Bücherlesen

Dies und das aus meinem Bücherschrank. Eine persönliche Sichtung aktueller, aufgeschobener oder unmöglicher Lektüren. Eine schier endlose Verstrickung. 

 

Ein Buch, das ich vielleicht etwas unüberlegt gekauft habe. Im ersten Satz ist schon alles gesagt. Den Rest lese ich nur noch aus Höflichkeit.

 

Dieses Buch enthält eine Fülle von Details. Es zählt auf, was vorhanden ist, verliert sich in Kleinigkeiten, die sich in der Zusammenstellung verdichten, bis nichts mehr hindurchschaut. Aus solchen Verdichtungen könnte durchaus etwas entstehen: so wie Sterne aus verdichteten Gaswolken entstehen. Aber der gewünschte Effekt bleibt aus. Die Detailfülle überlagert alles, erstickt sich beinahe selbst und versperrt die Sicht nach draussen.

 

Dieses Buch lässt mich auf einer Insel der Selbstgenügsamkeit zurück, wo ich zufrieden bin mit mir und meinem Lesen, wo ich als Horizont nur dieses Buch habe. Es ist ein schönes Buch, schön zu lesen, meine ich. Es beschäftigt mich sanft. Mit diesem Buch halte ich es aus. Ich husche da nicht einfach so hindurch wie durch irgendeinen Schmöker, den man beim Lesen wegschrumpfen lässt. Eine abgenutzte Geschichte ist das nicht. Sie wirkt neu auf mich. Eigenartig ist sie, wohltuend komisch, höchst einfach geschrieben, mit dem Geflacker einer gekonnten Belanglosigkeit, die mich sofort einnimmt, aber auch ein bisschen skeptisch macht. Ist das nicht so etwas wie literarische Empfängnisverhütung?

 

Dieses Buch gibt verlässlich Auskunft. Es ist eine Quelle, aus der man schöpfen kann, wenn man solide Informationen braucht. Woher ich das weiss? Es steht in dem Buch.

 

Das ist ein Buch, das ich mir verdienen muss. Ein zäher Brocken. Ich muss mich einlesen, mich an die Sprache gewöhnen wie an eine Fremdsprache. Ich muss mich umständlich hineingraben in dieses Buch, wie ein Mineur, ein Tunnelarbeiter. Ich grabe Gänge, ganze Gangsysteme, und schütte die Wörter, die ich regelrecht abtrage, hinter mir auf zu Schuttbergen. Meine ganze Kraft setze ich darein, ich schlage mich durch mit Hammer, Hacke und Meissel. Der Autor ist ein Riese, das ist kein Mensch, und dieses Buch ist aus Granit. Sobald ich aber mit Lesen aufhöre, schrumpft der Berg zusammen, das Buch lässt mich schlagartig los, und ich fühle mich wunderbar befreit. Wie leicht ist doch die Luft ohne Literatur!

 

Dieses Buch räumt seinen Lesern die grösstmögliche Denkfreiheit ein. Es stellt Fragen, die man gewissenhaft beantwortet, weil man sich angesprochen und angenommen fühlt. Der Kopf weitet sich, ungesagte Dinge drängen an die Oberfläche, und das Buch zeigt an, dass es bei uns verweilen möchte, um diese Dinge mit uns anzuschauen. Es nimmt sich Zeit für uns. Es spiegelt unsere Sorgen und Nöte. Und wenn wir unser Herz erleichtern wollen, hört es uns zu wie eine Kummertante. Wir, die Leser, dürfen uns äussern, uns einbringen. Das Buch schenkt uns Beachtung. Wir sind ja schliesslich seine Leser! Wir haben es in der Hand, ob das Buch gelesen wird oder nicht. Und das Buch versteht uns, geht auf uns ein, sein Verständnis für jeden einzelnen Fall ist sehr umfassend. Man fühlt sich beim Lesen sofort aufgehoben, am richtigen Ort. Man findet Resonanz und Zuspruch. Aber wer ist der Autor? Die Autorin? Wer hat das Buch geschrieben? Es ist niemand. Es gibt eine Software, die solche Bücher schreibt.

