Herr der Ringe" nannte, Verlag Klett-Cotta, grün broschiert, sehr schlicht, ohne jede Illustration. Es war nur noch der zweite Band da, die andern Bände waren ausgeliehen. Aber immerhin. Das sei zwar ein Buch für Erwachsene, meinten Sie streng, nicht unbedingt für einen Dreizehnjährigen. Aber ich könne es ja mal versuchen. Das tat ich denn auch. Das Buch schlug ein wie eine Bombe. In den Sommerferien wurde ich zum leidenschaftlichen Leser. Ein Jahr später las ich bereits Highsmith, Hemingway, Kafka und Sartre. Auch dank Ihnen, Herr Müller: weil Sie die eigene Regel missachtet hatten. Und weil die Schalterbibliothek kurz danach zu einer Freihandbibliothek umgerüstet wurde. Von da an konnte ich meine Nase ungeniert in jedes beliebige Buch stecken. 

Herr Heckendorn. An der Sekundarschule waren Sie unser Klassenlehrer. Wir hatten Geschichte und Deutsch bei Ihnen, zwei Fächer, die ich mochte. Es war angenehm bei Ihnen, Sie setzten uns nicht unter Druck, das Tempo war gemächlich. Ein Schneckentempo. Monatelang traten wir auf der Stelle. Über die alten Ägypter kamen wir nie hinaus, und in Deutsch wurde fast gar nichts gemacht. Mir war das egal. Ich hatte es gut bei Ihnen. Ich musste mich kaum je anstrengen und hatte trotzdem den bestmöglichen Notenschnitt. Sie waren stets freundlich, manchmal etwas langfädig, ihr vornehmes Baseldeutsch wirkte etwas einschläfernd. Sie waren ein Mensch voller Gelehrsamkeit. Jedes Ihrer Worte wogen sie sorgsam ab, Sie glaubten an das Gewicht der richtigen Argumente. Von Autorität, Zwang und bösen Worten hielten Sie nichts. Manche Schüler nutzten das aus. Im Klassenzimmer herrschte eine ständige Unruhe. Sie hatten uns oft nicht im Griff. Ihre Bemühungen, die Kontrolle zu behalten, nahmen einen Grossteil der Unterrichtszeit in Anspruch. Sie versuchten es auf die gute Art. Sie diskutierten mit den Vorlauten, besänftigten die Wilden, appellierten an die Einsicht. Vergeblich. Ein schwieriges Alter. Wir waren ein Rudel von Narren. Das tat mir manchmal leid. Es gelang Ihnen nicht, etwas Sinnvolles aus dem Unterricht zu machen. Unsere Sekundarschulzeit endete im Chaos. Nachdem Sie uns verabschiedet hatten, blieben Sie nicht mehr lange im Schuldienst. Wir hatten Ihnen den Rest gegeben. Dabei hätten wir viel von Ihnen lernen können. Sie waren ein sensibler, human denkender, hoch gebildeter Mensch, ein echtes Vorbild. 

Herr Wirz junior. Sie waren unser erster Englischlehrer. Junior nannten wir Sie, weil Ihr Vater, der alte Wirz, ebenfalls Lehrer an der Sekundarschule war. Aus "Junior" machten wir natürlich "Tschunior". Weil Sie ein cooler Typ waren und Englisch Ihr Hauptfach war. Für die meisten von uns waren Sie schlicht und einfach der "Tschunior". Sie unterrichteten uns fast ausschliesslich im Sprachlabor, wo wir die ersten englischen Sätze nachsprachen. I want a cup of tea. What's your name? What time is it? It's tea time. Eine wunderbare Sprache. Eine Sprache, die es uns Anfängern leicht machte, eine Sprache, in der auch die einfachsten Sätze nach etwas klangen. Mit einem Englisch-Wortschatz aus zehn Wörtern konnte man bereits einen Popsong schreiben. Sie, Herr Wirz, spielten uns im Sprachlabor einen Song ab, den ich wahnsinnig mochte: "Old brown shoe" von den Beatles. Das schräge Klaviergeklimper mit dem stampfenden Rhythmus fuhr mir durch Mark und Bein. Wie cool das klang! Alter brauner Schuh. Auf Deutsch klang das läppisch. Aber auf Englisch war es eine Offenbarung. 

Herr Hofstettler. Sie waren unser Französischlehrer. Ein kleiner, lebhaft gestikulierender Mann mit grossen Ohren, Händen und Füssen. Ein Hobbit aus dem Welschland. Als Bilingue konnten Sie Französisch und Deutsch spielend miteinander verknüpfen. Wir konnten das nicht. Drei Jahre lang ritten Sie auf der Grammatik herum. Frisch von der Leber weg, ohne eine mühsam konstruierte Grammatik, bekamen wir keinen einzigen französischen Satz hin. C'ètait difficile. Bis heute verstehe ich Französisch besser als Englisch. Aber sprechen kann ich es nicht. Weil Sie als Bilingue das Sprechen vermutlich schon voraussetzten, es als unwichtig ansahen. 

