Harry Potter und die böse Hexe

 

Vor wenigen Tagen ist das Videospiel "Hogwarts Legacy" aus dem Harry-Potter-Universum erschienen. Dem Herausgeber Warner Brothers ist damit ein Rekordstart mit hervorragenden Verkaufszahlen geglückt. Auf Steam schnellten die positiven Bewertungen auf 94 Prozent hoch, und in den Medien hagelte es positive Kritiken. Dieser Erfolg ist umso beachtlicher, als das Spiel schon lange vor seinem Erscheinen heftig attackiert wurde. Vielleicht hat hier der sogenannte Streisand-Effekt mitgespielt. Je mehr man dazu aufrief, das Spiel und seine Käufer zu ächten, desto stärker rückte es in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Die negative Berichterstattung dürfte den Verkauf werbewirksam gespusht haben. Diejenigen, die darauf drangen, "die Finger davon zu lassen", führten Gründe ins Feld, die mit Gleichstellung, Inklusion, Diversity, Moral und Diskriminierung zu tun hatten. Es war also - wie immer in solchen Fällen - eine "gute Sache", für die gecancelt wurde. Selbst Streamer, die sonst selten einen Spielspass ausliessen, verstanden auf einmal überhaupt keinen Spass mehr und riefen mit erhobenem Zeigefinger zum Boykott auf. Auf Twitter und anderen sozialen Netzwerken häuften sich Gehässigkeiten, Anschuldigungen, Mahnungen und Warnungen. Gronkn, ein Web-Video-Produzent und Gamer mit grosser Reichweite, wurde massiv bedroht, beleidigt und beschimpft, nachdem er angekündigt hatte, "Hogwarts Legacy" spielen zu wollen. Er gab nach, weil er keine Lust darauf hatte, im Kreuzfeuer von Fanatikern zu stehen. Die Netz-Aktivisten schöpften alle technischen Möglichkeiten aus. Sie erstellten zum Beispiel eine Internetseite, die anzeigte, welche Gamer "Hogwarts Legacy" streamten, was einem Pranger oder Steckbrief gleichkam. Bei dieser ganzen Aufregung ging es natürlich nicht um das Spiel, sondern um die Schöpferin des Harry-Potter-Universums, die Autorin J.K. Rowling. Seit Jahren wird ihr Transfeindlichkeit vorgeworfen. 

 

Als der erste Harry-Potter-Roman in deutscher Übersetzung erschien, damals noch ein Geheimtip, von dem man im Buchhandel erst nach und nach Wind bekam, war ich bereits zu alt, um auf den Zug nach Hogwarts aufspringen zu können. Das war im Jahr 1998, und bis heute habe ich keinen einzigen Harry-Potter-Roman gelesen. (Schande über mich). Dass dieser Zug rasant Fahrt aufnahm und immer mehr Kinder und Jugendliche beförderte, entging mir jedoch nicht. Weltweit verfielen sie dem Harry-Potter-Fieber und lasen auf einmal wie vergiftet. Als Buchhändler war ich nah am Geschehen - oder vielleicht sogar mittendrin, und trotzdem bekam ich es immer nur aus der Perspektive eines begriffsstutzigen Erwachsenen mit. Zuweilen grenzte das Fieber schon fast an Hysterie. Sobald ein neuer Band erschien, stürmten die jungen "Potterianer" die Buchläden und lebten - mit Kostümen, Zauberstäben, Hexenbesen und allerlei anderem Hokuspokus - eine Begeisterung aus, die ich wohlwollend zur Kenntnis nahm, aber nicht teilte. Ich schaute zu und kratzte mich am Kopf. Ich war und blieb eben ein Muggle, ein Uneingeweihter. Erst durch die Filme lernte ich, wenn auch oberflächlich, die vielen Figuren, Schauplätze, Zaubersprüche und Fabelwesen kennen, die in dem feingesponnenen Universum der Zauberschule eine Rolle spielen. Es ist auch ein Universum der Wortschöpfungen. Wörter wie Glumbumbel, Pfefferkobolde und Deluminator dürften jedem Harry-Potter-Fan bekannt sein, während ein Muggle keine Ahnung hat, wovon da die Rede ist. Exklusiv ist nicht nur die Fangemeinde, sondern auch das gesellschaftliche Regelwerk, das den magischen Künsten zugrunde liegt. Das Zauberinternat hat eine strikte Zugangsbeschränkung, von Inklusion und Gleichberechtigung keine Spur. Zwischen Muggle und Nicht-Muggle wird streng unterschieden. Dass nur Menschen zaubern können, die in einer magischen Familie geboren werden und magisches Blut in sich haben, scheint ein Abbild der englischen Klassengesellschaft zu sein. Die einen haben das Privileg von Geburt auf, den andern bleibt es verschlossen. Einen demokratischen Zugang gibt es nicht. Die Ausgeschlossenen, das sind die Muggles, wörtlich: die kleinen Trottel. Oder sehe ich das falsch? Ein Harry-Potter-Kenner möge mich aufklären. Ich bin eben ein typischer Muggle, absolut untauglich für Hogwarts.

 

Als Muggle habe ich einiges verpasst. Ich habe zum Beispiel auch den Sündenfall der Autorin verpasst. Und wenn doch mal etwas davon zu mir durchgedrungen ist, habe ich das als Promi-Klatsch aus dem Potterverse abgetan. Doch dieser Klatsch zog immer weitere Kreise, und wer heute nach Rowling googelt, könnte genauso gut das Wort "Unmensch" oder "Hexe" eingeben. Was ist da passiert? Die einst so gefeierte Autorin ist in ein öffentliches Kreuzfeuer geraten, das nun schon seit Jahren anhält und immer neue Eskalationsstufen erreicht. Ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Es scheint, als wäre keine Schlichtung mehr möglich, als wäre die Konfliktlage für alle Zeiten festgefahren. Alles beginnt 2018 mit einem Tweet. Ein Aktivist der Labour Party bezeichnet Transfrauen als "Männer in Kleidern". Worauf Rowling auf den "Gefällt mir"-Button drückt - und nach heftigen Reaktionen zurückkrebst. Sie behauptet, es sei ein Versehen gewesen. 2019 erregt der Fall von Maya Forstater einiges Aufsehen. Die Forscherin und studierte Ökonomin arbeitet an der Denkfabrik Center of Global Development, wo sie ihren Arbeitsvertrag aufgrund einer kontroversen Meinung nicht verlängert bekommt. Unter anderem geht es dabei um folgende Aussage: "Ich glaube, dass männliche Menschen keine Frauen sind." An anderer Stelle schreibt sie: "Ich bin so überrascht, dass intelligente Menschen, die ich bewundere, die in anderen Bereichen absolut pro-Wissenschaft sind und sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzen, sich verrenken, um nicht zugeben zu müssen, dass Männer sich nicht einfach in Frauen verwandeln können." Nach der Kündigung zieht Maya Forstater ihren Arbeitgeber vor Gericht und verliert in erster Instanz. Daraufhin verfasst J.K. Rowling folgenden Tweet: "Zieh dich an, wie du willst. Nenn dich, wie du möchtest. Schlaf einvernehmlich, mit welchem Erwachsenen du willst. Lebe das beste Leben in Frieden und Sicherheit. Aber Frauen aus ihrem Job zu werfen, weil sie behaupten, dass das Geschlecht real sei?" Dahinter der Hashtag "Ich stehe hinter Maya". Innerhalb von 24 Stunden sammelt dieser Tweet 140'000 Likes und 30'000 Retweets - und mindestens genauso viel Kritik. 

 

Im Juni 2020 nimmt Rowling eine Artikelüberschrift aufs Korn. Sie lautet: "Schaffung einer gerechteren Welt nach Covid-19 für Menschen, die menstruieren." In diesem Artikel geht es um Menstruationshygiene in Entwicklungsländern, also um ein spezifisches Frauenproblem. Auf die Formulierung "Menschen, die menstruieren" reagiert Rowling mit unverhohlenem Spott. "Menschen, die menstruieren? Ich bin mir sicher, dass es früher ein Wort für diese Leute gab. Hilft mir jemand? Wumben? Wimpund? Woomud?" Rowling spielt auf das englische Wort "Women" an, das in der Überschrift nicht ausgesprochen wird. Weiter schreibt sie: "Wenn das biologische Geschlecht nicht real ist, gibt es keine gleichgeschlechtliche Anziehung. Wenn das biologische Geschlecht nicht real ist, wird die gelebte Realität von Frauen weltweit ausgelöscht. Ich kenne und liebe Transmenschen, aber die Auslöschung des Konzepts vom biologischen Geschlecht nimmt vielen die Möglichkeit, sinnvoll über ihr Leben zu sprechen. Es ist kein Hass, die Wahrheit zu sagen." In zwei weiteren Tweets doppelt Rowling nach: "Die Vorstellung, dass Frauen wie ich, die sich seit Jahrzehnten empathisch gegenüber Transmenschen verhalten haben und sich ihnen verwandt fühlen, weil sie auf die gleiche Weise wie Frauen verletzlich sind..., Transmenschen 'hassen', weil sie glauben, dass das biologische Geschlecht real ist und gelebte Konsequenzen hat, ist ein Unsinn." Und schliesst ab: "Ich respektiere das Recht jeder Transperson, so zu leben, wie es sich für sie authentisch und gut anfühlt. Ich würde mit dir protestieren, wenn du aufgrund deines Transseins diskriminiert würdest. Gleichzeitig ist mein Leben davon geprägt, weiblich zu sein. Ich glaube nicht, dass es hasserfüllt ist, das zu sagen." 

