Die Sache mit dem Fondue

Denk ich an die Deutschen, und zwar ganz allgemein, die wimmelnde Gesamtmasse der Deutschen, so kommt mir immer zuerst Herbert Grönemeyer in den Sinn. Ein Deutscher wie aus dem Bilderbuch. Mein Gott, wie zackig der singt! Wie ein Maschinengewehr! Und immer mit diesem leicht geifernden Unterton, diesem hochgeschraubten Idealismus. "Kinder an die Macht". Was für eine Forderung! Als ob ein Dreijähriger die Weltverantwortung schultern könnte! Da läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Kinder, die an die Macht gelangen sollen, sind meiner Vorstellung nach Kinder, die unter wehenden Fahnen marschieren. Da kommen mir noch ganz andere Lieder in den Sinn. Rette sich, wer kann: der Deutsche kommt! Neben dem Deutschen - DEM Deutschen wohlverstanden, für dessen Denkmal Grönemeyer Modell stehen könnte - sind wir allesamt die lausigsten Pfeifen. Moralisch unzulänglich, geistig ineffektiv und ohne jede höhere Bestrebung. Anstatt den grossen Prinzipien zu folgen ("Sei edel, hilfreich und gut"), gehen wir duckmäuserische Kompromisse ein und drehen unser "Fähnlein der sieben Aufrechten" kreuzfidel nach dem Wind, falls wir überhaupt eines haben. Und falls der Wind überhaupt stark genug ist. Dem Deutschen ist das zuwider. Er macht nicht gern halbe Sachen. Er geht immer aufs Ganze. Wäre die gute Absicht ein Berg, so würde der Deutsche auf dem Gipfel eine Leiter aufstellen, um noch höher hinauf zu gelangen. Auf gute Absichten, egal, wie verstiegen sie sind, ist man in Deutschland seit jeher spezialisiert. Wieviele radikale Antisemiten hat man seit 2015 ungeprüft ins Land hineingelassen? Im Namen einer Willkommenskultur, die auch Brandstifter willkommen heisst? Nachdem man hoch und heilig geschworen hat: nie wieder! Na ja, der deutsche Idealismus. Als Gottfried Benn und Else Laske-Schüler einander kennenlernten, sagte Benn zur Dichterin: "Ich möchte einmal etwas ganz Grosses, etwas ganz Reines vollbringen." Darauf Else Laske-Schüler: "Dann waschen Sie doch einen Elefanten." Ja, so sind sie, die Deutschen. Immer waschen sie den allergrössten Elefanten. Ich weiss, das trifft sicher nicht auf alle Deutschen zu. Ich rede von DEM Deutschen, nicht von den Deutschen, wie sie wirklich sind. Was hat ein Hamburger mit einem Süddeutschen gemeinsam? Wahrscheinlich weniger als ein Basler mit einem Tessiner. Und was das Individuelle betrifft, so sind die meisten Deutschen gar nicht so furchtbar deutsch. Das "typisch Deutsche" ist etwas diffus Kollektives, ein beliebtes Klischee. Wie auch die Vorstellung vom "Volk der Dichter und Denker" nur ein Klischee ist, eine Schulformel sozusagen, die hierzulande umso wirkungsvoller ist, als sie sich mit dem schweizerischen Minderwertigkeitskomplex vermischt. Und doch muss etwas dran sein. Was mich im persönlichen Umgang mit Deutschen immer wieder erstaunt, ist ihre Belesenheit, ihre Bildung. Ich kenne das nur aus Deutschland: Postangestellte und Krankenschwestern, die mit der grössten Selbstverständlichkeit Hegel, Schopenhauer und Jean Paul lesen. So etwas gibt es in der Schweiz nicht. In der Schweiz sind es vielleicht drei bis vier Spezialisten, die solche Bücher lesen, und sie tun es möglichst heimlich, weil sie sich schämen. Nimmt ein Schweizer in einer Buchhandlung ein Buch zur Hand, interessiert ihn eigentlich nur der Preis. Und ob es nicht zu viele Seiten hat, wegen der Platzökonomie. Die kulturelle und geistige Sensibilität ist in Deutschland etwas sehr Allgemeines, während man in der Schweiz alles Geistige beargwöhnt und nivelliert. Kultur? Geist? Esprit? Gibt