Herr Nussbaumer. Sie hatten Schneid und ein unermüdliches Mundwerk. Stunde für Stunde hörten wir Geschichten über Grenadierübungen und Truppenparaden, über Feldübernachtungen und Nachtwachen, über seltsame Stabsadjudanten und ängstliche "Hosenscheisser-Rekruten". Sie lebten voll und ganz für das Militär. Ich weiss nicht mehr genau, welchen Rang Sie hatten, aber Sie waren mindestens Offizier. Auch ohne Uniform machten Sie eine stramme Figur, Sie waren streng, aber fair, und Ihre Ansprachen waren immer schmissig und flott: wie man im Militär halt so redet. Eigentlich waren Sie unser Geografielehrer, und ich weiss noch, dass ich für einen Vortrag über Südafrika (Diamantenminen! Apartheid!) eine Sechs von Ihnen bekam. Sie verliehen mir die Note wie einen Orden und rühmten mich vor der ganzen Klasse. Nicht immer schnitt ich so gut ab. Einmal zeichnete ich eine barbusige Dame, und mein Banknachbar reichte die Zeichnung in der Klasse herum, was den Unterrichtsplan etwas durcheinanderbrachte, und nachher musste ich eine Stunde bei Ihnen nachsitzen. Im Vertrauen sagten Sie mir dann, dass Sie in meinem Alter auch solche Zeichnungen gemacht hätten. Das sei ganz normal. Aber, pssst, Militärgeheimnis, das bleibe unter uns. 

Herr Dettwiler. Wir nannten Sie den "Knochenbrecher". Sie waren unser Turnlehrer. Wie Sie zu Ihrem Spitznamen gekommen waren, ist leicht zu erklären: Sie waren ein glühender Verfechter das Boden- und Geräteturnens. Sie plagten uns an der Reckstange, am Barren, am Sprungkasten, am Böckli, an den Turnringen und selbstverständlich auch auf den Bodenmatten. Sie zwangen uns zu schmerzhaften Gelenkübungen. Wohl dem, der sich gut biegen konnte! Bei Ihnen hatte ich immer das Gefühl, körperlich leicht behindert zu sein. Nach Ihren Massstäben war ich das wohl. Ich war gut im Rennen und Schwimmen, ansonsten war ich eine sportliche Null. Das gaben Sie mir auch deutlich zu verstehen. Diejenigen, die keine Begeisterung zeigten, schonten Sie am allerwenigsten. Einmal brach ich mir beim Absprung die Nase. Ich rammte mir das Knie ins Gesicht. Bis heute habe ich eine Delle im Nasenrücken. Ein Andenken an Sie. Für Schüler wie mich, grossgewachsen, mit problematischer Rückenhaltung, gab es das Haltungsturnen. Auch "Krüppeliturnen" genannt. Es war obligatorisch, ärztlich verordnet. Und die Leitung oblag Ihnen, dem "Knochenbrecher". Das konnten wir uns leider nicht aussuchen. Aus dem Haltungsturnen machten Sie ein militärisches Strafexerzieren. Sie mit der Trillerpfeife im Mund. Wir keuchend am Boden: auf, ab! Auf, ab! 20 Liegestützen. Und keine weniger! 

Herr Gysin. Sie waren unser Gesangslehrer. Sie sassen hinter dem Klavier und dirigierten uns mit dem Kopf, während Sie munter in die Tasten griffen. In jeder Gesangsstunde sangen wir "Yesterday". Nicht nur einmal, sondern mindestens zehnmal. Wieder und wieder drückten Sie auf die Repeat-Taste. "Ye-ster- day, all my troubles seemed so far away..." - "Ye-ster-day, all my troubles seemed so far away..." Ein schönes Lied, gewiss, aber leider auch ein Lied, das man überstrapazieren kann. Trotzdem machten wir mit, ohne zu murren. Wir freuten uns, dass Sie sich freuten. Ihre Freude war ansteckend. Sie waren die Munterkeit in Person, eine Frohnatur. Sie brachten es fertig, aus einem Herzschmerz-Lied etwas Fröhliches zu machen. Aus Moll machten Sie Dur. Ich hegte eine heimliche Bewunderung für Sie. Freilich hatte das nichts mit dem Gesangsunterricht zu tun. Sie hatten ein Theaterstück geschrieben. "Hinter den blauen Hügeln" hiess es. Eine Laienspielgruppe hatte es aufgeführt. Ich hatte es gesehen, und ich hatte mich in die Hauptdarstellerin verknallt, eine Rothaarige mit Sommersprossen. Seither war ich total theaterverrückt, und jemand wie Sie, der ein Theaterstück schreiben konnte, war für mich ein Idol. 