 

Angesichts der heftigen Reaktionen schreibt Rowling auf ihrer Website einen ausführlichen Blogbeitrag. Überraschenderweise ist es keine Streitschrift, eher eine Art Essay. Rowling wirbt um Verständnis für ihre Haltung. Sie wird sehr persönlich und erläutert die Gründe, weshalb sie sich schon seit Jahren mit Transthemen beschäftigt. Zum einen gesteht sie, dass sie als Jugendliche selber den Wunsch gehegt habe, das Geschlecht zu wechseln, und dass sie vielleicht in eine Transition eingestiegen wäre, wenn sie sich damals schon in Online-Foren darüber hätte informieren können. Ihr Vater habe sich einen Sohn gewünscht, und sie habe unter einer Zwangsstörung gelitten, womit sie andeutet, dass es fatal gewesen wäre, wenn sie sich für eine Geschlechtsumwandlung entschieden hätte. Sie beschreibt ein klassisches Pubertätsproblem und benennt die psychosozialen Ursachen, die hinter dem Wunsch nach einer Transition stehen können. Ausserdem offenbart sie, dass sie häusliche und sexuelle Gewalt erfahren habe und dass das mit ein Grund sei, weshalb sie sich mit Transmenschen solidarisch fühle. Sie schreibt über Verletzlichkeit und männliche Gewalt und betont, dass sie als Frau ein besonderes Verständnis für die Probleme von Transmenschen habe. Diesen emphatischen weiblichen Blickwinkel - und jetzt wird es interessant - hält Rowling allerdings konsequent durch. Sie authentifiziert ihn. Weiblichkeit, das stellt Rowling klar, ist kein Konstrukt, sondern eine Realität. Frausein ist für Rowling kein Kostüm und auch keine Projektionsfläche. Für sie sind Weiblichkeit und Geschlecht an unverrückbare biologische Kriterien gebunden und nicht bloss eine vage Spiegelung von Identität und Gefühl. Damit greift sie, wie schon in ihren Tweets, das zentrale Dogma der Transbewegung an, nämlich dass Transfrauen (biologische Männer, die sich als Frauen fühlen) als Frauen und Transmänner (biologische Frauen, die sich als Männer fühlen) als Männer zu gelten haben, eine Sichtweise, die eng mit der Gender-Ideologie zusammenhängt, nach der die Definition von Zweigeschlechtlichkeit auf einer sozialen Konstruktion beruht, die nach subjektiven Gesichtspunkten in Frage gestellt werden kann. In ihrem Blog-Beitrag weist Rowling dieses Dogma ausdrücklich zurück und formuliert folgende Kritikpunkte:

1. Der Eifer der Aktivisten gefährde die Meinungsäusserungsfreiheit.

2. In punkto Gesundheitsfürsorge und Schutz vor männlicher Gewalt sei der Transaktivismus für Frauen ein Problem. Die angestrebte Gleichstellung von Transfrauen und Frauen verwische und bagatellisiere biologische Grundtatsachen, die für Frauen existentiell seien. Wenn die Bescheinigung über die Geschlechtszugehörigkeit ohne Operation oder Hormone ausgestellt werden könne, also ohne eigentliche Geschlechtsumwandlung, gefährde man zum Beispiel weibliche Schutzräume. 

3. Rowling äussert sich besorgt über Fälle von De- Transitioning, also Menschen, die sich dazu entschliessen, ihre Geschlechtsumwandlung rückgäng zu machen, und verweist auf Gesetze, die die Transition aus guten Gründen erschweren.

4. Die inklusive oder gendergerechte Sprache, die Frauen als "Menschen mit Vulva" oder "Menschen, die menstruieren" bezeichnet, empfindet Rowling als "entmenschlichend und erniedrigend". Für sie sei das "nicht neutral, sondern feindselig und entfremdend". 

Obwohl der Text einen einfühlsamen Ton anschlägt und die schwierige Situation von Transmenschen mit grossem Respekt und ein Stückweit sogar aus einer persönlichen Betroffenheit heraus thematisiert, ziehen die Kampagnen gegen Rowling immer weitere Kreise. Dass Rowling die Transgender-Problematik sehr gut kennt und mit Transmenschen offen sympathisiert, spielt dabei überhaupt keine Rolle mehr. Eines nämlich hat sie nicht gemacht: sich schuldig bekannt. Sie ist nicht eingeknickt. Im entscheidenden Punkt ist sie beinhart geblieben. Da hilft alles andere nichts mehr. Vielen gilt sie nun erst recht als "transfeindlich" oder "transphob". Man läuft Sturm gegen sie und sagt sich von ihr los. Die Cancel-Welle beginnt zu rollen. An vorderster Front steht dabei ausgerechnet der Harry-Potter-Darsteller Daniel Radcliffe, der seit Jahren mit der Nonprofit-Organisation "The Trevor Project" zusammenarbeitet, einer Krisen- und Suizid-Telefonseelsorge für jugendliche LGBTQ. Über die Organisation veröfffentlicht er einen Brief, der stellvertretend für die vielen Unmutsäusserungen der LGBTQ-Community steht, eine Art Generalabrechnung mit der Autorin. Darin heisst es: "J.K. Rowling ist zweifellos für den Verlauf meines Lebens verantwortlich, aber als jemand, der die Ehre hatte, mit dem Trevor Project zusammenzuarbeiten und in den letzten zehn Jahren einen Beitrag dazu zu leisten, und einfach als Mensch, fühle ich mich gezwungen, etwas zu sagen. Transfrauen sind Frauen. Jede gegenteilige Behauptung untergräbt die Identität und die Würde von Transpersonen und steht im Widerspruch zu allen Ratschlägen von Fachverbänden des Gesundheitswesens, die über weit mehr Fachwissen zu diesem Thema verfügen als J.K. Rowling und ich. Laut dem Trevor Poject gaben 78% der transgender- und nicht-binären Jugendlichen an, aufgrund ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert worden zu sein. Es ist klar, dass wir mehr tun müssen, um transgender und nicht-binäre Menschen zu unterstützen, ihre Identität nicht zu entwerten und keinen weiteren Schaden anzurichten." Er wendet sich auch an die Fangemeinde von Harry Potter und leistet Abbitte für die Verfehlungen der Autorin: "An all die Menschen, die nun das Gefühl haben, dass ihre Erfahrung mit den Büchern getrübt oder geschmälert worden ist. Es tut mir zutiefst leid für den Schmerz, den diese Kommentare bei euch verursacht haben. Ich hoffe wirklich, dass ihr das, was für euch an diesen Geschichten wertvoll war, nicht völlig verliert..." 

 

Die Anfeindungen gegen Rowling erreichen nun eine völlig neue Dimension. Auf einmal geht es nicht mehr um die unmittelbare Reaktion auf ein Statement, sondern um die Befestigung einer ideologischen Burg, in der man sich mit gehisster Regenbogenflagge verschanzt. Man nutzt jedes mögliche Sprachrohr, um sich zur "richtigen Sache" zu bekennen. Es werden massenhaft Bekenntnisse abgelegt. Man beschwört - so öffentlichkeitswirksam wie möglich - die eigene Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Rechtdenkenden und Rechtschaffenen. Schauspieler aus dem Potterverse und allerlei andere Prominenz twittern sich die Finger wund, um ihre Solidarität mit nonbinären Menschen sowie ihr Bedauern über Rowlings Gesinnung kundzutun. Zuspruch oder Unterstützung erhält die Autorin zwar vereinzelt von Intellektuellen, die um die eigene Redefreiheit fürchten, aber nicht aus der Fangemeinde - und schon gar nicht aus der Riege der Harry-Potter-Schauspieler. Erst als der Shitstorm bedrohliche Ausmasse annimmt, mit Morddrohungen und Bücherverbrennungen, getraut sich der eine oder andere Harry-Potter-Prominente aus der Deckung und springt Rowling bei. Es ist ausgerechnet Ralph Fiennes, der Darsteller von Lord Voldemort, des Gegenspielers von Harry Potter, der im Jahr 2022 einer Zeitung gegenüber klarstellt, dass Rowling "keine obszöne, ultrarechte Faschistin" sei. Sie sei einfach eine Frau, die sage, dass sie eine Frau sei und sich als Frau fühle und dies auch sagen möchte. Was Fiennes hier mit einfachen Worten beschreibt, ist in Wahrheit eine ziemlich fundierte feministische Haltung. Durch sie gerät Rowling in die Nähe von Alice Schwarzer. Es ist ein Feminismus, der sich das Frausein nicht wegdefinieren lässt. Tatsächlich wird Rowling von dieser Seite her massgeblich unterstützt: von Feministinnen wie Alice Schwarzer, die der sogenannten Zweiten Welle angehören und die Auffassung vertreten, dass die weibliche Selbstbestimmung an biologische Voraussetzungen gebunden sei. Die Zeitschrift Emma veröffentlicht Rowlings Blogbeitrag noch im Jahr 2020 unter dem Titel "Frauen werden abgeschafft" und heizt dadurch die Kontroverse weiter an. Während sich Rowling und ihre Mitstreiterinnen um eine sachliche Debatte bemühen, kochen auf der anderen Seite die Emotionen hoch. Vielen ist klar, dass die Transgender-Debatte aus dem Ruder gelaufen ist und eigentlich schon längst keine Debatte mehr ist, sondern eine grossangelegte Verleumdungskampagne. Von solchen Exzessen ist nicht nur Rowling betroffen. Anderen öffentlichen Personen ergeht es ähnlich. Sobald sie die Bahnen der Meinungskonformität verlassen, bricht im Internet ein Sturm der Entrüstung los, und oft verbindet sich das mit ernsthaften Sanktionen und Einschränkungen: Lesungen werden abgesagt, Vorträge gestört, Verträge gekündet und Auftrittsmöglichkeiten entzogen. Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler sehen sich immer stärker mit der Problematik konfrontiert, dass in Teilen der Gesellschaft ein Klima geistiger Repression herrscht, ein Mangel an Diskussionskultur. Im Juli 2020 unterzeichnet Rowling gemeinsam mit 152 Intellektuellen - von Margaret Atwood bis Daniel Kehlmann - einen offenen Brief, der die "zunehmende Atmosphäre von Zensur" beklagt. Darin heisst es: "Die Grenzen dessen, was ohne Androhung von Repressalien gesagt werden darf, werden immer enger." Man fordert, dass der offene Diskurs über kontroverse Themen nicht weiter eingeengt wird. Es ist wohl kein Zufall, dass dieser Aufruf im Jahr 2020 lanciert wird. Die Corona-Krise knebelt das öffentliche Leben und versetzt die Gesellschaft in einen lähmenden Ausnahmezustand. Alle fühlen sich überrollt: die einen von der Krankheit - und die andern von der Art und Weise, wie sie bekämpft wird. Die Stimmung ist derart aufgeheizt, dass eine vernünftige Debatte über Risiken und Massnahmen unmöglich erscheint. Auf einmal zählt nur noch, was Experten sagen. Darin liegt die grosse Gefahr einer Entpolitisierung des öffentlichen Bewusstseins. Ganze Bevölkerungsgruppen müssen sich als "Covidioten" beschimpfen lassen, weil sie die öffentlichen Verlautbarungen nicht blindlings akzeptieren. Die Frage ist nicht, wer recht hat. Denn vieles ist Ansichtssache, und es gibt auch ein Recht, sich zu irren. Die entscheidende Frage ist, ob es nicht legitim ist, eine eigene Meinung zu haben. Und ob es nicht vielleicht sogar unumgänglich ist. Nach Hanna Arendt, die sich wegweisende Gedanken über die moderne Demokratie gemacht hat, sollte nicht Wahrheit, sondern Meinung das oberste Prinzip in der Politik sein. Meinungen kann man debattieren, Wahrheit nicht. Das macht die Wahrheit - auch die von Experten gestützte - so gefährlich. Doch der Aufruf geht weit über die aktuellen Ereignisse hinaus und spricht eine Problematik an, die schon lange vor Corona virulent gewesen ist. Er richtet sich an keine bestimmte Gruppierung, hat aber doch einen grossen gemeinsamen Nenner: die Angst vor der Cancel Culture. Diese ist nicht nur ein Internetphänomen. Wenn der Internet-Mob eine öffentliche Person (oder eine Institution, eine Lehrkraft, einen Verein, einen Verlag etc.) cancelt, d.h. mit sozialem Ausschluss bedroht und an den Pranger stellt, ist das oft ein Auswuchs elitärer Identitätspolitik. Ursprünglich hing diese mit dem politisch begründeten Empowerment von ethnischen und sexuellen Minderheiten zusammen. Doch inzwischen hat sie sich verselbständigt und mit Hilfe diverser akademischer Diskurse zu einem Denkmuster entwickelt, das in den Bereichen Race und Gender ideologisch und reglementierend auf die Gesellschaft einzuwirken versucht und dabei ganz besonders die Kultur ins Visier nimmt. Dies geschieht jedoch nicht durch eine Debattenkultur, die Bemühung um echten Dialog. Stattdessen baut man sozialen und psychischen Druck auf, häufig mit Hilfe von Shitstorm-Kampagnen, mit Anklagen, Verleumdungen, Drohungen und der Forderung nach Zensur. Eine Zensur - um den Begriff ein bisschen zu schärfen - kann nicht nur von staatlichen Stellen vorgenommen werden, sondern auch von Interessensgruppen. Ausserdem gibt es auch eine Art Selbstzensur des vorauseilenden Gehorsams. Manche beugen sich dem Druck schon zum voraus. Von Zensur muss man das Verbot von Meinungsäusserungen unterscheiden, die gegen das Gesetz verstossen, zum Beispiel in Bezug auf Antisemitismus. Die Meinungsfreiheit ist nicht unbegrenzt; aber diese Grenze wird durch das Gesetz festgelegt und nicht durch den Moralkodex einer bestimmten Lobby, die mit einer Art Selbstjustiz gegen unliebsame Meinungen vorgeht. Mit solchen Methoden verschafft sich der identitätspolitische Aktivismus Geltung im öffentlichen Raum. Dadurch entsteht ein Klima, in dem es schwierig wird, eine freie Sprache zu benutzen oder einen freien Diskurs zu führen. Jeder Dialog wird verunmöglicht, die Polarisierung nimmt zu. In einer identitätspolitisch geprägten Gesellschaft wird jede Objektivität und Logik den Gefühlen, Befindlichkeiten und Selbstzuschreibungen von Minderheiten untergeordnet. Wobei der aggressivste Aktivismus oft gar nicht von den betroffenen Minderheiten selbst ausgeht, sondern von Kreisen, die deren Anwaltschaft übernehmen, um eine ideologische Agenda voranzutreiben.