es vielleicht da und dort in der Westschweiz, oft im Zusammenhang mit einem guten Tropfen. Die übrige Schweiz kann man vergessen. Die Schweizer haben es einfach nicht drauf, und erst recht nicht die Deutschschweizer. Vielleicht liegt es an dem kleinräumigen Denken und Sprechen, dem man nachsagt, es sei etwas langsam, es bringe die Gedanken (oder was auch immer) nicht so richtig auf den Punkt. Auf Mundart muss man umständlich um das Eigentliche herumreden, und wenn man endlich sagt, was man eigentlich sagen will, interessiert es kein Schwein mehr, und die Pointe fällt unter den Tisch. Was aber auch etwas Rührendes hat, etwas "Herziges". Der Schweizer ist ein "Bodensuri", auf den man herabschaut, und auch die Schweizer selber schauen auf sich herab, durch eine mentale Lupe, wenn man so will. Ohne Lupe könnten sie sich gar nicht sehen. Und das nehmen sie dann sehr genau! Hier entgeht ihnen nichts. Genau sein können sie, bis hin zum kleinlichsten Perfektionismus. Wenn sie etwas machen, muss es idiotensicher sein. Wohl deshalb heisst das grosse schweizerdeutsche Wörterbuch "Idiotikon". 

 

Bei aller Bewunderung für das Kulturvolk vom anderen Rheinufer habe ich, wie könnte es anders sein, mit den Deutschen (nicht mit einzelnen Deutschen, sondern DEN Deutschen, der Kollektivversion DES Deutschen) auch negative Erfahrungen gemacht. Oder sagen wir: ambivalente Erfahrungen. Wir Schweizer kennen die Deutschen vor allem aus dem Arbeitsleben, wo sie sich vielleicht nicht immer von ihrer vorteilhaftesten Seite zeigen. Das Arbeitsleben ist hart, und neben dem Fussballrasen ist die Arbeitswelt wahrscheinlich der einzige Bereich, wo die Deutschen noch so richtig deutsch sein dürfen. Dort sehen und erleben wir sie denn auch häufig so, wie wir sie zu kennen glauben: stramm, ehrgeizig, gehorchen aufs Wort und hinterfragen nichts. Und immer auf Zack! Und wenn sie nicht gehorchen, dann erteilen sie Anweisungen, die so knapp und barsch sind, dass man den Kopf einziehen muss. Wieder das altbekannte Klischee. Und doch ist es eine Erfahrung, die man im Arbeitsleben hin und wieder macht, wenn man es mit Deutschen zu tun bekommt. Ich habe die deutsche Übernahme einer Schweizer Firma miterlebt. Plötzlich wurde mit der Stoppuhr gearbeitet, alles wurde auf Vordermann gebracht, eine Effizienzsteigerung von null auf hundert, der ganze Laden wurde umgekrempelt, und wer nicht spurte, musste "mit Konsequenzen rechnen". Und jeden Morgen trat die Belegschaft gestriegelt und gestrählt zum Morgenappell an, und einmal pro Quartal gab es eine betriebsinterne Motivationsschulung, damit auch wirklich jeder und jede begriff, dass ein neuer Wind wehte. Ein deutscher Wind eben, eine frostige Brise. Als wir Schweizer noch unter uns gewesen waren, hatten wir alles endlos ausdiskutiert, ohne viel zu arbeiten. Und wie es die Schweizer halt so machen, wenn sie diskutieren: sie diskutieren zuerst einmal des langen und des breiten darüber, was man zum Diskutieren überhaupt traktandieren soll. Ganz allgemein regelt man das Miteinander in der Schweiz ganz anders als im "grossen Kanton": einerseits viel komplizierter und umständlicher, weil man für jedes Gespräch einen runden Tisch braucht; andererseits aber auch viel unkomplizierter, weil man an einem runden Tisch nicht sagen kann, wer oben oder unten sitzt, wodurch ein Gefühl der Gleichheit entsteht, der Konfliktdämmung. Eine Gleichheit der direkten Ansprache ist das nicht. Alles läuft hier indirekt, in einem einzigen "Sozusagen" sozusagen. Und ständig hat man es mit Eventualitäten zu