Herr Moll. Bei Ihnen hatten wir Werkunterricht. Zuerst Holz, dann Metall. Der Werkunterricht fand im Untergeschoss der Schule statt, in zwei grossen Werkräumen. Für mich waren das Folterkammern. Ich hasste den Werkunterricht. Beim Sägen brach mir immer das Sägeblatt ab, eine gerade Linie zu sägen, gelang mir höchst selten, und die Nägel verbogen sich unter dem Hammer, wie um mich zu verhöhnen. Sie, Herr Moll, zeigten wenig Nachsicht. Als Bube musste man das können. Als Bube musste man an so etwas Spass haben. Die Mädchen waren davon befreit. Sie lernten dafür Stricken und Häkeln. Die Gleichberechtigung wurde damals als Einbahnstrasse aufgefasst: was die Mädchen mussten, mussten die Buben auch, aber nicht umgekehrt. Ein halbes Jahr hatten wir mit den Mädchen zusammen Handarbeitsunterricht. Bei einer jungen, hübschen Handarbeitslehrerin. Das gefiel mir schon besser. Stricken und Häkeln, das lag mir. Beim Stricken und Häkeln konnte ich ungestört über Gott und die Welt nachdenken. 

Frau Handschin. Bei Ihnen hatten wir nur ein Jahr lang Unterricht, und Ihr Fach war ein Nebenfach, das man eigentlich gar nicht erwähnen müsste. Trotzdem denke ich jedes Mal an dieses Jahr zurück, wenn ich in meiner Küche etwas in die Pfanne haue. Wenn ich etwas zubereite, etwas anbrate, koche oder dünste. Wenn ich schnätzle, rapsle, hacke oder würze. Und das alles auf der Basis einer stümperhaften Improvisation. Sie erteilten uns nämlich Kochunterricht. Mit Hilfe des Kochbuchs "Tiptopf" führten Sie uns in die Kochkunst ein, und Sie taten das sehr pedantisch. Da kam jedes Erbslein auf die Waage, nichts durfte verschwendet, alles musste planmässig eingeteilt und abgewickelt werden. In Ihrer Küche musste man den Kopf bei der Sache, respektive beim Topf haben, und die Frage war immer: was kommt nach was? Was kommt zuerst? Was muss noch warten? Manchmal verging mir dabei der Appetit. Essen fand ich auf jeden Fall entspannender als Kochen. Einmal vergass ich die Kartoffeln in den Kochtopf zu tun. Das gab einen vollen Punkt Abzug. 

Herr Vögeli. Drei Jahre lang unterrichteten Sie uns in Biologie und Mathematik. Zeitweilig hatten wir auch Zeichnen bei Ihnen. Sie waren das Urgestein der Lehrerschaft und ein echter Kauz. Vor jeder Schulstunde trugen Sie einen freihändig abgewandelten Kalenderspruch vor. "Schön und edel sei die Kunst, und zeige mir den Künstler, der beim Scheissen nicht brunzt." Eine besondere Vorliebe hatten Sie für jene Versdichtungen, die mit den drei Worten "Ein Berner namens..." beginnen. Sie hatten Dutzende davon auf Lager. "Ein Berner namens Hugentobler, bekannt als guter Chabishobler...." Und immer wieder rezitierten Sie Ihr Lieblingsgedicht: "Ein Wiesel sass auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel..." Bei all diesen Rezitationen ging es nicht nur um eine Auflockerung des Unterrichts. Sie demonstrierten uns Ihr Gedächtnis. Sie zeigten uns, was ein aktives Gehirn zu leisten vermag. Ihr Gehirn - es war das dienstälteste der Schule - hielten Sie mit Auswendiglernen und Kopfrechnen fit. Von Arterienverkalkung keine Spur. Mathematik bestand bei Ihnen zu 99 Prozent aus Kopfrechnen. Ihre Rechenübungen waren ein Sport, bei dem die Stoppuhr darüber entschied, ob man ein guter oder schlechter Schüler war. 15 mal 18 minus 167, aber dalli! So ging es bei Ihnen zu. Sie waren recht unwirsch, launisch, man merkte, dass Sie der Schule und der Schüler überdrüssig waren. Wenn Sie mit dem Schwamm die Tafel abwischten, verschmierten Sie die Kreide über die ganze Tafelfläche, und Ihre Wutausbrüche waren regelrechte Detonationen. Was Sie auf den Tod nicht ausstehen konnten, waren Kaugummis. "Überall kleben diese verdammten Kaugummis! Eine Saumode, dieses Kaugummikauen! Ekelhaft!" Wenn Sie sich in Rage redeten, liessen Sie an der "heutigen Jugend" kein gutes Haar. "Faulpelze, Kaugummikauer, verkommenes Gesindel!" Dann brüllten Sie das halbe Schulhaus zusammen, was stets damit endete, dass Sie blitzschnell in Ihrer Hosentasche griffen und einem Schüler in der hintersten Reihe Ihren Schlüsselbund an den Kopf knallten. (Meistens traf es Patrick Killer aus Zeglingen). Aus gutem Grund hatte ich meinen Stammplatz in der vordersten Reihe, auch wenn ich dort häufig mit Speichel besprüht wurde. 