 

Obwohl Rowling und ihre Mitunterzeichner den Finger auf einen wunden Punkt legen, verhallt der Aufruf weitgehend ungehört. Der Zeitgeist bläst diesen altmodischen Liberalen wie ein Orkan ins Gesicht. Und schuld daran sind nicht nur die sozialen Plattformen, sondern auch die Medien. Auch hier weht seit Jahren ein schärferer Wind. Die Mehrheit der Journalisten praktiziert einen "Haltungsjournalismus", der darauf abzielt, Farbe zu bekennen und Zensuren zu verteilen. In neun von zehn Medienberichten wird Rowling ganz ungeniert als "transphob" hingestellt. Und fast immer fehlt der Verweis auf die Biologie. Man sieht den Elefanten im Raum nicht: aus naturwissenschaftlicher Sicht sind Rowlings Argumente äusserst plausibel, und wer etwas anderes behauptet, müsste in Biologie dringend ein bisschen nachsitzen. Dass es keinen typischen Mann oder keine typische Frau gibt, heisst nicht, dass man beliebig viele Geschlechter "konstruieren" oder die Polarität zwischen Mann und Frau für hinfällig erklären kann. Es heisst lediglich, dass die Biologie eine gewisse Variabilität zulässt, und diese spielt sich vorwiegend oder sogar ausschliesslich innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit ab, weil es letztlich um Fortpflanzung geht. Die Natur schiesst sich nicht selber ab. Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht, Doktorandin an der Berliner Humboldt Universität, erklärt das sehr einleuchtend. Ähnlich argumentiert die Medizin-Nobelpreisträgerin und Biologin Christiane Nüsslein-Volhard: das Gerede über Geschlechtervielfalt sei Unfug. Alles, was mit dem Geschlecht zu tun habe, beziehe sich auf männlich und/oder weiblich. Auch einem Biologie-Dummie und einseitig geisteswissenschaftlich Gebildeten muss klar sein, dass man das Prinzip der biologischen Zweigeschlechtlichkeit nicht aushebeln kann. Auch nicht mit dem Verweis auf Lebensformen, die eine andere Sexualität haben. Wir Menschen sind Primaten, und als solche sind wir zweigeschlechtlich, was auch für die geringe Anzahl (maximal 1.7 %) intersexueller Personen gilt, von denen die meisten trotzdem einem der beiden Geschlechter zugeordnet werden können. Sie sind kein drittes oder viertes Geschlecht, sondern lediglich ein Dazwischen oder Sowohl-als-Auch. Ausnahmen und Unbestimmtheit gibt es, aber sie relativieren das Geschlecht nicht. Ebenso wenig kann man das Geschlecht durch Selbstdeklaration relativieren. Die Möglichkeit, Mann oder Frau zu sein, indem man sich als Mann oder Frau identifiziert, ist eine Doktrin, die von der Gender-Ideologie unermüdlich verkündet wird. Dabei entbehrt der Begriff "Identifikation" jeder Objektivität. Analog zum Spruch "Man ist so alt, wie man sich fühlt" gilt jede Geschlechtsidentifikation als zulässig, bis hin zur Doppelgeschlechtlichkeit oder Geschlechtslosigkeit. Dabei wird der Unterschied zwischen einer ernsthaften existentiellen Befindlichkeit und einer blossen Laune, respektive der Lust an Rollenspielen und Verkleidungen, mutwillig oder sogar bewusst verwischt. Als Richtschnur für die Geschlechtsbestimmung dient ausschliesslich das Bekenntnis. Man hat die freie Wahl. Die "Geschlechtszugehörigkeit à la carte" ist jedoch wissenschaftlich nicht haltbar. Wenn man hundert Jahre nach meinem Tod meine Knochen ausgräbt, kann man immer noch klar bestimmen, ob ich ein Mann oder eine Frau gewesen bin. Meine Identifikation tut nichts zur Sache. Theoretisch könnte ich mich auch als Hund oder Katze identifizieren - solche Fälle sind bekannt - und auf allen Vieren herumgehen. Trotzdem würde mich jeder seriöse Schnelltest sofort als Homo sapiens ausweisen. (Hoffe ich zumindest). Allerdings gibt es in der Biologie auch Standpunkte, die mit der Gender-Ideologie konform gehen. In der Regel handelt es sich dabei um philosophische Fehlschlüsse. Man missdeutet die biologische Variabilität. Meistens kommt das von Biologen, die ihr Fachgebiet, auf dem sie durchaus beschlagen sind, unfachlich interpretieren, d.h. sie interpretieren es eben nicht als Biologen, sondern als Ideologen. Diese Ideologisierung schlägt überall durch, teilweise sogar im Wissenschaftsbereich. Erkenntnisse, die auch nur der Spur nach unangenehm oder kontrovers sind, werden zurechtgebogen oder verdrängt, und nicht selten geschieht dies unter dem Deckmäntelchen von Wissenschaftlichkeit. Populärwissenschaftliche Formate - etwa mai_lab von Funk oder die Sendungen von Harald Lesch - versuchen Gender Studies und Biologie miteinander zu versöhnen, um die Kontroverse zu entschärfen, was allerdings misslingt. Das ist ungefähr so, als wollte man Astrologie und Astronomie miteinander in Übereinstimmung bringen. Das kann unmöglich klappen. Die Gleichsetzung ist schief. Das eine ist Glauben oder Aberglauben, das andere Wissenschaft. Gender Studies sind keine Wissenschaft, sollen aber der Wissenschaft aufoktroyiert oder gleichgestellt werden. Laut Karl Popper gibt es folgende Pseudowissenschaften: Marxismus, Psychoanalyse, Individualpsychologie und Astrologie. Aus heutiger Sicht könnte man dieser Aufzählung noch die Gender Studies hinzufügen - und andere Studienfächer aus der poststrukturalistischen Schule. Grob vereinfacht gesagt erklären diese nicht, was ist, sondern was sein soll. Sie untersuchen nicht eine objektiv erfassbare Realität, sondern postulieren eine Realität, die aus begrifflichen Bauklötzchen besteht. Diese Realität wird als Konstrukt, bzw. als konstruierbar gedacht. Man könnte auch sagen: sie wird herbeiphantasiert. Die Art und Weise, wie hier "Wissenschaft" betrieben wird, ist konstruktivistisch, und das ist insofern brisant, als der Konstruktivismus die Welt nicht empirisch deutet. Wissenschaft hat jedoch immer eine empirische Grundlage. Empirie bedeutet "Erfahrungswissen". Man erfährt die Welt, indem man sie objektiviert. Was mit einem selbst identisch ist, kann man nicht objektivieren und deshalb auch nicht erfahren. Wir müssen uns von der Welt abspalten, uns von ihr distanzieren, um sie erfahren und untersuchen zu können. Man kann unmöglich ein Bild betrachten, indem man die Nase auf die Leinwand drückt. Und so verhält es sich auch mit dem, was die Wissenschaft über die Welt in Erfahrung bringt. Es beruht auf Distanz und Objektivität. Wissenschaftliche Erkenntnisse erarbeitet man mittels Beobachtung, Messung, Experiment und Datenerhebung, egal, ob es sich um Käfer, Kochsalzlösungen, Sterne oder Kontinentalplatten handelt. Natürlich setzt das eine bestimmte Methode, eine bestimmte Denkweise oder Fokussierung voraus, aber die Welt ist darin nicht miteinbegriffen. Die Gegenstände, die der Archäologe ausgräbt, hat er (idealerweise) nicht selber an den Fundstellen deponiert. Subjekt und Objekt sind scharf voneinander getrennt. Oder anders gesagt: was Wissenschaft ausmacht und was ihr zum zweifellos erwiesenen Erfolg verhilft, ist die Tatsache, dass man die Eigengesetzlichkeit der Realität entdecken, beschreiben und interpretieren kann. Die empirische Grundlage finden wir nicht nur in den "harten" naturwissenschaftlichen Fächern, sondern auch in den Geisteswissenschaften. Auch hier befasst man sich mit objektiven Realitäten, die ausserhalb des wissenschaftlichen Diskursfeldes existieren: mit heutigen oder alten Sprachen, deren Strukturen man untersucht, mit Texten und Denkvorgängen, die man erschliesst oder entschlüsselt, mit Regeln des Zusammenlebens, die man juristisch codiert, mit historischen Ereignissen, die man heranzoomt, um sie besser verstehen zu können etc. etc. Mit Ausnahme der Mathematik und Philosophie, die sich aus formallogischen Gründen gerne isolieren und oft in sich selber zirkeln, hat Wissenschaft immer einen objektiven Bezug zur "Welt da draussen". Im Konstruktivismus untersucht man jedoch immer nur die Realität, die man durch die Untersuchung postuliert. Man postuliert, dass die Realität ein Postulat sei, eine diskursive Setzung. Und so beisst sich die Katze in den Schwanz. Konstruktivisten halten die Wirklichkeit für ein Konstrukt, das sich durch Denkvorgaben und Sprachregelungen ändern lässt. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass die Wirklichkeit keine Realität ausserhalb unseres Denkens sei, sondern eine Matrix aus Sprache, moralischen Wertungen, Machtverhältnissen und Bewusstsein. Das lässt sich aber mit vielen triftigen Argumenten bezweifeln. Die Realität ist schon deshalb kein Konstrukt, weil auch Menschen mit unterschiedlichen Sprachen (oder unterschiedlichem kulturellem Background) sich darüber verständigen können, ob ein Sachverhalt wahr oder falsch ist, ob eine Zitrone gelb oder blau ist, und genau das ist der Weg zu einer objektiven Erkenntnis. Weil ich diese Problematik hier nur andeuten kann, verweise ich auf den Philosophen Marcus Gabriel, der die Fehlerhaftigkeit der konstruktivistischen Weltsicht in seinen Büchern aufschlussreich analysiert. Er zeigt, was an der poststrukturalistischen Denkschule faul ist. Unwissenschaftlich sind deren Fächer nicht nur wegen ihrer seltsamen Sprachauffassung und ihres normativ-wertsetzenden Charakters, sondern auch weil sie ausschliesslich interdisziplinär ausgerichtet sind: sie tummeln sich auf echten wissenschaftlichen Feldern und grasen diese ab. Man tut also gut daran, dem Gender-Diskurs zu misstrauen und seinen zunehmenden Einfluss auf die Gesellschaft kritisch zu sehen. Schon die grundsätzlichste Definition des Begriffs kann einem Kopfzerbrechen bereiten, wenn man sie auf die Präzisionswaage legt.