 

Eine Lektüre, die sich steigert durch Wiederholung. Ein Buch, das ich immer wieder zur Hand nehme, weil es mich nicht loslässt. Dem Buch bekommt das natürlich schlecht. Es leidet. Die Leimkruste, die die Seiten zusammenhält, zerbröselt wie ein Staubkuchen. Doch wie heisst es doch so schön: ist das Buch erst ruiniert, liest man es ganz ungeniert. Je gebrauchter das Buch, desto inniger das Lesen. Gebraucht ist ein Buch, wenn man es schon hundertmal in die vollgestopfte Tasche gestopft hat. Wenn man das Yoghurt darauf ausgeleert hat. Wenn man die Buchseiten mit Notizen vollgesudelt hat. Wenn man als Buchzeichen ein Ahornblatt oder einen Mausschwanz verwendet. Wenn man das Buch in den Dschungel oder auf den Mount Everest mitgenommen hat. Ein Lesen ohne Hemmung, ohne Halbheit, ohne kleinkrämerische Bedenklichkeit im Umgang mit schöngebundenem Papier! Ein neu gekauftes Buch ist noch gar nichts. Es fehlen die Gebrauchsspuren. Ein neu gekauftes Buch muss man zuerst ein paarmal gegen die Wand schmettern, man muss darauf herumtrampeln und es mindestens eine Woche lang unter faulenden Salatblättern und schimmligen Kaffeesatzfiltern auf dem Komposthaufen liegen lassen, bevor man es mit gutem Gewissen aufklappen und lesen kann.

 

So wie eine Flasche Schnaps den Griesgram zum johlenden Poeten macht, so entführt mich dieses Buch regelmässig in einen berauschenden Buchstabenimmel. Man gönnt sich ja sonst nichts. Wenn die Süchte und Räusche nicht wären: man könnte das Leben abschreiben. Bücher gibt es, weil das Leben nicht genügt. Und Lieblingsbücher gibt es, weil nicht jedes Buch genügt. Man kann seine Zeit damit verschwenden, hundert Bücher zu lesen, die man, indem man sie dicht nacheinander wegliest, ins Nirwana des ewigen Vergessens schickt. Oder man kann in der gleichen Zeit zehn Bücher lesen, und es lohnt sich, weil es die Bücher sind, die man immer wieder liest.

 

Dieses Buch lese ich nicht. Gewisse Bücher schätzt man, obwohl man sie nicht gelesen hat. Sie brauchen nicht gelesen zu werden. Nicht alle Bücher brauchen gelesen zu werden. Manche stehen im Bücherschrank, als wären sie dort festgewachsen. Man kennt ihre Titel, und ihre Buchrücken sind einem vertraut. Das ist alles, was man von solchen Büchern hat und haben will, und man weiss: es ist gut, dass es sie gibt. Eine Goldmine auf dem Mond macht ihren Besitzer zwar nicht reich, aber sie gibt ihm ein gutes Gefühl.

 

Dieses Buch ist wie eine Buchhändlerin, also ziemlich ungeniessbar. Während man aber ein Buch, das einem nicht passt, ohne weiteres zuklappen und zurück ins Regal stellen kann, ist das bei einer Buchhändlerin nicht ganz so einfach.