Herr Baumgartner. Sie waren mein Klarinettenlehrer. Sie waren etwas rabautzig, manchmal etwas ungeduldig, hatten aber das Herz am rechten Fleck. Monatelang übten Sie mit mir das Kegelduett von Mozart, eines Ihrer Lieblingsstücke. Sie waren ein korpulenter älterer Herr, der beim Klarinettenspielen die Backen aufblähte wie Dizzy Gillespie. Ihre Finger waren für dieses Instrument eigentlich viel zu dick. Trotzdem entlockten Sie der Klarinette wunderbar zärtliche Töne. Sie hatten jahrzehntelang auf einem Ozeandampfer gespielt, in einer Tanzkapelle. Bei Sturm und Sonnenschein. Sie waren auf der ganzen Welt herumgekommen. Auf den Philippinen hatten Sie Ihre Frau kennengelernt. Sie versuchten mir die Bauchatmung beizubringen, eine Technik, mit der man die Luft von weit unten heraufpumpt. Es gelang mir nie so richtig, ich hatte nicht Ihr Bauchvolumen. Sie waren ein Praktiker. Sie schnitten das Blättchen mit einem Taschenmesser zurecht, das Sie immer bei sich trugen. Und Sie befestigten es nicht mit einer Blattschraube, sondern mit einer Schnur. Das hatte etwas von Robinson Crusoe. Ab der dritten Sek bereitete ich mich auf die Gymnasialstufe vor. Ich wollte Typus M machen: Schwerpunkt Musik. Sie halfen mir dabei. Auch auf dem Gymnasium waren Sie mein Musiklehrer, mein Mentor, mein wichtigster Motivator. Als ich die Schule dann hinschmiss, war es mit dem Klarinettenspielen vorbei. Ich rührte das Instrument kaum noch an. Manchmal bedaure ich das. Bei Ihnen habe ich es jedenfalls sehr gut gehabt. 

Herr von Aarburg. Bei Ihnen hatten wir Chemie, Mathematik und Technisches Zeichnen. Bei Ihnen erlebte ich ein Wunder. Mathematik machte mir Spass. Das lag an der Anschaulichkeit. Es lag daran, dass Sie mit uns die Geometrie durchnahmen. Den Satz des Thales, den Satz des Pythagoras. Wenn zwei Punkte in einem Kreis liegen und der dritte Punkt auf dem Kreisbogen, dann ist das Dreieck im Kreis rechtwinklig. Und in allen rechtwinkligen Dreiecken ist die Summe der Flächen der Katheten-Quadrate gleich der Fläche des Quadrates der Hypotenuse. Natürlich, das muss man sehen, man muss es zeichnen und nachmessen. Geometrie ist sichtbare Harmonie. Ich kam gut mit Geometrie zurecht. Auch mit Technischem Zeichnen, trotz meiner Rechenschwäche. Und trotz der Tintenkleckse, die ich manchmal machte. Sie, Herr von Aarbug, waren freundlich, unaufdringlich und gelassen. Alle mochten Sie. Bei Ihnen habe ich Vertrauen zur Mathematik gefasst, wenigstens zu einem Teilbereich der Mathematik. Das Gleiche galt auch für Chemie. Vielleicht trügt meine Erinnerung, aber ich glaube, Sie haben ein Stück brennendes Magnesium unter den fliessenden Wasserhahn gehalten, und es hat einfach weitergebrannt. Ist das überhaupt möglich? Irgend so ein Zauberkunststück haben Sie uns vorgeführt. Bei Ihnen ging das runter wie Honig. Am Ende der Sekundarschulzeit kamen Sie mit uns so schnell voran, dass noch Zeit blieb für ein Wunschprogramm. Ich schlug Astronomie vor. Das sei zwar interessant, aber für unsere Schulstufe viel zu schwierig, sagten Sie. Und Sie hatten vermutlich recht. Sie täuschten sich selten. Sie waren sehr, sehr klug. Ich weiss noch genau, mit welchen Worten Sie uns verabschiedet haben. "In ein paar Jahren werdet ihr die Berufslehre fertig haben und euer eigenes Geld verdienen. Dann wird das Leben nicht mehr so lustig sein. Dann kommen die Pflichten und Sorgen, und auf einmal werdet ihr älter und zupft euch die ersten grauen Haare aus. Das hier ist die beste Zeit eures Lebens. Geniesst sie, solange ihr könnt!" 