"Als Gender, soziales Geschlecht oder Geschlechtlichkeit werden Geschlechtsaspekte zusammengefasst, die eine Person in Gesellschaft und Kultur in Abgrenzung zu ihrem rein biologischen Geschlecht beschreiben." (Wikipedia)

Das häufig vorgebrachte Argument, Gender betreffe nur das nicht-biologische oder soziale Geschlecht, also die Geschlechterrolle in Gesellschaft und Kultur, klingt zwar schlüssig, beruht aber auf einer fragwürdigen Prämisse. Der Philosoph Slavoj Zizek bringt das elegant auf den Punkt: "Die Natur ist alles, was es gibt, so dass die Kultur letztlich ein Teil der Natur ist." Der Einwand ist leicht zu verstehen. Im Gender-Mainstreaming geht man notgedrungen von einem biologischen und einem sozialen Geschlecht aus, weil man die Biologie nicht wegerklären kann. Man würde sie gerne über Bord werfen, schafft es aber nicht. Die Realität hat eben ein massives Eigengewicht. Die Biologie funkt überall drein. (Wie unverschämt!) In der Theorie lässt sich das leicht kaschieren, aber in der Praxis (im echten Leben) funktioniert das nicht so gut. Hier Kultur und dort Biologie: das ist eine Illusion. Im Beischlaf praktizieren wir Biologie und im Paartanz Kultur. Kann man das wirklich so sagen? In beiden Fällen spielen dieselben Hormone mit, interagieren zwei Körper miteinander. Die Biologie ist überall dabei. Die Kultur dann schon weniger. Allzu schnell kann es passieren, dass das Kulturbewusstsein in die Hose wandert und sich unter dem Andrang der Triebe verflüchtigt. Die Biologie hingegen mischt überall mit, sogar in unsern technischen Geräten, die in Form von Hebeln, Schaltern, Tastaturen, Bildschirmen und Displays mit unserer Biologie, respektive unserem Wahrnehmungsapparat und unserer Anatomie kompatibel sein müssen. Und was wäre ein Stuhl, wenn der Mensch keinen Hintern hätte? So nehmen wir Kultur und Biologie üblicherweise wahr: ihre Unterschiede, ihr Zusammenspiel. Und hier setzt die Gender-Theorie ihren Korrekturstift an. Nein, sagt sie uns, ihr täuscht euch. Es ist alles ganz anders. In den Grundlagentexten der Gender-Theorie hat die Kultur den absoluten Vorrang, und die Biologie wird ihrer eigenständigen Realität beraubt und zum Diskursobjekt degradiert. Real ist nur, was man aus der Biologie macht, nicht, was sie ist. Und so verwandelt sich die ganze Natur in eine Schimäre. In ihrem einflussreichen Hauptwerk "Gender Trouble" ("Das Unbehagen der Geschlechter") aus dem Jahr 1990 schreibt Judith Butler den biologischen Anteil des Menschen einem "anatomischen Geschlecht" zu, das sie als diskursgebunden definiert. Sie weiss zwar, dass die biologische Sphäre real ist, (auch Butler besteht nicht nur aus Geist, sie muss essen, aufs Klo gehen, schlafen etc.) aber ihre ganze Argumentation zielt darauf ab, diese Realität als immer schon vermittelt darzustellen, als reine Definitionssache, als geistiges Konstrukt. Es gebe "keinen Rückgriff auf den Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert" sei, schreibt sie. Dabei lehnt sie sich eng an Foucault an, der die Wissenschaft und mit ihr auch unser Wissen über Biologie als Machtdiskurs deutet. Nach Foucault gibt es keine neutrale oder objektive Wissenschaft. In seiner Studie "Les mots et les choses" ("Die Ordnung der Dinge") aus dem Jahr 1966 fordert er einen neuen mündigen Menschen, der die Welt und sich selbst vom Podest der objektiven Wahrheit herunterholen soll. Damit möchte Foucault die Aufklärung beenden - und die empirische Wissenschaft über Bord werfen. An ihre Stelle soll ein kritisches Verständnis unserer selbst als das Konstrukt sozialer und historischer Einflüsse treten. Um sich neu konstruieren zu können, soll der Mensch erkennen, dass er ein Selbstkonstrukt ist. Indirekt (und vielleicht auch direkt) behauptet Foucault, dass es ausserhalb unseres kulturellen und diskursiven Selbstverständnisses nichts gibt, das uns definiert. Wir definieren uns selbst. Diesen Gedanken spinnt Butler weiter. Jede Definition des "Natürlichen" (Was ist ein Mann? Was ist eine Frau?) sei relativ, sie hänge an einem "Dispositiv" (Foucault), einem Netzwerk der Wahrheitsvermittlung, das Machtverhältnisse legitimiere und reproduziere, behauptet Butler im Einklang mit ihrem Lehrmeister Foucault. Man kann das behaupten, gänzlich falsch ist es nicht, muss aber mit heftigem Gegenwind rechnen, wenn man diese Position gegen die Naturwissenschaft in Anschlag bringt, insbesondere gegen die Evolutionsbiologie und Medizin. Objektive Erkenntnisse über das Menschsein sind sehr wohl möglich. Und mehr noch: sie zu ignorieren, kann gefährlich sein. Es ist nicht kulturabhängig, dass wir atmen, essen, Kalzium und Eiweiss für die Knochenbildung benötigen, in bestimmten Situationen Adrenalin ausschütten etc.  Es ist auch nicht kulturabhängig, dass wir über eine breite Palette tierischer Instinkte verfügen und wie Papageien oder Affen dem Prinzip der sexuellen Selektion folgen. Die Verhaltensbiologie macht keinen Hehl daraus, dass wir unsern tierischen Verwandten in vielen Belangen (wenn auch nicht in allen) beschämend ähnlich sind. Diese Verwandtschaft ist kein kulturelles Konstrukt. Sie ist eine empirische Tatsache. Anders als Butler behauptet, ist die Biologie nicht immer und überall "durch kulturelle Bedeutungen interpretiert". Da die Natur definitionsgemäss alles umfasst, was existiert, muss sie auch ausserhalb unserer Vorstellungen und Deutungen existieren. Davon müssen wir auch deshalb ausgehen, weil sonst jede Wissenschaft sinnlos und vor allem wirkungslos wäre. Betätige ich einen Lichtschalter, bekomme ich Licht. Der Grund dafür ist die Physik, die ein objektives Naturgesetz erkennen und nutzbar machen kann. Empirie und Logik verhelfen uns zu einer universalen Objektivität, die eben nicht kulturabhängig ist. Darauf beruht unser Weltwissen - und letztlich auch die Biologie. Sie ist eine eigenmächtige und eigengesetzliche Realität. Was die Kultur eben nicht ist. Eine Kultur ohne Biologie ist nicht denkbar, weil wir Lebewesen sind und keine virtuellen Avatare. Darin liegt der fundamentale Irrtum der Gender-Theorie. Dass man die Objektivität der menschlichen Natur in Frage stellt, ist im postmodernen Diskurs tief verankert - und resultiert teilweise aus leidvollen Erfahrungen. Fortschrittsgläubigkeit und Positivismus haben sich im 19. Jahrhundert zu einem alles beherrschenden Denksystem entwickelt, das im 20. Jahrhundert unheilvolle totalitäre Bewegungen legitimiert und mitgetragen hat. Ausserdem lieferte es die Plauspause für Kolonialismus, Konsumwahn, kapitalistische Effizienzsteigerung, Naturausbeutung und die Disziplinierung von Menschen, die nicht in die Norm passten. Vor diesem Hintergrund haben postmoderne Denker wie Foucault ihre Kritik am Absolutheitsanspruch moderner Rationalität vorgetragen. Und aus dieser Kritik ist eine konstruktivistische Denkschule entstanden, die sich in den letzten vierzig Jahren fortlaufend radikalisiert hat und immer stärker dazu neigt, den Bogen zu überspannen. In den USA gibt es bereits pädagogische Bemühungen, Mathematik als kulturabhängig zu definieren und simple Rechenoperationen wie 1 + 1 = 2 als diskussionswürdig hinzustellen. Selbstverständlich gibt es Kulturen, in denen anders gerechnet wird. Oder die ein gänzlich anderes Zahlenverständnis haben. Aborigines zum Beispiel kennen nur sehr wenige Zahlenwörter, einer von vielen Gründen, weshalb sie in der Schule - und natürlich auch im späteren Berufsleben - so schlecht abschneiden. Doch das Problem geht weit über kulturelle Unterschiede hinaus. Diskriminiert die einseitige Falsch-oder-Richtig-Logik nicht grundsätzlich Menschen, die schwach in Mathe sind? Ist Matheschwäche nicht eine Sonderbegabung? Eine Art Machtresistenz? Die Fähigkeit, ausserhalb der alles beherrschenden, weissen, eurozentristischen, heteronormativen logischen Binarität zu denken? Wenn alles Wissen und jede Logik von Machtverhältnissen oder kulturellen Gepflogenheit abhängt: wieso sollte man solche Fragen nicht stellen dürfen? Weshalb sollte man Mathematik nicht abschaffen dürfen? Im Namen der Gleichberechtigung, der Antidiskriminierung? Das ist übrigens keine Satire: es ist bittere Realität. Wir erleben solche Nonsens-Diskussionen auch bei uns. Es ist die ins Absurde getriebene Konsequenz aus Foucaults Denken. Seine Kritik an wissenschaftlicher Objektivität richtet sich zwar gegen die Zurichtung und Normierung von Menschen, hat jedoch einen ziemlich rückschrittlichen Impact. Ohne diese Objektivität würden wir nämlich ins Frühmittelalter zurückfallen. Wir müssten uns von der Covid19-Impfung, vom Penicillin, von unsern Smartphones und Mondraketen verabschieden und würden über kurz oder lang wieder an eine Welt voller Hexen und Kobolde glauben. Würden wir damit den humanistischen Zielen der Aufklärung gerecht werden? Die Frage sei erlaubt. Sogar in den erlauchtesten akademischen Diskursen erodieren aufklärerische Ideale bedenklich vor sich hin. Anscheinend sägen da gewisse Leute am Ast, auf dem sie sitzen. Ohne den wissenschaftlichen Weltzugang hätte Foucault am Collège de France keinen Lehrstuhl innehaben und behaupten können, Wissen sei lediglich eine Machtfrage, Objektivität ein Vorwand, um Kontrolle auszuüben. Legt man an Butlers Thesen echte wissenschaftliche Maßstäbe an, bleibt einem nichts anderes übrig, als die Gender-Logik vom Kopf auf die Füsse zu stellen. Es gibt buchstäblich nichts Kulturelles oder Soziales, das nicht auf irgendeine Weise mit unserem Körper oder unserer Biologie korrespondiert. Das Primäre ist nicht die Kultur, die sich wie ein Fähnlein im Wind verhält und unzählige Ausformungen kennt, sondern das, was an uns über Jahrmillionen hinweg entstanden ist. Wenn wir mit der Welt und anderen Menschen in Kontakt treten und interagieren, stecken wir in einem Körper, der evolutionären Gesetzen gehorcht, und wir nehmen die Welt und andere Menschen mit Sinnesorganen wahr, die nach diesen Gesetzen geformt und ausdifferenziert worden sind. Und das Gleiche gilt auch für unser Denken und seinen Zugriff auf Wissen, Realität, Wahrheit, Bewusstsein und Bedeutung. Der Mensch ist kein "Gehirn im Tank", er hat einen Körper, der unter spezifischen Umwelteinflüssen entstanden ist und mit diesen in Verbindung bleibt. 

