Lob des Klauens

Mitte August kündigte der Ravensburger-Verlag an, er wolle die Auslieferung der beiden Bücher "Der junge Häuptling Winnetou" zum gleichnamigen Kinderfilm stoppen. Obwohl die Bücher schon erschienen waren, nahm der Verlag sie aus dem Programm. In einem Instagram-Post bezog er sich auf das Feedback von Nutzern, die den Film und die Kinderbücher als unsensibel geschmäht hatten. In seinem Post bedauerte der Verlag, "die Gefühle anderer" verletzt zu haben. Ganz offensichtlich war er bereit, die Begründung der Kritiker zu übernehmen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen: ein Akt der Selbstzensur, der viele entsetzt hat. Auch mich, obwohl ich kein Karl May-Fan bin. Die Kinderbücher wurden gecancelt mit der Begründung, sie würden die Verbrechen an den indigenen Völkern Nordamerikas ausblenden, d.h. die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner verklären und beschönigen. Ausserdem stand, wie so oft bei Canceling, der Vorwurf der "kulturellen Aneignung" im Raum. Indianerspiele und Wild-West-Phantasien à la Karl May seien unzulässig, weil man damit die indianische Kultur falsch darstelle und missbräuchlich vermarkte. Der Witz an diesem Vorwurf besteht jedoch darin, dass er selber kulturfeindlich ist und sich keinen Deut um die Anliegen der echten Indianer schert. In den USA haben die meisten Indianer, die man zu dieser Kontroverse befragt hat, nur den Kopf geschüttelt. "Bullshit!" Aber auch in Deutschland gab es unter den direkt Betroffenen kaum jemanden, der das Canceling in Schutz nahm. Die echten Indianer, die alljährlich an den Karl May-Spielen in Bad Segeberg teilnehmen, äusserten sich sogar erfreut darüber, dass sich Kinder unbeschwert der "kulturellen Aneignung" hingeben und sich als Indianer verkleiden. Auffallend ist auch, dass die meisten befragten Indianer den Begriff "Indianer" überhaupt nicht problematisch finden. Er ist in der populären Kultur fest verankert. Selbst wenn es Indianer gibt, die ihn ablehnen, kann man ihn nicht mehr aus dem Sprachgebrauch entfernen. Und wieso sollte man? Er wertet die Indianer ja nicht ab, im Gegenteil, und abgesehen davon gehört er nicht den Indianern - und schon gar nicht irgendwelchen Akademikern, die ihn als problematisch hinstellen, weil er einen Mythos und nicht die Realität abbildet. Hinter dem Eintreten für "kulturelle Sensibilität", dem zentralen Anliegen der Aktivisten, verbirgt sich der fragwürdige Versuch, Kultur als kollektives Eigentum oder als "ethnisch rein" zu definieren, ein Versuch, den auch Rechtsnationalisten anstellen, die eine kulturelle Reinheit einfordern, die es zu bewahren gilt. Die Kultur, die mit der eigenen Identität assoziiert wird, darf nicht verunreinigt, missbraucht oder entwendet werden. Diese Sorge ist lachhaft, weil sie am eigentlichen Wesen der Kultur vorbeigeht. Kultur ist grundsätzlich immer ein Bastard. Wer Kultur betreibt, geht fremd, lebt polygam, ist, wie man so schön sagt, "für vieles aufgeschlossen". Kultur ist noch nie etwas anderes gewesen als Aneignung und Vermischung, egal, ob in der Architektur, Mode, Musik, Kunst oder Literatur. Klar, es gibt Autorenrechte und Künstlersignaturen, aber grundsätzlich kann jeder, der das möchte, Shakespeare oder Picasso nachahmen und etwas Eigenes daraus machen. Und jeder, der das möchte, kann sich Indianerfedern ins Haar stecken und den Tomahawk schwingen. Oder sich wie Jim Morrison als indianischer Schamane inszenieren, obwohl er keinen Tropfen Indianerblut in sich hat. Kultur gehört niemandem und allen. Wie sagte doch Picasso? "Der schlechte Künstler imitiert. Der gute Künstler klaut." Wo geklaut wird, gibt es immer einer gewisse Übergriffigkeit. Ein Dieb liebt, was er klaut, aber er wäre kein Dieb, wenn