Herr Berner. Sie waren unser Schulrektor. Sie leiteten den Theaterkurs, den ich im letzten obligatorischen Schuljahr belegte. Wir gingen nach Basel und sahen uns in einem Theaterzelt eine Aufführung von Shakespeares "Sommernachtstraum" an. Das verwirrliche Traumspiel beeindruckte mich schwer. Zettel, der von Puck in einen Esel verwandelt wird, die Elfenkönigin Titania, der Elfenkönig Oberon, der verzauberte Wald, die wichtigtuerischen Handwerker, die komischen Verwicklungen zwischen Schein und Sein. Da verliebten und entliebten sich die Liebenden kreuz und quer, und am Schluss stolperten sie in ein Happy End. Ich war ganz hingerissen, und ich freute mich darauf, bei Ihnen im Theaterkurs ein solches Stück einstudieren zu können. Sie, Herr Berner, stellten uns zwei Stücke zur Auswahl. "Pyramus und Thisbe", eine Theaterfassung der klassischen Sage, und ein modernes Stück über einen aufsässigen Jugendlichen, Typ James Dean. Ich stimmte für "Pyramus und Thisbe", weil das näher bei Shakespeare war, der diesen Stoff im "Sommernachtstraum" eingebaut hatte, als Theater im Theater. Die meisten andern wollten aber das moderne Stück spielen. Ich wurde überstimmt. Ich war etwas frustriert. Und weil ich nicht gerade in bester Stimmung war, bekam ich beim Casting die Hauptrolle. Man brauchte dafür nämlich einen Jugendlichen, der richtig zornig sein konnte. So kam ich doch noch auf meine Kosten. Ich musste sehr viel Text auswendig lernen. Aber es machte Spass. Ausserdem durfte ich auf meinem Keyboard die Begleitmusik machen. In der Schulaula brachten wir zwei Aufführungen über die Bühne. Eine schöne Erfahrung. Der krönende Abschluss meiner Sekundarschulzeit. 

Herr Hofer. Bei Ihnen hatten wir Biologie. Sie waren der typische Gymnasiallehrer: enorm gebildet und etwas linkisch. Wegen Ihres Sprachfehlers - Sie lispelten und näselten - glaubten sich manche Schüler über Sie lustig machen zu müssen. Das Wort "Rhizom" war ein Dauerbrenner. Wer es aussprach wie Sie, nämlich im Nasen- und Rachenraum, hatte die Lacher auf seiner Seite. Kein anderer Lehrer wurde so oft imitiert und aufs Korn genommen. Allerdings hatte man dabei immer ein schlechtes Gewissen. Sie waren ja nicht unsympathisch. Im Grunde waren Sie äusserst beliebt. Auch weil Sie sich nicht immer stur an den Unterrichtsplan hielten. Einmal lasen Sie uns eine Passage aus Hugo Loetschers "Der Immune" vor. Sie waren nicht nur an Biologie interessiert, an Rhizomen und Zellstrukturen, Ihr Herz schlug auch für Schöngeistiges. Beim Vorlesen gingen Sie ganz aus sich heraus. Sie lachten, gestikulierten, erhoben die Stimme, steigerten sich in die direkte Rede hinein. Da spielte der Sprachfehler überhaupt keine Rolle mehr, wir hörten ihn kaum noch. 

Frau Jelzer. Am Gymnasium waren Sie unsere Französischlehrerin. Ausserdem waren Sie unsere Klassenlehrerin. Sie hatten eine Pudelfrisur. Das weiss ich noch. Alles andere weiss ich nicht mehr so genau. Im Unterricht war ich nicht sehr aktiv. Sie hätten auch einen Komapatienten unterrichten können. Die endlosen Verbtabellen, die Sie uns zum Auswendiglernen präsentierten, verschwammen im Nebel meiner Teilnahmslosigkeit: 15 verschiedene Zeitformen, die ich mehr oder weniger verpasste. Französisch war nicht meine Stärke. Trotzdem waren Sie mir wohlgesonnen. Am Elterngesprächsabend sagten Sie: "Ihr Sohn hat vielleicht nicht die besten Noten, ist aber eigentlich sehr intelligent." Das tat gut. 

Frau Toelken. Sie waren unsere Englischlehrerin. Englisch mochte ich zwar lieber als Französisch, aber ich hatte trotzdem ein Motivationstief. Ich hielt mich zurück. Ein einziges Mal meldete ich mich zu Wort. Sie fragten nach Musiksparten, die wir mochten oder bevorzugten. Jemand sagte "Hardrock", jemand sagte "Reggae", jemand sagte "Classical music". Wenn es um Musik ging, konnte ich mich unmöglich zurückhalten. Ich streckte auf und sagte "Folk". Mein "Folk" klang allerdings wie "Fuck", und die ganze Klasse brach in Gelächter aus. Von da an meldete ich mich überhaupt nicht mehr zu Wort. 

Herr Pfeifer. Wer bei Ihnen nicht unter die Räder kommen wollte, musste richtig hart büffeln, musste den Lernstoff durchackern, bis der Schädel brummte. Für mich war das neu. Vor allem in einem Fach, das viel mit Einfühlung, Erzählungen und Fantasie zu tun hatte. Jedenfalls erlebte ich das so. In Geschichte hatte ich mich noch nie anstrengen müssen. Da waren mir die gebratenen Tauben nur so ins Maul geflattert. Und anfänglich dachte ich, bei Ihnen sei das auch so. Bei der ersten Prüfung fragten Sie uns über die Tudors ab. Das Thema fand ich interessant. Doch als ich die benotete Prüfung zurückbekam, erlebte ich mein persönliches Waterloo: knapp "genügend". Ich war frustriert. Ich hatte eindeutig zu wenig gelernt. Die Tudors haben mich nie mehr losgelassen. Heinrich der Siebte, Heinrich der Achte, seine sechs Ehefrauen, Anne Boleyn, Thomas Cromwell, Thomas Morus, Hans Holbein, die beiden Tudor-Königinnen Maria und Elizabeth. Ich habe viel darüber gelesen, fast alle Romane von Rebecca Gable und Hilary Mantel habe ich verschlungen, ausserdem habe ich alle Fernsehserien und Spielfilme geguckt, die auch nur im entfernsten etwas mit den Tudors zu tun haben. Inzwischen, fast vierzig Jahre später, bin ich ein Spezialist auf diesem Gebiet. Ich bin gewappnet, Herr Pfeifer. Sie können mich jederzeit abfragen. 