  

Gender oder Biologie. Vermutlich die grösste Streitfrage unserer Zeit. Wer hat recht? Charles Darwin oder Judith Butler? J.K. Rowling oder Daniel Radcliff? Es ist nicht nur ein Streit zwischen Darwinisten und Kulturalisten. Es ist auch ein Streit zwischen Humanisten und Transhumanisten. Haben die Humanisten recht, die die Natur als Fundament unserer Existenz begreifen? Die mit Botticelli der weiblichen Fruchtbarkeit huldigen und mit Leonardo da Vinci, Spinoza und Goethe die Natur als Lehrmeisterin verehren, als Mass aller Dinge? Oder haben die Transhumanisten recht, die zusammen mit Descartes, Nietzsche, Foucault, Butler und Google-Gründer Larry Page den Menschen als ein Wesen definieren, das seine naturbedingten Grenzen überschreiten kann und sogar überschreiten muss? Dessen selbstgewählte Bestimmung es ist, sich endgültig von der Natur zu emanzipieren? Eine grossartige Utopie. Aber ist sie realistisch? Meine persönliche Antwort lautet: nein. Das haben Utopien ja so an sich: sie sind nicht realistisch. Setzt man sich über diese Einsicht hinweg, indem man, wie das in letzter Zeit leider häufig geschieht, die Existenz einer objektiven oder naturgegebenen Realität bestreitet und alles Denkbare für machbar hält, wird es heikel. Eine Utopie, die Wirklichkeit werden soll, verwandelt sich allzu schnell in einen dystopischen Alptraum. Gewiss hat die Kultur - kein Darwinist würde das bestreiten - einen beträchtlichen Einfluss. Es ist nicht alles naturbedingt. Das menschliche Gehirn hat eine angeborene Plastizität, eine einzigartige Lernfähigkeit. Und dennoch kann der Mensch nie gegen seine Biologie modelliert werden. Die Biologie setzt ihm klare Schranken. Und auch seine Lernfähigkeit ist letztlich ein biologischer Faktor. Versuchen wir diesen Streit mal von oben oder aussen zu betrachten, aus der Perspektive eines Schiedsrichters. Irgendwie haben beide Parteien recht, wenn auch der Spielstand nicht ganz ausgeglichen ist. Obwohl vieles dafür spricht, dass die Gender-Theorie keine besonders fundierte Anthropologie betreibt, dreht sich dieser Streit auch darum, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Und ja, das macht sehr wohl einen Unterschied. Es sind unterschiedliche Perspektiven. Wie soll man damit umgehen? Das Problem liegt nicht darin, dass die Menschen unterschiedliche Ansichten oder Erfahrungswerte vertreten, fehlende Einhelligkeit erweitert den Horizont, und es ist sicher nicht von Übel, wenn gestritten wird. Laut der Soziologin Eva Illouz sind Distanz, Fremdheit und Widerstreit die Grundlagen einer liberalen, erkenntnisoffenen Gesellschaft. Emotionale Nähe ist etwas für Familien und Vereine, nicht aber für die Gesellschaft als Ganzes. Dort muss Ungleiches oder sogar Feindliches nebeneinander Platz haben. Und dazu braucht es Distanz. Man kann auf seine Gegner keine Pfeile abschiessen, wenn es an Distanz fehlt. Und mit Distanz ist hier vor allem emotionale Distanz gemeint. Emotionale Nähe kann kein Forum für eine produktive Auseinandersetzung mit Differenzen sein, weil man diese einebnet oder ausschliesst, wenn man sich zu nahe steht oder Nähe zu erzwingen versucht. In diesem Punkt ähneln sich Rechtspopulisten und Linksprogressive inzwischen frappant. In beiden Lagern gibt es einen verbreiteten Meinungsopportunismus, der auf emotionale Nähe setzt und eine Art Gleichschaltung betreibt. Ungleiches wird von vornherein ausgeschlossen und als nicht diskutabel angesehen. Dem widerspricht eine Politik der Differenzen, der Kritikfähigkeit und der Konfrontation. In ihrem Buch "Undemokratische Emotionen" schreibt Eva Illouz: "Dieses Verständnis des Politischen gehört zu unserer Tradition seit Aristoteles, Nietzsche und Arendt, die Politik allesamt als polemos verstanden und eine Vorstellung der Gesellschaft als Schauplatz von Konflikten oder gar Kriegsschauplatz hegten." Diese Auffassung mag vielleicht etwas unpopulär sein, weil es ja bekanntlich nicht an Konflikten fehlt. Was aber fehlt, ist die Einsicht in das, was Konflikte eigentlich aussagen: dass etwas in Bewegung ist, dass Meinungen aufeinanderprallen. In einer Diktatur geschieht das nicht. In einer Diktatur sind sämtliche Differenzen bereinigt. Da haben wir eine geistige Landschaft, in der alles sterilisiert und gleichgerichtet ist, in der nichts mehr gedeiht ausser einer Art Monokultur. Streit kann fruchtbar sein, ganz im Sinne von Heraklit, der den Streit (polemos) als "den Vater aller Dinge" bezeichnet hat. Es gibt nichts Geistiges ohne Konflikte, keine Erkenntnis ohne Krise, keine Geburt ohne Schmerzen, keine Bewegung ohne Abrieb, keine Wahrheit ohne Irrtum oder Lüge. Eine liberale Gesellschaft funktioniert nicht ohne Streit, und es ist nicht der Streit an und für sich, was die Grundfesten unserer Liberalität erschüttert. Schädlich ist nicht die Meinungsverschiedenheit, sondern der Versuch, durch moralische Emotionalisierung (Entrüstung, Zurechtweisung, Cancelling etc.) den Gegner von vornherein zu disqualifizieren, d.h. vom Schlachtfeld und aus jedem Streitdiskurs zu verbannen. Und genau das beobachten wir momentan im Konflikt um die Transgender-Thematik: eine ziemlich lautstarke und wirkmächtige Fraktion versucht die Gesellschaft mit emotional geschürten Diskriminierungsängsten und einem verqueren Dogma zu indoktrinieren und jede Gegenstimme auszuschalten. Die Leidtragenden sind vor allem Leute aus dem Wissenschaftsbereich, Leute, die einem offenen Wissensdiskurs verpflichtet sind. Als die Biologin Marie-Luise Vollbrecht einen öffentlichen Vortrag zum Thema "Zweigeschlechtlichkeit" halten wollte, wurde der Anlass wegen Sicherheitsbedenken abgesagt. Linke Jurastudenten hatten Proteste angekündigt. Das Problem bei solchen Protesten besteht nicht nur darin, dass die Protestierenden ihre Argumentationsschwäche mit Aktivismus und Lautstärke kompensieren. Das eigentliche Problem ist der Dogmatismus, der hier verfochten wird. Dogmen sind nicht diskutierbar, und mit Dogmatikern zu diskutieren, ähnelt dem aussichtslosen Versuch, eine leere Senftube auszudrücken.

 

Solche Proteste sind eindeutig ideologisch fundiert, sie definieren einen Verhaltenskodex, eine Haltung und Moral, und man schmückt sich damit wie mit einem Tatoo, das einen bestimmten Status anzeigt. Die moralische Distinktion wird zum Statussymbol, das immer auch den erhobenen Zeigefinger mittransportiert: ein typisches Oberklassen-Phänomen. Damit wären wir wieder bei J.K. Rowling und den sehr weitreichenden Reaktionen auf ihre "Transfeindlichkeit". 2020 springt auch Warner Bros., das Studio, das die Harry-Potter-Filme produziert hat, auf die Regenbogen-Welle auf: ungeachtet der Tatsache, dass man mit den Filmadaptionen Milliarden verdient hat. In einer Erklärung gegenüber dem Magazin Variety wendet sich das Unternehmen von Rowling ab. Allerdings ohne sie dabei zu nennen. Das Unternehmen bekennt sich zu Diversität, Toleranz und Inklusion. Dass diese Toleranz dort ihre Grenzen hat, wo jemand nicht richtige Meinung äussert, bleibt wie immer bei solchen Bekenntnissen unausgesprochen. Rowling hält das nicht davon ab, die Dogmen der Transgender-Bewegung weiterhin öffentlich zu kritisieren. Dazu gehört vor allem das Thema Geschlechtsumwandlung bei Jugendlichen. Rowling likt einen Tweet, der Hormontherapien bei Jugendlichen als problematisch darstellt. Später erläutert sie in einem langen Twitter-Beitrag ihren Standpunkt: "Viele Gesundheitsexperten sind besorgt darüber, dass junge Menschen mit psychischen Problemen zu Hormonen und Operationen gedrängt werden, obwohl dies möglicherweise nicht in ihrem besten Interesse ist." 