er nicht skrupellos und egoistisch wäre. Hätte Goethe den "West-östlichen Divan" schreiben können, wenn er sich nicht mit beiden Händen beim persischen Dichter Hafis bedient hätte? Goethe tat das eigenmächtig, ohne Hafis oder die Perser um Erlaubnis zu fragen. Er kannte wahrscheinlich niemanden aus diesem Kulturkreis persönlich. Er idealisierte und plünderte ihn und steckte Hafis einfach in den eigenen Sack, so wie er auch seine Muse und Mitautorin Marianne von Willemer in den eigenen Sack steckte. Das hatte bei ihm Methode, und es war nichts, wofür er sich schämte. Er bekannte sich offen dazu, Ideen, Stoffe und Themen von überallher zu klauen. "Ich verdanke mein Werk keineswegs nur meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen ausser mir, die mir dazu das Material boten." Die gleiche Haltung finden wir auch bei Shakespeare. Nicht wenige seiner Stücke (z.B. "Romeo und Julia") existierten schon vorher als Theaterstoffe und wurden von ihm lediglich umgeschrieben und neu arrangiert. Das Material, aus dem er etwas Neues machte, bezog er oft aus fremden Kulturen, wie zum Beispiel aus Italien, das damals sehr weit von England entfernt war, Hauptsache, das Material war gut und sorgte für ein volles Theater. Hätte Shakespeare zwei Jahrhunderte später gelebt, in der Zeit von Coopers "Lederstrumpf", als man mit Rousseau für den "edlen Wilden" schwärmte, so hätte er wahrscheinlich Gefallen daran gefunden, die indianische Kultur möglichst reisserisch zu kolportieren. Romeo und Julia als Indianerkinder zwischen zwei verfeindeten Stämmen, zwischen den Comanchen und den Apachen. Wieso nicht? Natürlich gab es zur Zeit von Shakespeare noch keine Autorenrechte, und die Welt war noch verhältnismässig klein, aber das Prinzip des kulturellen Transfers war damals schon wirksam, und es hat sich bis heute erhalten. Davon lebt die ganze populäre Kultur - und insbesondere die Popmusik. Wären die Beatles jemals so bedeutend geworden, wenn sie nicht schamlos und unbefangen alle möglichen Einflüsse aufgenommen und verarbeitet hätten, vom schwarzen Blues bis zur indischen Tabla-Musik? Auf dem "White Album", das von Experimenten und Spielereien nur so strotzt, ortet Wikipedia 11 verschiedene Stilrichtungen. Und wie steht es mit dem Jazz? Ein Paradebeispiel fruchtbarer kultureller Aneignung. Jeder weisse Jazz-Musiker macht sich der kulturellen Aneignung schuldig. Jazz, sollte man meinen, gehört den Schwarzen, den Benachteiligten, den historischen Underdogs. Oder nicht? Nein, eben nicht. Die Wurzeln des Jazz liegen dort, wo Schwarze weisse Musik übernommen und uminterpretiert haben, um dann ihrerseits die Musik zu machen, die von Weissen übernommen und uminterpretiert worden ist. Jazz war von Anfang an ein Schmelztiegel, ein Geben und Nehmen, ein Hin und Her. Ein ethnisches oder sonstwie gruppenbezogenes Copyright, das man respektieren oder wahren müsste, hat es in der populären Musik nie gegeben. Vom Jazz kommen wir sehr schnell zum Rock'n Roll, zum Rap und zur World Music, zu Andreas Vollenweider und Konsorten. Na ja, viel Vergnügen beim Aussortieren derjenigen, die sich der kulturellen Aneignung schuldig gemacht haben! Da kann man gleich mit Elvis Presley anfangen - und kommt nie an ein Ende. Sogar die sogenannte Volksmusik ist in Wirklichkeit bunt zusammengeflickt, ein Crossover und alles andere als authentisch volkstümlich. Und das betrifft beileibe nicht nur die Musik. Es betrifft die ganze Kultur. Eine kulturelle Reinheit hat es nie gegeben. Ausser vielleicht in ganz engen Stammeskulturen, die wir heute in völkerkundlichen Museen bestaunen. Sehnsüchtig vielleicht. Neidisch, weil wir diese Unschuld verloren haben. Und in den allermeisten Fällen ist auch das eine Täuschung. Kulturen