Herr Doktor Häusler. Bei Ihnen hatten wir Deutsch und Musiktheorie. Sie waren schon etwas älter, um die Sechzig, schätze ich, aber sehr beweglich und feurig. Immer waren sie korrekt gekleidet, mit Krawatte und Gilet, ein Showmaster in eigener Sache. Die Show, die Sie uns boten, drehte sich um die Ballade, die Hymne, das Sonett, die Elegie, die Novelle, die Erzählung, den Roman, Grimmelshausen, Goethe, Kleist, Hölderlin, Hauptmann, Keller, Thomas Mann, Celan, Adorno, die Gruppe 47, die wichtigsten Gipfel- und Eckpunkte der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. Und was wäre eine Show ohne Musik? Die "Kleine Nachtmusik" von Mozart nahmen wir Note für Note, Takt für Takt und Satz für Satz auseinander wie ein Uhrwerk. Ihren Doktor phil. rieben Sie uns gehörig unter die Nase. Sie waren allwissend, und wir waren die Unwissenden, die Sie gnädig zu sich emporhoben. Sie waren Musikrezensent bei der Basler Zeitung, ein Nebenjob, den Sie als Fingerspitzenübung betrachteten. "Hören Sie auf zu stottern! Schulen Sie Ihr Ausdrucksvermögen!" ermahnten Sie uns. Immer wieder ertappten Sie uns bei einem Fehler. "Sagen Sie niemals tiefschürfend! Man schürft an der Oberfläche. Tiefschürfend ist ein falsches Sprachbild. Machen Sie aus der Sprache keinen Krautsalat!" Sie gingen mit gutem Beispiel voran und redeten in druckreifen Sätzen. Ihr Vorbild war Bundesrat Furgler, der damals noch im Amt war und mit seinem spitzen Mäulchen wunderbare Bonmots zum Besten gab. Sie rühmten ihn als hochgebildeten Politiker. Als mein Kumpel Alex einmal eine patzige Antwort gab, sagten Sie: "Wo sind Sie eigentlich zur Schule gegangen? In Honolulu?" In Musiktheorie befassten wir uns mit der Kunst der Fuge. Und mit Mozart natürlich. Aber auch mit der Programmmusik von Beethoven, Berlioz und Stravinsky. Programmmusik behandelten Sie sehr ausführlich, weil sich viel darüber erzählen liess, weil diese Musik selber erzählerisch ist. Sie spannten einen weiten Bogen, Herr Häusler. Aber nach Stravinsky und Schönberg war Schluss. Jazz existierte für Sie nicht, geschweige denn Popmusik. Sie haben uns auf die Hochkultur eingeschworen, auf das unerschütterliche Bewusstsein, zur Bildungselite zu gehören. Dass hinter dieser ganzen Bildungshuberei auch etwas Kleinkariertes steckte: das wussten wir, und wir verziehen es Ihnen. Brecht kam bei Ihnen nicht vor, Tucholsky auch nicht. Ihre Sicht auf die Kultur war eine zutiefst bürgerliche. Immer wieder umkreisten Sie das Thema "Genie und Irrsinn", etwa bei Lenz, Hölderlin und Kleist. Da blühten Sie förmlich auf! Das Rebellische und Extravagante solcher Figuren faszinierte Sie, was Sie allerdings nicht davon abhielt, uns jeden Kommafehler triumphierend anzustreichen. Wahrscheinlich kam das alles aus einem Minderwertigkeitsgefühl. Sie waren als Adoptivkind auf einem Bauernhof aufgewachsen. Deshalb waren Sie so stolz auf Ihren Bildungsgrad, Ihren sozialen Status. Deshalb glorifizierten Sie das Genie und verachteten die Ungebildeten. Aber sei's drum. Der Unterricht war spannend, eine richtige Show eben, und diese Show hat uns geprägt. Nicht "nachhaltig geprägt", diese Formulierung hätten Sie uns nicht durchgehen lassen. Wie "kaltes Eis" oder "heisse Glut" ist sie ein Pleonasmus, und Pleonasmen sollte man vermeiden. Ausser in ganz raren Fällen, wo es um eine wohlkalkulierte poetische Wirkung geht. Das haben wir von Ihnen gelernt. Und keinesfalls hätte ich bei Ihnen in einem Aufsatz schreiben dürfen: "Herr Häusler war ein Lehrer, der uns auf ganzer Linie beeindruckt hat. Bei ihm haben wir extrem viel gelernt." Sie hätten mir den Aufsatz mit einem Hohngelächter um die Ohren gehauen. Sie hielten uns dazu an, ins Einzelne und Konkrete zu gehen. Die Sache so anschaulich wie möglich zu machen. WAS hat uns beeindruckt? WAS haben wir gelernt? Die wichtigste Schreibregel. Sie begleitet mich bis heute. "Weisst du noch beim Häusler..." Das höre ich jedes Mal, wenn ich mit jemandem zusammentreffe, der damals mit mir die Schulbank gedrückt hat. Auch diejenigen, die sich dann später von der Hochkultur verabschiedet haben, um als Zahnärzte, Juristen oder Computerfachleute zu arbeiten, wissen noch, wer "Lenore" geschrieben hat. Oder was ein Pleonasmus ist. 