 

Im gleichen Jahr veröffentlicht Rowling unter dem Pseudonym "Robert Galbraith" den Krimi "Troubled Blood" ("Böses Blut"). Als ob der Titel eine Ankündigung oder ein Omen wäre, gibt es sofort böses Blut. Zum einen hat das mit dem Pseudonym zu tun, zum andern mit einer zwielichtigen männlichen Romanfigur in Frauenkleidern. Das Pseudonym "Robert Galbraith" erklärt Rowling mit einer harmlosen Kindheitsanekdote: sie habe den Vornamen ihres politischen Idols Robert Kennedy mit ihrem Kindheits-Fantasienamen "Ella Galbraith" kombiniert. Dabei unterschlägt sie, dass Robert Galbraith eine reale Person ist, die man mit ein paar Klicks googeln kann. Er ist ein Psychiater gewesen, der von 1915 bis 1999 gelebt hat und als Pionier der Konversationstherapie gilt. Diese besteht darin, dass man Homosexualität als Krankheit behandelt und "heilt". Es ist schwer vorstellbar, dass Rowling, wie ihr prompt unterstellt wird, Homosexualität für eine Krankheit hält. Diese Auffassung ist wissenschaftlich überholt. Und im Streit um Transgender-Identität gibt es keine einzige Aussage von Rowling, die man als unwissenschaftlich einstufen könnte. Unwissenschaftlich argumentiert eher die Gegenseite, die bestreitet, dass das Geschlecht eine biologische Kategorie sei, und man kann davon ausgehen, dass Rowling ganz genau weiss, dass die Naturwissenschaft Homosexualität als natürlich einstuft. Oder besser gesagt: als natürliche Abweichung. Möglicherweise hat sich Rowling mit dem versteckten Hinweis auf die Konversationtstherapie einen maliziösen Scherz erlaubt, um ihren Kritikern eins auszuwischen. Anspielungsreiche Namen und Wortschöpfungen findet man in ihrem Werk zuhauf, und man darf nie vergessen, dass Rowling einen bitterbösen Humor hat. (Und nebenbei gesagt auch sehr viel Phantasie). Die Hauptkritik bezieht sich jedoch auf die Figur namens Dennis Creed, einen Serienmörder, der Frauenkleider und Schmuck trägt. Rowling stellt seinen Transvestismus als psychische Störung dar, was ihr den Vorwurf einträgt, sie würde mit Vorurteilen spielen. Besonders nervt die Kritiker, dass Dennis Creed die weibliche Verkleidung dazu benutzt, um Frauen zu bespannen und seine Opfer in Sicherheit zu wiegen. Der Verdacht liegt nahe, dass Rowling absichtlich einen abstossend bösen Transvestiten auftreten lässt, um sich für den anhaltenden Shitstorm der Transgender-Community zu rächen. In der Tat deutet alles auf eine gezielte Provokation hin. Rowling schlägt mit harten Bandagen zurück, und sie tut es auf ihrem ureigensten Gebiet: als Schriftstellerin und mit Hilfe einer Story, die durchaus ein paar reisserische Elemente enthält. Die Reaktionen werden immer heftiger. Auf Tiktok etabliert sich der Trend, Harry-Potter-Bücher zu verbrennen, und auf Twitter kursiert der Hashtag #RIPRowling (Ruhe in Frieden Rowling), mit dem die Autorin symbolisch beerdigt oder voodooartig für tot erklärt wird. Gleichzeitig deaktiviert Amazon die Kritik-Funktion zum Buch wegen "ungewöhnlicher Bewegungen", und auf der Rangliste der "unbeliebtesten Briten und Britinnen" überholt Rowling sogar Margaret Thatcher. (Das will etwas heissen). Trotz alledem geniesst Rowling nach wie vor grosse Sympathien. Vielleicht weil sie im Sturm, den sie entfacht hat, so ruhig und souverän bleibt. Und weil die Gegenseite diese Ruhe und Souveränität allzu oft vermissen lässt. Und viele Leute haben von der überbordenden politischen Korrektheit schlicht die Nase voll und halten Rowling für eine mutige Frau, die zu ihrer Meinung steht. Ausserdem handelt es sich bei "Troubled Blood" um eine Fiktion. Der inquisitorische Eifer, mit dem hier Literatur kritisiert wird, geht vielen zu weit. Der Tagesanzeiger räumt zwar ein, dass Dennis Creed eine problematische Figur sei, erkennt aber, dass man das Kind mit dem Bad ausschüttet. "Literatur ist kein moralisches Wunschkonzert. Wer nur noch moralisch unbedenkliche Figuren zulassen will, kann Literatur gleich ganz abschaffen." 

 

Seit ungefähr fünf Jahren läuft gegen die erfolgreichste Schriftstellerin der Welt eine moderne Hexenjagd, und das Opfer ist alles andere als wehrlos. Es kann tatsächlich hexen: nämlich mit Intelligenz, Witz, Willensstärke und gesundem Menschenverstand. Und manchmal auch mit Bosheit. Und im Unterschied zu vielen andern Cancel-Opfern ist Rowling nicht auf die Gunst eines Arbeitgebers oder einer bestimmten Klientel angewiesen. Sie kann nirgends entlassen werden, und Boykottaufrufe gehen bei ihr ins Leere. Geld hat sie mehr als genug. Sie hat das Rennen gemacht, hat ausgesorgt - und kann ihren Kritikern getrost eine lange Nase drehen. Es ist eine Pattsituation. Zum einen zeigt sich Rowling unnachgiebig. Zum andern führen ihre Gegner (und vor allem Gegnerinnen) einen ideologischen Kampf mit allen Mitteln und beissen sich an Rowling fest, die sich mit ihrem Engagement gegen den Transaktivismus immer häufiger in das politische Geschehen einmischt. Im Jahr 2022 kritisiert sie zusammen mit Frauenrechtlerinnen und Juristen das Schottische Selbstbestimmungsgesetz, das vorsieht, dass Menschen ihr Geschlecht künftig mit einer Selbsterklärung und ohne ein medizinisches Gutachen ändern können. Viele, die von Rowling enttäuscht sind, fragen sich entgeistert, weshalb diese Frau, die vor wenigen Jahren noch eine aufrichtige Linksliberale gewesen ist, jetzt plötzlich für eine konservative Sache streitet, Seite an Seite mit Torys und Rechtspopulisten. Nun, die Antwort ist relativ einfach: Rowling ist Feministin. Und die linksprogressive Gender-Ideologie, in deren Raster die Queer-Bewegung ihren politischen Aktivismus entfaltet, ist in letzter Konsequenz frauenfeindlich und antifeministisch. Der Konflikt um Rowling markiert eine Spaltung innerhalb des Lagers, von dem sie sich lange Zeit hofieren liess. Der neue Gender-Feminismus (Queer-Feminismus) hat den herkömmlichen Feminismus abgestossen und zum Feind erklärt. Für diesen Feind gibt es sogar ein Schimpfwort: mit dem abschätzigen Begriff TERF (Trans-Exclusionary Radikal Feminism) verunglimpfen Queer-Feministinnen und Transaktivisten den eher traditionellen Feminismus, der die Transidentität in Frage stellt, um die biologischen Gegebenheiten von Weiblichkeit nicht verleugnen zu müssen. Ursprünglich ging das noch zusammen, und davon hat Rowling massgeblich profitiert. Dadurch, dass sie sich immer wieder kritisch zu Rassismus, Sexismus und Rechtspopulismus geäussert hat, wurde sie zum Liebling der Linksprogressiven, in deren Fahrwasser sie schon dadurch schwamm, dass sie die richtigen Bücher schrieb. In ihrer Masterarbeit aus dem Jahr 2012 bescheinigt Rebecca Wismeg Rowlings Büchern "eine politische und soziale Dimension". Die Geschichte von Harry Potter stehe "im Horizont einer Wertedebatte". Mit der richtigen Brille konnte man in die Phantasiewelt von Hogwarts ohne weiteres eine hochgesinnte Moral hineinprojizieren, die Selbstermächtigung von Schwachen und Randständigen, Werte wie Toleranz, Inklusion und Offenheit. Und immer wieder wurde Rowling für ihre starken Mädchen- und Frauenfiguren gelobt. Aus feministischer Sicht war an ihren Büchern wenig auszusetzen, und das betraf auch den männlichen Hauptprotagonisten. Harry Potter ist ein Junge, der sich durchkämpft und Tapferkeit beweist, und trotzdem kann man ihm weibliche Tugenden attestieren. Sein Handeln entspricht nicht der stereotypen Männlichkeit, die man mit Heldentum assoziiert. Bei der Lösung seiner Aufgaben setzt er auf Wissen, Freundschaft und Zusammenhalt - und weniger auf Körperkraft oder einen egoistischen Alleingang. Rowling schien alles richtig zu machen. In den Augen ihrer Fans wie auch einer breiten Öffentlichkeit war sie die perfekte Feministin. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Rowling, die lange Zeit als starke Frau bewundert wurde, nun genau für diese Stärke millionenfach verflucht wird, und dass die gleichen Leute, die bei jeder Gelegenheit betonen, wie wichtig es für eine Frau sei, Einschüchterungen zu trotzen, sich nicht unterkriegen zu lassen und einen eigenen Kopf zu haben, nun auf einmal alles daran setzen, Rowlings Willensstärke als krankhaft ("transphob") hinzustellen und ihre feministische Grundüberzeugung als falsch und radikalistisch ("TERF") zu brandmarken. Allerdings ist Rowling an dieser Wandlung nicht ganz unschuldig. Bei Themen, die auf einer politisch korrekten Agenda stehen, hat sie sich sehr weit zum Fenster rausgelehnt, und ihre Fans und Bewunderer haben es ihr gedankt und sie dafür geliebt. Und letztlich ist sie genau deswegen in Ungnade gefallen: weil sie Erwartungen aufgebaut hat, denen sie auf Dauer nicht genügen konnte. Über Jahre hinweg hat sie eine ideologische Bubble bedient, die heute über sie herfällt, weil sie in deren Augen zur Verräterin geworden ist. Auch hier bestätigt sich wieder einmal das Chapman-Gesetz (benannt nach dem Mörder von John Lennon): die schlimmsten Feinde eines Stars sind seine Fans. 