haben sich schon immer vermischt, haben sich gegenseitig bereichert, und selten auf friedlichen Wegen: auch Konflikte können fruchtbar sein. In der Praxis gibt es also keine kulturelle Reinheit, höchstens in den Köpfen totalitärer Ideologen, die mit ihren engstirnigen Konzepten "kultureller Identität" auf Grund laufen, sobald sie es mit echter, lebendiger Kultur zu tun haben. Im Bereich des ganzen Kulturschaffens wurde seit jeher geklaut, gecovert, gemixt, kombiniert und abgekupfert, was das Zeug hält, und allermeistens auf der Grundlage von Fehldeutungen und Missverständnissen. Karl May, der vom echten Wilden Westen keine Ahnung hatte, ist das Musterbeispiel eines solchen Missverständnisses. Ich könnte hunderte Missverständnisse aufzählen, aus denen grossartige Kunst, grossartige Literatur, grossartige Architektur, grossartige Musik entstanden ist. Eine lebendige Kultur bemüht sich nicht um Korrektheit, um grösstmögliche Äquivalenz, eine lebendige Kultur frisst wie der Pac-Man alles Mögliche und Unmögliche in sich hinein; gerade das Missverständnis öffnet Spielräume, sorgt für Lebendigkeit. Das Nicht-Identische und Nicht-Verstandene ist in der Kultur die Hefe, die alles vorantreibt. Das Umgekehrte wäre eine Kultur, die keine Vermischung, keine Heterogenität mehr zulässt, die alles auf die Stammwurzel reduzieren möchte - die puristisch bewachte, eigene, absolute Identität - und sich infolgedessen abkapselt und verkümmert. Jodeln darf man da nur noch in den Schweizer Bergen und mit einem Schweizer Pass, ein Blues-Musiker muss mindestens dunkelbraun sein, man muss versklavte Vorfahren vorweisen können, damit man Dreadlocks tragen darf, und wer kein gebürtiger Indianer ist, darf kein Indianerkostüm tragen. Die Argumentationslinie der "kulturellen Sensibilisierung" ("Cultural awareness") ist zutiefst scheinheilig. Sie spielt die Karte der kulturellen Sensibilität aus und greift damit (ausgerechnet!) den Kern einer vitalen Kultur an, einer Kultur, die keine Prüfstelle hat und nicht in dem Masse kontrollierbar ist wie die Kultur in Nord-Korea, China oder im Iran. Ist natürlich gewissen Leuten ein Dorn im Auge. Ausserdem sind rassistische Implikationen sehr naheliegend. Seit wann gibt es in der Kultur ein Geburtsrecht? Ein "Monopol des Blutes"? Und was soll dieses Kästchendenken, die Vorstellung, dass man mit einer Gruppe, einem Gendertyp, einer Rasse, einer Hautfarbe, einer Ethnie oder sonst einer Menschenkategorie identisch zu sein hat? Erschütternd, dass in gewissen linken Kreisen, die auch noch relativ gebildet sind, Hirngespinste aufkommen, die an die Nazis erinnern. Idiotie ist eben keine Frage von links oder rechts, gebildet oder nicht gebildet. Der WELT-Kolumnist Harald Martenstein nimmt diesbezüglich kein Blatt vor den Mund: "Diese Menschensortiererei und diese Stammesdenken wandelt auf den Spuren des alten Rassismus, der trägt jetzt ein neues, buntes Mäntelchen und tritt mit dem allerbesten Gewissen auf...." Das Gerede über "kulturelle Sensibilisierung" ist auch insofern verlogen, als die indigenen Kulturen, die man vor dem "bösen weissen Mann" in Schutz nehmen möchte, in der Realität keineswegs so unverdorben waren, wie man es gerne hätte. Auch die Indianer haben sich bekriegt, einzelne Stämme haben andere Stämme ausgerottet. Und die Natur wurde schon von den Indianern ausgebeutet. Oft haben sie die eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Die Indianer waren kein bisschen edler oder weiser als die Europäer. Sie hatten nur die schlechteren Waffen. Das Verrückte ist nun, dass das Idealbild vom "edlen Wilden" gerade dort am stärksten nachwirkt, wo man mit dem streng erhobenen Moralfinger auf die historische Realität deutet. Das ist ziemlich peinlich.