Pidy. Wie Sie richtig hiessen, weiss ich nicht mehr. Alle nannten Sie nur Pidy. Sie waren ein unkonventioneller Typ: drahtig, fedrig, Jeans und Turnschuhe, schlabbriges T-Shirt, Nickelbrille, ein Schneidezahn aus Gold. Sie gaben Zeichnen und Kunstbetrachtung. Sie waren ein begabter Comic-Zeichner. Im Unterricht geschah wenig, Sie plauderten mit uns über die Primärfarben, über optische Täuschungen, über dies und das. Das Wichtigste bei Ihnen war das Skizzenbuch. Wer bei Ihnen Zeichnen hatte, führte ein Skizzenbuch, das für die Freizeit gedacht war, die Mussestunden. Wenn man nichts Gescheiteres zu tun hatte, konnte man es hervornehmen und sich darin "verwirklichen". Sie haben uns ermuntert, es mit Comics und Cartoons zu füllen. Alle zwei Wochen mussten wir es Ihnen aushändigen, und dann ergänzten Sie unsere Zeichnungen mit Ihren eigenen Strichfigürchen. Hatte man einen Polizisten gezeichnet, fand man im Skizzenbuch, nachdem Sie es begutachtet hatten, garantiert einen entflohenen Knacki. Oder einen Verkehrsunfall. Hatte man eine Katze gezeichnet, zeichneten Sie eine Maus dazu. Hatte man eine Maus gezeichnet, zeichneten Sie eine Katze dazu. Zeichnen war ein Fach, das niemand ernst nahm. Deshalb durfte es witzig und locker sein. Sie empfahlen mir, die Aufnahmeprüfung für die Kunstgewerbeschule zu machen. Das tat ich, und leider fiel ich durch. Anstatt Ihrem Beispiel zu folgen und etwas Freches zu wagen, etwas, das aus der Reihe tanzte, versuchte ich, alles richtig zu machen. So wie ich es vom Gymnasium her gewöhnt war. Als ich ein Velo zeichnen musste, zeichnete ich jede einzelne Speiche. Das erwies sich als Fehler. Erst zehn Jahre später, beim zweiten Anlauf, klappte es. Ich zeichnete ein Velo mit viereckigen Rädern. So kam ich doch noch an die Kunstgewerbeschule.