 

Von Rezepten im Stil von “Wie schreibe ich einen Roman in dreissig Tagen” hat dieser Autor noch nie etwas gehört, das merkt man sofort. Er schreibt noch ganz unbekümmert, unmethodisch, als wäre sein einziges Hilfsmittel die Kaffeekanne. Man sieht sogar noch die Tassenringe auf dem Papier. Das schlampige Vorgehen bildet sich in einer Erzählweise ab, die etwas Abgekapseltes hat, etwas Ich-Bezogenes. Sie folgt einem Automatismus, der nicht marktgängig ist. Eine Schreibe ohne Zielscheibe. Ohne Rezept. Der Autor vergisst, wie man schreiben sollte, wenn man es können zu müssen meint. Er vergisst sogar seine Autorschaft. Er vergisst, dass er nicht nur für sich selbst schreibt. Aber die guten Autoren, die ganz guten, das wissen wir, schreiben nur für sich selbst. Sie führen Selbstgespräche ins Endlose. Und weil sie Menschen sind wie wir, merken wir sofort, dass wir mitgemeint sind, wenn sie den eigenen Bauchnabel beschreiben und diesen Bauchnabel sozusagen zum Buchnabel machen.

 

Da will mir fast der Verdacht kommen, der Autor lasse seine Figur nur deshalb so jämmerlich erscheinen, weil er’s nicht besser kann. Eine gute Figur macht diese Figur nicht. Soweit es auf sie ankommt, ist das Buch misslungen. Diese Figur, eigentlich die Hauptfigur, irrt durch Nebenräume, verliert sich in Nebensächlichkeiten. Mit dem, was sie hat, kommt sie nicht so recht aus, und das ist auch kein Wunder: sie hat nämlich nichts. Sie hat nichts zu verlieren. Sie erfährt die vielfältigsten Erschütterungen und wurstelt einfach immer weiter. Als ich die gelesenen Buchseiten über meinen Daumen laufen lasse und nach dieser Figur suche, um meine Eindrücke zu überprüfen, muss ich dann allerdings feststellen, dass das Buch von etwas ganz anderem handelt. Die Figur ist verschwunden. Kein einziges Wort weist auf sie hin: als hätte es sie nie gegeben. Und da kommt mir ein Verdacht. Vielleicht habe ich das Buch mit einem anderen Buch verwechselt. Vielleicht habe ich da etwas durcheinandergebracht. Das kann passieren, ist aber doch etwas peinlich. Als Leser mache ich wirklich keine gute Figur.

 

Was befähigt diese Autorin, so realistisch zu schreiben? Es ist die Lebenspraxis. Die Autorin erdichtet nichts. Sie hat eine Feldstudie gemacht. In einem Wohnzimmer, wo normale Menschen ein und ausgehen, hat sie eine Beobachtungsstation eingerichtet. Getarnt unter einer Häkeldecke, hat sie sich auf die Lauer gelegt. Mit einem Richtmikrofon hat sie die Gespräche aufgezeichnet, und mit einem Feldstecher hat sie die Bewegungen und die Mimik studiert. Vom Wohnzimmer aus hat sie den Flur und die Küche beobachtet, Orte, wo es manchmal wirklich zur Sache geht. Sie hat gesehen, was die Menschen so tun, wenn sie ein normales Leben führen. Sie machen den Abwasch und tragen den Müll nach draussen. Das alles muss in das vorliegende Buch eingeflossen sein. Diese Autorin, das merkt man, hat ihren Realitätssinn systematisch geschärft. Sie hat hingeschaut. Sie hat hingehorcht. Sie hat genau registriert, was die Menschen so tun. Was realistisch wirken soll, muss erlebt oder beobachtet sein. Es muss dokumentarisch sein. Ein erkünstelter Realismus ist problematisch, weil die Realität allen zugänglich ist. Anhand eigener Erfahrungen kann jeder Leser und jede Leserin nachprüfen, ob der Realismus eines Buches echt ist oder nur vorgetäuscht, also Kolportage. Somit dokumentiert unsere Autorin hinlänglich Bekanntes, vielleicht sogar Banales. Aber darin erschöpft sich ihr Buch nicht. Es zeigt, wie bedeutsam der Alltag sein kann, wie bedeutsam es zum Beispiel sein kann, den Müll rauszutragen oder den Abwasch zu machen. Ich lese dieses Buch mit zittrigen Händen. Ich bin ergriffen. Die Beschreibungen sind so plastisch und lebensecht, dass ich mich geradezu in eine virtuelle Realität versetzt fühle, in ein Second-Life-Environment, wo ich selbst den Müll raustrage und den Abwasch mache. 