 

Gruppen oder Ethnien herabzusetzen, ist selbstverständlich problematisch. Andererseits gibt es in unserer Gesellschaft eine breite Übereinkunft darüber, dass pauschalisierende Vorurteile bestenfalls für Witze taugen, nicht aber für Realitätsbeschreibungen. Stereotypen gibt es überall, und problematisch werden sie erst, wenn sie instrumentalisiert, d.h. in den Dienst einer Ideologie gestellt werden. Ansonsten können sie auch lustig sein. Chinesen essen immer nur Reis. Die einzigen intelligenten Menschen in Österreich sind die Touristen. Indianer können sich lautlos anschleichen. Italiener singen von früh bis spät Arien. Zürcher haben ein grosses Maul mit nichts dahinter. Ausmerzen kann man solche Bilder nicht. Aber man muss sie auch nicht für bare Münze nehmen. Das hat mit Vernunft, Bildung und Lebenserfahrung zu tun und muss nicht von einer Gedankenpolizei durchgesetzt werden. Was vielen Leuten bewusst ist. Deshalb auch die weitverbreitete Abneigung gegen Political Correctness. Die Aktivisten erreichen ihre Ziele trotzdem. Die Winnetou-Bücher wurden gecancelt, der Verlag ist eingeknickt. Natürlich aus Angst vor der "öffentlichen Meinung". Mit dieser Angst wird gezielt gearbeitet. Indem die Aktivisten mit allen Mitteln auf die Gesellschaft einwirken, erzeugen sie einen Druck, dem sich Medien, Universitäten, Firmen, Museen, Konzertveranstalter etc. oftmals aus purem Opportunismus beugen. Und hier liegt das eigentliche Problem. Wissenschaftler und Kulturschaffende bekommen das allerorten zu spüren, sofern sie nicht selbst am Kulturkampf der Cancel Culture beteiligt sind. Was bei diesem Kampf auf der Strecke bleibt, ist die Bereitschaft, sinnvoll zu disputieren, d.h. mit Argumenten und nicht mit Canceling, Boykotten, der Zensurkeule und Verunglimpfungen zu streiten. Fairerweise muss man jedoch hinzufügen, dass diejenigen, die sich auf die Meinungsfreiheit berufen, ebenfalls radikal sein können. Und dass nicht unbedingt jede Meinung etwas Richtiges oder Schlaues zum Ausdruck bringt. Natürlich wäre es falsch, einem Holocaustleugner oder Antisemiten eine öffentliche Plattform zu geben. Die Meinungsfreiheit ist nicht grenzenlos, sie muss in einem gesitteten Diskurs immer wieder ausgehandelt und abgesteckt werden. Den Schlüssel dazu liefern Wissen und Bildung im Rahmen einer zivilgesellschaftlichen Kultur, in der sich verschiedene Interessensphären ineinander verzahnen und Ideen offen diskutiert und geprüft werden. Diese Basis kommt jedoch ins Wanken, wenn sich krakeelende Shitstorm-Communitys dazu ermächtigt fühlen, "die Grenzen des Sagbaren" zu diktieren und nach freiem Gutdünken Fatwas auszusprechen. Eine literarische Zensur zu erzwingen, ist mehr als nur frech: es ist gefährlich. Deshalb kann ich nur eines raten: kauft Karl May-Bücher. Lest sie. Es ist kein Schund. Es ist tolle Literatur. Wer bei Karl May allerdings die echten Indianer kennenlernen möchte, ist schlicht an der falschen Adresse. Kunst und Literatur spielen mit Möglichkeiten, mit Träumen und Phantasien. Über die Realität belehren sie uns nicht. 

 

 

2022