 

Harry Potter hat die Massen verzaubert und einen gigantischen Markt erobert. Allein in Deutschland verkauften sich über 33 Millionen Bücher, und die Filme spielten einen globalen Umsatz von 7.7 Milliarden US-Dollar ein. Die Marke "Harry Potter" ist eine der stärksten der Welt. Experten schätzen ihren Wert auf 15 Milliarden US-Dollar. Darin enthalten sind Franchise-Produkte, Erlebniswelten und vor allem auch Games. Mit einem Vermögen, das die Sunday Times auf 770 Millionen Euro schätzt, ist J.K. Rowling die reichste Schriftstellerin der Welt. Jährlich verdient sie zwischen 50 und 100 Millionen Dollar. Was an ihrem Erfolg besonders fasziniert, ist der sagenhafte Aufstieg, der völlig unerwartet einsetzte, nachdem das erste Manuskript von diversen Verlagen abgelehnt worden war. Das erste Buch schrieb sie als arbeitslose, alleinerziehende Mutter, die von Sozialhilfe lebte. Keine zehn Jahre später war sie mehrfache Millionärin, verwaltete ein gigantisches Imperium und war unter Kindern und Jugendlichen bekannter und beliebter als Walt Disney. Niemand hätte es ihr übelgenommen, wenn sie sich bei ihren Aktivitäten auf das Harry-Potter-Universum beschränkt hätte. Stattdessen nutzte sie ihren Status für die "gute Sache", und wenn ich diese Sache in Anführungszeichen setze, dann nicht weil ich das Gute daran in Zweifel ziehe. Ich möchte nur hervorheben, dass die "gute Sache" für Leute mit viel Geld auch wirkungsvolle Publicity sein kann. Was mutigen Altruismus natürlich nicht ausschliesst. Ihre einfache Herkunft und die moralische Appellationskraft ihrer Bücher verliehen Rowling eine hohe Glaubwürdigkeit. Wie die Helden und Heldinnen ihrer Bücher zeigte sie sich kämpferisch und engagiert. Sie gründete zwei gemeinnützige Organisationen, die bis heute aktiv sind. Die eine verschreibt sich dem Kampf gegen soziale Ausgrenzung, die andere der Erforschung von Multiple-Sklerose. Für Wohlätigkeitszwecke schrieb sie ein Märchenbuch und ein Harry-Potter-Sequel. Tu Gutes und sprich darüber! Weil sie grosse Teile ihres Vermögens für wohltätige Spenden abzweigte, schaffte sie es nicht in die Liga der reichsten Menschen und wurde von der Forbes-Millionärsliste gestrichen. Durch Vorträge, Zeitungsartikel und über Twitter blieb sie in der Öffentlichkeit präsent und beteiligte sich rege an politischen Debatten. 2008 hielt sie eine flammende Rede vor Absolventen der Ivy League und forderte sie dazu auf, sich "im Namen derer einzusetzen, die keine Stimme haben." Zwei Jahre später schrieb sie in der Times ein Plädoyer auf den Sozialstaat. Auf ihn habe sie sich am Tiefpunkt ihres Lebens verlassen können, und deshalb zahle sie auch gern Steuern. Ihre Voten waren meist linksliberal bis progressiv. Während der Flüchtlingskrise plädierte sie für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen in Grossbritannien, und während des US-Wahlkampfes im Jahr 2016 warb sie für Hillary Clinton. Auf den Brexit reagierte sie mit Bestürzung. Und als sich Donald Trump auf Twitter immer häufiger zu Wort meldete, fand er in Rowling eine schlagfertige Gegenspielerin. Bei jeder Gelegenheit zog sie seine Prahlsucht durch den Kakao. Sie nannte ihn ein "riesiges oranges Twitter-Ei" und widersprach, als ihn jemand mit dem Harry-Potter-Bösewicht Lord Voldemort verglich: Voldemort sei nicht annähernd so böse wie Donald Trump. Der Applaus war Rowling sicher. Für viele war sie eine Galionsfigur, eine human denkende Feministin mit progressiven Ansichten. Das hatte schon 2008 angefangen, als das Times Magazine Rowling zur Frau des Jahres kürte mit der Begründung, sie habe eine Literatur geschaffen, durch "die Millionen von Kindern klüger, sensibler, ganz bestimmt aber lesefähiger.. gebildeter, wahrscheinlich auch ethisch denkender und gegenüber Heuchelei und Machtgier kritischer geworden" seien. Die politische Tonlage war unüberhörbar. Als im Jahr 2016 das Theaterstück "Harry Potter and the Cursed Child" uraufgeführt wurde, sprach sich Rowling für eine dunkelhäutige Hermine aus, allerdings mit einer Argumentation, die Fragen aufwarf. Emma Watson, die in den Harry-Potter-Filmen die Hermine Granger spielt, ist weiss, während die erwachsene Hermine in der Theater-Fortsetzung von der schwarzen Noma Dumezweni gespielt wurde. Nun gab es Zuschauer, die sich an der Hautfarbe der Darstellerin störten. War das schon rassistisch oder lediglich die Aufregung darüber, dass eine wichtige Figur aus den Filmen und Büchern nicht originalgetreu adaptiert worden war? Hätte man in dem Theaterstück einen Ron Weasley auftreten lassen, der nicht rothaarig ist, wäre vermutlich dieselbe Aufregung entstanden. Jedenfalls war die Autorin sofort zur Stelle, um den Kritikern eine höchstinstanzliche Rüge zu erteilen. Gegenüber dem Guardian sprach sie von einem "Haufen Rassisten" und machte unmissverständlich klar, dass sie Dumezweni für die beste Besetzung für die Rolle hielt. Und mehr noch: in den Büchern sei keineswegs von einem weissen Mädchen die Rede. Rowling verwies auf eine Textstelle, in der es heisst, Hermine habe braune Augen, krause Haare und sei sehr klug. Gemäss dieser Beschreibung könne sie auch eine Schwarze sein. Allerdings ist das nicht die einzige Textstelle, die Auskunft über Hermines Aussehen gibt. Der Verweis auf die Bücher hinkt. An anderer Stelle finden wir nämlich den Satz: "Hermione's white face was sticking out from behind a tree". Rowling kannte anscheinend ihre eigenen Bücher nicht gut genug. Beim Schreiben hatte sie sehr wohl an ein weisses Mädchen gedacht. Ihre Rüge beruhte auf einem Irrtum oder sogar einer Lüge und wirkte wie ein Kniefall vor dem politisch korrekten Zeitgeist. Damit begab sie sich auf einen Pfad, der keine Abweichung mehr zuliess. Selbstverständlich spricht nichts dagegen, die Rolle der Hermine mit einer dunkelhäutigen Schauspielerin zu besetzen, aber die Begründung, weshalb man hier von den Filmen und Büchern abweichen darf, müsste viel prinzipieller sein. Anstatt in einer merkwürdigen Rückwärtsvolte die Bücher umzudeuten, wäre es naheliegender und vernünftiger gewesen, auf die künstlerische Freiheit oder die Irrelevanz von Hautfarben hinzuweisen. Stattdessen bemühte sich Rowling, dem von Multikulturalismus, Diversität, Inklusion und Gleichberechtigung beflügelten Publikum die Idee schmackhaft zu machen, dass die Hermine der Buchvorlage auch als Schwarze "gelesen" werden könne. Was aber nicht zutrifft. Rowling blieb gar nichts anderes übrig, wollte sie ihren Ruf nicht beschädigen. Schon damals hatte sie es mit einer Öffentlichkeit zu tun, die durch den Einfluss von "Critical Whitness", Identitätspolitik und aktivistischer Propaganda hypersensibel auf die "falsche Haltung" reagierte. Diese Öffentlichkeit hätte es wahrscheinlich nicht toleriert, wenn Rowling Hermines Hautfarbe nach altmodisch liberaler Art für nebensächlich erklärt hätte. "Gut, in den Büchern ist die Hautfarbe zwar weiss, aber eine Adaption muss sich nicht daran halten, die Hautfarbe ist unwichtig." Mit dieser simplen und scheinbar unverfänglichen Erklärung wäre Rowling nicht durchgekommen. Die woke Ideologie verlangt ein radikales Einstehen für Minderheiten und Randgruppen, insbesondere für BIPoCs oder People of color. Den herkömmlichen humanistischen Universalismus ("Die Hautfarbe ist unwichtig, wichtig ist der Mensch") stellt sie unter Anklage, weil sie ihn als rassistisch motiviert ansieht, als Selbstrechtfertigung weisser Dominanz. Grundsätzlich geht man davon aus, dass man als Weisser nicht bewusst oder willentlich rassistisch zu sein braucht, um rassistisch zu sein. Man ist es aufgrund seiner Hautfarbe, die man von klein auf als Norm begreift, und dadurch, so jedenfalls lautet die messerscharfe Schlussfolgerung der "Critical White Theory", sei unsere westliche Kultur wie auch unsere ganze soziale Rangordnung mit strukturellem Rassismus "infiziert". Natürlich ist das ziemlich paranoid, weil man damit eine weisse Erb- und Kollektivschuld voraussetzt und den Rassismus einfach umdreht, anstatt ihn abzuschaffen. Die "Critical White Theory" ist selber rassistisch, und in dieser Hinsicht ähnelt sie einer Religion, die Barmherzigkeit predigt, aber jedem Sünder und Renegaten den Kopf abhackt. Die Anhänger dieser Theorie agieren wie religiöse Eiferer. Sie betrachten alles unter dem Aspekt der Hautfarbe und kultivieren buchstäblich ein Schwarz-Weiss-Denken: Hautfarbe muss man ernst nehmen, man muss sie "problematisieren", man muss die "weisse Vorherrschaft" hinterfragen und alles, was auf "strukturellen Rassismus" hinweisen könnte, ausmerzen oder korrigieren. Was natürlich bedeutet, dass man auch Bücher und Filme im Sinne der "Critical White Theory" uminterpretiert oder bereinigt. Die Amazon Prime-Serie "Die Ringe der Macht" ist ein Musterbeispiel dafür, wie man neuerdings Drehbücher und literarische Vorlagen auf Wokeness bürstet und wie man dabei systematisch bekannte und beliebte Werke und Namen einspannt, um eine möglichst grosse Plattform zu haben. Solche Filme belehren uns über das richtige Verständnis von Race und Gender. Mit dem didaktischen Zaunpfahl deuten sie auf den "selbstbewussten, sympathischen Schwarzen", die "starke, mutige, makellos perfekte Frau", den "dümmlichen, toxischen, weissen Cis-Mann", etc. etc., wodurch die Entwicklung einer interessanten Story mit interessanten und vielschichtigen Figuren komplett vernachlässigt wird. Als ob ein Schwarzer nicht unsympathisch, eine Frau nicht schwach, ein weisser Cis-Mann kein Held sein könnte etc. etc. Der krampfhafte Versuch, Klischees und Rollenbilder zu widerlegen, führt zwangsläufig zu neuen und noch dümmeren Klischees und Rollenbildern. Dass solche Machwerke beim Publikum floppen, spielt keine Rolle. Amazon, Walt Disney und andere Megakonzerne können es sich leisten, das Label der politischen Korrektheit auf die Unterhaltungsindustrie zu übertragen. Die Ideologie wird querfinanziert. Im Wesentlichen geht es nur noch darum, eine politische "Message" zu implementieren. Und wer da nicht mitmacht, ist aus dem Spiel. Rowling hat das instinktiv verstanden. Als noch lebende Kinder- und Jugendbuchautorin genoss sie das Privileg, es noch selbst in der Hand zu haben, wie ihre Werke rezipiert werden. Und vor allem: dass sie dem Zeitgeist entsprechend rezipiert werden. Astrid Lindgren und Roald Dahl genossen dieses Privileg nicht. Ihre Bücher wurden posthum korrigiert. Besonders hart verfuhr der Londoner Verlag Puffin Books mit Roald Dahl. Die unverblümte Ausdrucksweise, für die dieser Kinderbuchautor bekannt und berüchtigt war, bog man zurecht, bis jede Unkorrektheit getilgt war. Matilda, die Heldin aus Dahls berühmtestem Roman, wurde im Namen postkolonialer Kritik dazu verpflichtet, Jane Austen anstatt Rudyard Kipling zu lesen. Für einen weissen männlichen Vertreter kolonialer Herrschaft gab es in einem Kinderbuch schlicht keinen Platz mehr. Die meisten Korrekturen betrafen jedoch den Sexismus und das Problem des sogenannten "Bodyshamings". Hexen, die eine Perücke tragen, damit man ihre Kahlköpfigkeit nicht erkennt, wurden rehabilitiert, indem man darauf hinwies, dass es für Frauen okay sei, eine Perücke zu tragen. Etliche Beschreibungen, die im Originalton allzu drastisch ausfallen, wurden entfernt oder abgeschwächt. Figuren durften zum Beispiel nicht mehr "fett" oder "dick" genannt werden. Und vielfach wurde auch am Geschlecht herumgedoktert: eine "female" (Weib) durfte nur noch als "wife" (Gattin) bezeichnet werden, damit klar war, dass eine Frau nicht unbedingt weiblich sein muss. Dazu gehörte auch die Abschaffung der biologischen Eltern. "Fathers" und "mothers" wurden durch "parents" ersetzt, und gestrichen wurde auch das fatale Wort "white", das man durch "pale" ersetzte, damit die weisse Hautfarbe nicht überrepräsentiert ist. Dass man hier einen Schriftsteller verstümmelte, der eine Kinderwelt voller Eigensinn und Skurrilität geschaffen hatte, der trotz oder vielleicht gerade wegen seiner liebenswürdig altmodischen Art für Frechheit, Widerborstigkeit und Freigeistigkeit stand, war kein Zufall. So durfte man nicht mehr schreiben, so durfte man nicht mehr denken. Eine allzu rücksichtslose oder eigenständige Phantasie war ein Verdachtsfall, ein Fall für den Korrekturstift. Gerade einer J.K. Rowling hätte das dämmern müssen. Es hätte ihr klar sein müssen, dass die Frage, ob die Hermine auch als Schwarze "gelesen" werden könne, eine ideologische Fangfrage war. Ein Hinterhalt. Aus Sorge um die schöpferische Freiheit hätte sie sich ausdrücklich dagegen zur Wehr setzen müssen, dass man künstlerische Werke moralisch oder politisch zurechtzustutzt, dass man sie nach irgendwelchen ideologischen Vorgaben umschreibt oder umdeutet. Stattdessen setzte sie alles daran, sich aus der Schusslinie zu nehmen und ihre Werke einer politisch korrekten Lesart zugänglich zu machen. Dieses Zugeständnis blieb nicht ohne Folgen. Rowling unterwarf sich freiwillig den Masstäben, mit denen sie dann später in Konflikt geraten sollte. Schon früh versuchte sie sich dem woken Zeitgeist anzupassen. Erstmals im Jahr 2007, als sie Dumbeldore, den Schulleiter des Zauberinternats, bei einer Lesung zum Homosexuellen erklärte. Dazu schrieb der Spiegel: "Nachdem Rowling ... kurz aus dem letzten Band 'Harry Potter und die Heiligtümer des Todes' vorgelesen hatte, wurde sie von einer Leserin gefragt, ob Dumbledore je 'seine wahre Liebe' gefunden habe. Rowling antwortete, sie habe 'immer gedacht, dass Dumbledore schwul ist'. Das Publikum in der Carnegie Hall verstummte schlagartig - und brach dann in Applaus aus." Was der Spiegel etwas blauäugig als Offenbarung darstellt, als ein spontanes Bekenntnis zu Toleranz und Diversität, ist in Wirklichkeit eine Farce gewesen. Dumbledores Sexualität spielt in keinem einzigen Harry-Potter-Band auch nur die geringste Rolle. Sie ist weder Handlungselement noch wird sie auch nur angedeutet. Also ist sie auch nicht relevant. Relevant an einem Text ist nur, was sich aus ihm erschliessen lässt. Soweit ich weiss, ist bei Harry Potter - bis auf Dumbledore, der sein Outing aber nicht den Büchern, sondern lediglich dem etwas patzigen Statement der Autorin verdankt - überhaupt niemand schwul, zumindest nicht offensichtlich. Wenn die Autorin behauptet, sie würde dem Thema "Homosexualität" im Zusammenhang mit dem Harry-Potter-Personal irgendeine Bedeutung zumessen, dann schmückt sie sich mit Federn, die ihr nicht zustehen. Die Bücher geben das nicht her. "Kann sein, dass er schwul ist, wir wissen es nicht, kann auch sein dass er bisexuell, pansexuell oder asexuell ist, kann auch sein, dass heterosexuell ist und eine heimliche Geliebte hat, wir wissen es nicht und brauchen es auch nicht zu wissen: für die Story ist es unwichtig. Ausserdem schreibe ich Kinderbücher, und ich halte es für falsch, in einem Kinderbuch alles und jedes sexualisieren zu wollen. Ich halte das für eine Art von Indoktrination. Ihr fändet es toll, wenn Dumbledore schwul wäre? Wirklich? Wieso eigentlich? Vielen Dank dafür, dass ihr den Kindern einen solchen Mist aufdrücken wollt!" Das wäre ein vernünftiges Statement gewesen! Etwas in dieser Art hätte ich von Rowling erwartet. Stattdessen stellte sie einen schwulen Dumbledore in den Raum und öffnete damit ein Tor, das nicht mehr zuging. Sie wurde bejubelt und mit entsprechenden Erwartungen konfrontiert. Wenn Dumbledore schwul war, konnte eigentlich ganz Hogwarts als Regenbogen-Community aufgefasst werden. Dann konnte sich natürlich auch die Queer-Community auf Rowling berufen. Und so kam es, dass Rowling zu einem Idol für Pubertierende wurde, die sich als queer betrachteten oder mit Queerness sympathisierten. Zu dieser Fangemeinde gehörten logischerweise auch LGBTQ-Organisationen wie auch akademische Zirkel aus den Bereichen Gender, Queerness und Intersektionalität - und ausserdem auch noch alle Medien, die das Regenbogen-Ethos bejubelten: sie alle fanden in Rowling eine "supergeile" Identifikationsfigur. Und anfänglich zumindest liess sich die Autorin das noch gerne gefallen. Es passte in ihr Weltbild, schmeichelte ihrem Ego und diente der öffentlichen Selbstdarstellung. Alle sollten wissen, dass ihr die Rechte von Minderheiten am Herzen lagen! Bis sie eines Tages die falsche Meinung äusserte, die Biologie ins Spiel brachte und merken musste, dass sie sich mit einer Ideologie eingelassen hatte, die nicht nur die Meinungsfreiheit in Grund und Boden stampft, sondern auch jede wissenschaftliche Logik und den gesunden Menschenverstand.