 

Dieses Buch erzählt seine Geschichte gradlinig herunter, bringt sie exakt auf den Punkt. Im ersten Kapitel werden die Figuren eingeführt, dann werden sie durchgeführt, und am Schluss werden sie abgeführt.

 

Dieses Buch werde ich überspringen. Es ist ein schweinisches Buch, ein Buch voller Unrat, so etwas hat mir gerade noch gefehlt.

 

Also, nächstes Buch. Es ist schwer und dick, ein Klotz von einem Buch. Ein Heimwerkerbuch? Der Ausstattung nach vielleicht, das Design gibt diese Richtung ein bisschen vor. Aber ein Heimwerkerbuch ist das Buch eher im übertragenen Sinn. Der Autor hackt seine Sätze auf einem Spaltblock zurecht. Er ist ein Schwerarbeiter. Beim Schreiben verbraucht er viele Kalorien. Jedes Wort ein Kraftakt. Das ist gute, hochwertige Schrift-Steller-Arbeit. So arbeitet der Schriftsteller, wenn er seine Arbeit ernst nimmt. Aus spröden, rohen, widerständigen Teilen baut oder fügt er etwas zusammen, das dann am Schluss mehr ist als die Summe seiner Teile. Sprache ist wie Holz. Ein Schriftsteller krempelt sich die Ärmel hoch, bevor er zu schreiben beginnt. Wie jemand, der mit präzisen kleinen Schlägen Holz zurechthackt, hackt der Schriftsteller auf seiner Schreibmaschine oder seiner Computertastatur die Sätze zurecht. Und wie jemand, der die Brennholzscheiter zu kunstvollen Gebilden aufschichtet, schichtet der Schriftsteller seine Sätze auf, bis ein Buch daraus wird. So stelle ich mir das vor. Jeder Satz ein Scheit, das man zuhaut, und die kunstvoll geschichtete Scheiterbeige ist dann das fertige Buch. Schreiben ist ein Krampf, es ist mühsam, es braucht Kraft, man schnauft dabei wie ein Holzhacker. Und manchmal haut man daneben und langt sich an den Kopf, der vielleicht ein Holzkopf ist, nobody is perfect. 

 

Diese Autorin schreibt ohne Anstrengung. Man weiss gar nicht, wie sie das macht. Wie das möglich ist, dass man so schreiben kann. Als gäbe es nichts, gegen das man anschreiben müsste. Diese Autorin kann das. Sie befindet sich im Fluss, und sobald man drin ist, bleibt einem kaum noch etwas zu tun: man überlässt sich der Strömung. Man lässt sich mitziehen. Ein angenehmes Lesen. Alle geht genau in die Leserichtung. In die Richtung des Textes, den die Autorin scheinbar mühelos hinschreibt, Seite für Seite. Und Wörter schreibt sie! Auf jeder Seite ein Wort, das mich einen kurzen Moment lang beschäftigt. Ein Wort, geheimnisvoll funkelnd im Steinbett des Textflusses, auf dem ich dahingondle und nach unten schaue, wie durch eine Taucherbrille hindurch. Ich weiss, dass bald schon das nächste Wort unter mir auffunkeln wird: eines dieser Wörter, wie nur diese Autorin sie schreiben kann, ein Zauberwort. Ich blättere zurück, um den Zauber des einen oder andern Zauberwortes noch einmal zu erhaschen und auf mich wirken zu lassen. Vergebens. Es funktioniert nicht. Sobald ich nicht mehr im Lesefluss bin, hört das Gefunkel auf. Die Autorin hat ihre Zauberwörter listig über den ganzen Text verteilt, damit ich weiterlese, mich weitertreiben lasse im Textfluss. Ja, sie hat mich geködert. Sie hat mich drangekriegt. Jetzt muss ich das Buch zu Ende lesen. Man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss, und wenn man drin ist, ist man drin. 