Herr Moser. Am Gymnasium waren Sie unser Mathelehrer. Mit reglosem Gesicht und kühler Stimme erklärten Sie uns die höhere Algebra, die höhere Arithmetik und das Rechnen mit Koordinaten. Sie füllten die Wandtafel mit endlosen Formeln und Operationen, mit Wurzeln, Gleichungen, Variablen, Potenzen, Logarithmen, Determinanten, Scheitelfunktionen, Baumdiagrammen, Doppelbrüchen und Halsbrüchen. Nüchtern wie ein Stein führten Sie uns durch den Unterricht, den kein einziges emotionales Zucken jemals störte. Immer stand die Exaktheit an oberster Stelle. Knapp und kantig jedes Wort, jeder Satz. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätte man sich nur mit Zahlen ausgedrückt. Zahlen sind entweder richtig oder falsch. Da gibt es kein Dazwischen, kein Ungefähr, keine Gefühlsebene. Manchmal machten sich die Schüler über Sie lustig, weil sie keine Ahnung von Kultur hatten und das auch offen zugaben. "Ich bin ein Kulturbanause," sagten Sie. Trotzdem waren Sie eine Autorität. Sie waren Konrektor, und Sie leiteten den kantonalen Schulsporttag, auf den Sie sehr stolz waren. Weil Sie im Militär ein hohes Tier waren, waren Sie auch im Sport sehr engagiert. Das eine hing ja mit dem andern zusammen. Ich konnte weder mit dem Militär noch mit Sportanlässen sonderlich viel anfangen. Den Sporttag schwänzte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich tauchte einfach nicht auf. Stattdessen ging ich auf eine einsame Waldlichtung und las dort sämtliche Werke von Nietzsche durch. Das hatte Folgen. Zusammen mit Nickli, unserm Klassenclown, der ebenfalls geschwänzt hatte, musste ich bei Ihnen antraben. Wir bekamen einen Verweis und musste zwei Stunden lang nachsitzen. Als Sie mich fragten, weshalb ich geschwänzt hatte, sagte ich trotzig. "Weil ich etwas Schlaues machen wollte. Ich wollte Nietzsche lesen." Für diese Entschuldigung hatten Sie überhaupt kein Gehör. Kultur zählte für Sie nicht. Dass Nietzsche, der grosse philosophische Trotzkopf, mein Kronzeuge war, war ziemlich konsequent. Aber um das zu verstehen, hätten Sie zuerst einmal Nietzsche lesen müssen. Deshalb konnten Sie es auch nicht würdigen. Was das eigene Fach anging, so waren Sie unbeugsam. "Mathematik ist elementar," betonten Sie. "Die logischen Regeln sind universal. Und manchmal sind sie auch nützlich. Nehmen Sie eine Brücke. Wäre sie tragfähig, wenn der Baustatiker nicht rechnen könnte?" Bei mir war allerdings Hopfen und Malz verloren. Aus mir sollte nie ein Baustatiker werden. Meine Prüfungen waren für Sie leicht zu korrigieren. Wenn ich wenigstens meinen Namen richtig geschrieben hatte, bekam ich eine Eins plus. Eine Zeitlang glaubten Sie tatsächlich, Sie könnten mir unter die Arme greifen. Sie könnten eine verborgene Mathe-Fähigkeit in mir wachkitzeln. Einmal zitierten Sie mich nach vorn an die Wandtafel. Sie hatten dort ein Koordinatenkreuz gezeichnet. "Geben Sie einen Punkt!" forderten Sie mich auf. Ich hätte die x- oder y-Koordinate angeben müssen, P4/5 oder so etwas. Doch stattdessen zerquetschte ich die Kreide an der Wandtafel, bis ein fetter Punkt zurückblieb. In der Klasse erhob sich Gelächter. Was ich da abzog, war eine Chaplin-Nummer. An Ihre Reaktion kann ich mich wohl deshalb nicht erinnern, weil es keine gab. Jedenfalls nicht in emotionaler Hinsicht. Mit reglosem Gesicht schickten Sie mich an meinen Platz zurück.

Fräulein Buser. An der Diplommittelschule waren Sie unsere Deutschlehrerin. Mit Ihrem knitterfreien Jupe und dem zu einem straffen Bürzi verknoteten Haar wirkten Sie wie eine alte Gouvernante. Das Fräulein passte. Zuerst hatte ich etwas Mühe, weil ich vom Gymnasium an die Diplommittelschule übergetreten war und mit der neuen Gangart zuerst einmal zurechtkommen musste. Das betraf auch den Deutschunterricht. Sie waren ganz anders als Herr Häusler, nicht so abgehoben, nicht so elitär. Ganz klar, Sie standen eher auf Gotthelf als auf Kleist oder Hölderlin. Sie waren eine typische Volkspädagogin. Sie hatten ein Verständnis für die einfachen Leute, die Ungebildeten. Bei Ihnen galt die Einfachheit als Tugend. Da gab es keine Überheblichkeit. Sie lasen mit uns "Elsi, die seltsame Magd" von Gotthelf und "Woyzeck" von Büchner. Ich weiss noch, wie Sie uns das Märchen von dem Kind vorlasen, das keine Eltern mehr hat und sein Glück beim Mond sucht, der nur ein Stück Holz ist, bei der Sonne, die nur eine vertrocknete Sonnenblume ist, und bei den Sternen, die nur brennende Mücken sind. Und als das Kind zur Erde zurückkehrt, ist die Erde nur ein umgestürzter Hafen. Sie waren ganz aufgewühlt, als Sie uns das vorlasen. Ihre Stimme zitterte. Dieses Märchen, das Woyzecks Nichtigkeit verdeutlichen sollte, packte auch uns. Und dann lasen Sie mit uns "Jugend ohne Gott" von Horvath. Die schnörkellose Sprache beeindruckte mich. Alles nah am Gesprochenen. Man merkte die Nähe zum Theater. Sie nahmen mit uns auch die "Schlummermutter" von Hansjörg Schneider durch. Gemeinsam erarbeiteten wir eine Hörspielfassung. An jeder Formulierung bosselten Sie mit uns herum, beharrlich und pickelhart, Satz für Satz, Seite für Seite. So etwas hätte Doktor Häusler niemals gemacht. Mir gefiel das. Literatur als etwas Praktisches und Handfestes. Deutsch als Handwerk. Raus aus dem Elfenbeinturm! Ich hielt bei Ihnen einen Vortrag über Kafkas Roman "Der Prozess". Damit gewann ich restlos Ihre Sympathie. Dass ein Schüler freiwillig und sogar begeistert Kafka las: das war neu für Sie. Als ich aus der Schule austrat, um eine Buchhändlerlehre zu machen, verstanden wir uns sehr gut, und wir haben uns herzlich, wenn auch mit einem gewissen Bedauern voneinander verabschiedet.

 

2024