 

Aber gibt es denn keine Vorurteile? Gibt es denn keine "Transphobie"? Klar, die gibt es. Wer wollte das bestreiten? Die Probleme von Transmenschen sollte man ernst nehmen. Doch entgegen dem, was ständig behauptet wird, ist das Hauptproblem, das man in dieser Hinsicht ansprechen muss, nicht mangelnde Akzeptanz oder Moral, sondern die Frage, wie man sich auf gemeinsame Regeln einigen kann. Es ist eine praktische Frage, eine Frage des Zusammenlebens. Die ständige Moralisierung geht an der Sache vorbei. Wie der Fall Rowling sehr deutlich zeigt, ist der Widerstand, auf den die Transbewegung mit ihren Anliegen stösst, gut begründet. Mit einer Phobie hat das überhaupt nichts zu tun. Ausserdem gibt es so etwas wie einen Common Sense, eine übergeordnete Vernunft. Wir dürfen nicht dem Irrglauben verfallen, es sei ein Fortschritt, wenn man der Toleranz zuliebe wissenschaftliche Einsichten und elementaren Regeln des Zusammenlebens über Bord wirft. Wenn Transaktivisten von uns verlangen, dass wir den Darwinismus und die Biologie (und damit auch die aufgeklärte Rationalität) dem Ideal einer vollkommenen Inklusion zuliebe relativieren und abwerten, wenn uns also quasi das Kunststück abverlangt wird, uns dümmer zu stellen, als wir sind, damit wir als gute und tolerante Menschen dastehen, dann kann die Antwort nur ein entschiedenes Nein sein. Das gleiche Nein wird komischerweise selten hinterfragt, wenn man es religiösen Fundamentalisten (Kreationisten, Islamisten etc.) entgegenhält. Geht es aber um die Trans-Problematik, wird es plötzlich zum Frevel. Man misst mit ungleichen Ellen: die eine Minderheit darf recht haben, die andere nicht. Solche Doppelstandards gilt es zu vermeiden. Partikulare Interessen dürfen niemals absolut gesetzt oder als allgemeinverbindlich ausgerufen werden. Die Transbewegung sollte das akzeptieren, auch wenn es ihren identitätspolitischen Zielen widerspricht. Das Akzeptanzproblem sehe ich weniger in der Mehrheitsgesellschaft als bei den Aktivisten. Im Grunde beweist schon die Existenz einer solchen Bewegung, dass wir eine fortschrittliche und aufgeschlossene Gesellschaft sind. Wir haben es weit gebracht. Und nicht zuletzt auch dank der vielgescholtenen rationalen Objektivität, die uns von vielen überkommenen falschen Vorstellungen befreit hat. Wie zum Beispiel der Vorstellung, dass Hexerei eine Realität sei, die man mit Hexenprozessen und Feuer bekämpfen müsse.

 

2023