 

Dieses Buch muss man gelesen haben. Sonst kann man nicht mitreden. Wenn man da keine Ahnung hat, ist man schon von vornherein deklassiert. Bevor man überhaupt den Mund aufmacht. Erst wenn man dieses Buch gelesen hat, weiss man Bescheid und kann mitreden. Mir ist das egal. Ich lese das Buch erst, wenn ich innerlich dazu bereit bin. Vorläufig rede ich mit, ohne es gelesen zu haben. Darin habe ich Übung. Die ganze Zeit rede ich mit, ohne das Buch gelesen zu haben, das man gelesen haben muss, um mitreden zu können. Auch neuerdings habe ich wieder meinen Senf dazugegeben, ohne das Buch gelesen zu haben, das man gelesen haben muss, um mitreden zu können. Dieses Buch liegt noch ungelesen bei mir herum. Kein Grund für mich, den Mund zu halten. Kein Grund, abseits zu stehen. Warum sollte ich nicht mitreden? Was macht so ein Buch schon aus? Ich mische mich unter die Leute und rede eifrig mit. Worüber eigentlich? Ja, wenn ich das wüsste!

 

Dieses Buch könnte mit einiger Rasanz geschrieben worden sein. Natürlich auf einem Laptop. Natürlich auf einem Macintosh. Der Autor heisst zwar nicht Frank, aber er sieht aus, als würde er Frank heissen. Frank Stone oder so ähnlich. Er hat einen Vollbart, und sein schlabberiges Holzfällerhemd zeigt an, in welcher Zeit er stehengeblieben ist. Er ist das, was man landläufig als Freak bezeichnet, abgerissen, absichtsvoll hinkend, eine Mischung aus Jack Sparrow und Big Lebowski. Er lässt sich gehen, futtert Tag und Nacht Chips und Popcorn. Er lebt in einem Amerika, wie man es sich vorstellt, wenn man noch nie in Amerika gewesen ist. Seine Bücher schreibt er irgendwo hinter den Rocky Mountains in einem Föhrenwald, wo sich Fuchs und Grizzlybär Gutenacht sagen. Er verschanzt sich in einer Blockhütte, in die es hineinregnet. Überall Dreck, Chips und Popcorn, und wenn er nicht schreibt, nimmt er seine Schrotflinte, rennt in den Wald hinaus und schiesst auf alles, was sich bewegt. Vermutlich hat er einen Hochschulabschluss in Physik. Er gilt als komplett übergeschnappt. Seit Jahren hat er sich nicht mehr gewaschen. Denke ich mir zumindest, wenn ich sein Bild auf dem Cover anschaue. Von ihm ist nun dieses Buch erschienen, ein Wälzer von dreihundert Seiten. Leute, die ein solches Buch gelesen haben, gründen in der Regel eine Selbsthilfegruppe. Sie müssen sich beim Verarbeiten des Buches gegenseitig beistehen. Wie das mit mir sein wird, weiss ich noch nicht. Ich bin erst auf Seite drei.

 

Dieses Buch habe ich geschenkt bekommen. Zur Konfirmation. Keine Ahnung, weshalb ich es nie aus der Folie ausgepackt habe. Eingeschweisst und ungelesen steht es seit über zwanzig Jahren in meinem Bücherschrank. Dort soll es auch bleiben.

 

Mit diesem Buch sitze ich tagelang fest. Ich kann mich nicht davon losreissen. Es handelt von einem Mann, der ein Buch liest, das ihn tagelang festhält. In dem Buch, das der Mann liest, der ein Buch liest, das ihn tagelang festhält, liest ein Mann ein Buch, das ihn tagelang festhält. Und so geht das immer weiter in viele weitere Bücher hinein, in denen ein Mann, der mir zum Verwechseln ähnlich sieht, ein Buch liest, das ihn festhält. 

 

Mit dem Buch, das er geschrieben hat, ist dieser Autor noch gar nicht fertig. Er schreibt immer noch daran. Auch wenn das fertige Buch schon da ist. Auch wenn es vielleicht schon bald vergriffen sein wird. Out of stock, wie die Engländer sagen. Oder: Out of print. Was soviel heisst wie: hoffnungslos vergriffen. Ein berühmter englischer Autor hat sich das auf den Grabstein meisseln lassen: Out of print. Seine Bücher sind indessen immer noch zu haben. Auch die vergriffenen. Nur die hoffnungslos vergriffenen nicht.

 

Man kann aus allem etwas machen. Aus einem Butterbrotpapier kann man zum Beispiel ein Hütchen machen. In der Mitte ein Falz, in der Diagonale ein Falz, dann von oben her halbieren und die ganze Sache umstülpen. Und schon hat man ein Hütchen. Ähnlich verhält es sich auch mit Wörtern. Der Autor des vorliegenden Buches tippt eine kurze, simple Geschichte. Dann nimmt er das Papier aus der Schreibmaschine oder dem Drucker, macht in der Mitte des Papiers einen Falz, in der Diagonale einen Falz, dann halbiert er das Ganze von oben her und stülpt es um. Und schon ist die Geschichte neu erzählt. Dann kopiert er diese Geschichte und macht mit der Kopie dasselbe nochmals. Und immer so weiter. Und so schreibt er sein Buch: immer dieselbe Geschichte, dasselbe Butterbrotpapier, gefaltet zu hundert verschiedenen Hütchen.

 

Den Autor dieses Buches traf ich einmal zufällig im Restaurant Kunsthalle. Er sass am Nebentisch. Ich wäre gerne aufgestanden und zu ihm hingegangen, um ihm zu sagen, dass ich alle seine Bücher gelesen habe, wirklich alle, und dass ich seine Erzählkunst bewundere, seinen Witz, seine Raffinesse. Aber ich tat es nicht. Stattdessen bückte ich mich über meinen Teller und säbelte an meinem Cordon Bleu herum. Der Autor trank Wein, wurde lustig. Die für mich einmalige Gelegenheit, einen Schriftsteller anzusprechen, dem ich ungezählte Stunden spannender Lektüre zu verdanken hatte, liess ich tatenlos verstreichen. Das heisst: ich tat schon etwas, aber eben nichts, das mit Literatur zu tun hatte. Ich kämpfte mit meinem Cordon Bleu, das mir überhaupt nicht schmecken wollte, der Käse war noch tiefgefroren, ein kulinarisches Desaster. Hin und wieder schielte ich zum Nebentisch, ohne das Messer abzusetzen. Ja, er war es! Und er war es auf eine Weise, die man nur als typisch bezeichnen kann. Er sah aus wie auf seinem Autorenfoto, und er verhielt sich wie der ewige Ich-Erzähler in seinen Büchern. Er hatte schon gegessen, kippte ein Weinglas nach dem andern und unterhielt sich lebhaft mit einem Kumpel, der möglicherweise sein Verleger war. Von ihm, dem Kumpel, Verleger oder Kumpel-Verleger, war nicht viel zu hören. Er hörte zu, während der Autor gestikulierend etwas über seine afrikanische Abstammung erzählte und dabei immer wieder mit der Faust auf den Tisch klopfte. An seinem Schnauz hing eine Nudel. Schliesslich winkte er der Serviertochter und fragte sie über Weinsorten aus. Nach einer Weile machte sie ein strenges Gesicht und sagte: “Ich denke, Sie brauchen jetzt keinen Wein mehr. Gehen Sie lieber nach Hause.”

 

2009