tun. Oder wie es in einer der witzigen Fehlübersetzungen heisst, die der Kolumnist Axel Hacke zusammengetragen hat: "Eventualitäten, in denen Vorfälle sich in gewissen Fällen ereignen." In solchen Eventualitäten fühlen sich die Schweizer pudelwohl. Wenn sie einander in die Quere kommen, einander auf die Nerven gehen, dann immer nur eventuell. Man ist per Du, aber in der Schweiz heisst das noch lange nicht, dass man einander auf dem Schoss hockt. Die Schweizerische Betriebskultur ähnelt, soweit ich sie selber erlebt habe, einem Fondueplausch unter Freunden. Oder besser gesagt: unter Kollegen. In der Schweiz hat man keine Freunde, man hat Kollegen. Man hockt einander nicht auf dem Schoss, aber man hat es doch recht gut miteinander, man rührt im Uhrzeigersinn auf unterschiedlichen Kreisbahnen, jeder für sich und doch auch alle zusammen. Wie das funktioniert, ohne dass sich die Fonduegabeln ineinander verheddern und verhaken, scheint das bestgehütete Geheimnis der Schweiz zu sein, eine Art Betriebsgeheimnis. Doch das täuscht. Was hier so gut gehütet und unergründlich scheint, hat mit den allereinfachsten Regeln zu tun. Man muss nicht den Doktor gemacht haben, um sich fonduekonform verhalten zu können. In der Schweiz gilt: was im Kindergarten gilt, gilt auch in der Gemeinschaft, in der Firma, im Staat und am Fonduetisch. Man kann nicht einfach drauflosrühren wie eine Wildsau. Oder wie ein japanischer Tourist, der das zum ersten Mal macht. In der Schweiz muss man immer wissen, wie es geht. Wenn aber alle Beteiligten wissen, wie es geht, und sich entsprechend verhalten, kann sich eine geradezu unschweizerische Lässigkeit entwickeln. Sie ist es, was den Schweizer sympathisch macht. Was ihn selber beeindruckt, wenn er in den Spiegel schaut. Aber auch hier kommt es auf das richtige Mass an. Dem Schweizer ist jederzeit bewusst, dass sich das Gute in der Mitte befindet. Nicht nur geografisch gesehen. In der Schweiz ist "Mittelmass" kein Schimpfwort, sondern ein Lob. Deshalb schaut man sehr genau darauf, dass man weder zu viel noch zu wenig macht. Nur nichts übertreiben! Faulenzer und Streber sind schlechte Schweizer. Die guten Schweizer sind diejenigen, die das Gleichgewicht halten. Immer hübsch arbeiten! Aber auch die Pausen nicht vergessen! So läuft es seit jeher in der Schweiz, ob beim Arbeiten oder Fondueessen: alles muss im Lot sein. Perfekt austariert. Immer rühren, damit der Käse nicht dick wird. Damit es nicht schon eine Kruste gibt, bevor man am Boden angelangt ist. Rühren, rühren, rühren. Nicht zu fest und nicht zu lasch. Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Schön "süferlig", aber nicht zu "süferlig", sonst verliert man das Brotbröckli. Und selbstverständlich sollte man hin und wieder eine Pause einlegen. Wer keine Pause macht, ist ein Fanatiker und gehört nicht an einen Fonduetisch. So stochert man zwischendurch ein bisschen herum, ergriffen von einem Gefühl heimeliger Gemütsamkeit. Dieses Gefühl gibt es nur in der Schweiz, so wie es auch gewisse Regeln nur in der Schweiz gibt. Wer zum Beispiel sein Brotbröckli verliert, muss entweder singen oder eine Runde zahlen. Schlimmere Strafen können sich die Schweizer nicht vorstellen. Jahrelang habe ich solche Arbeitsverhältnisse als selbstverständlich wahrgenommen. Bis die Deutschen kamen! Unter der teutonischen Büro-Besatzung drehte sich dann plötzlich alles nur noch um Effizienz und Leistung. Fertig im Fondue gerührt! Für so etwas gab es keine Zeit mehr. Natürlich muss man das positiv sehen. Wenn man etwas von den Deutschen lernen kann, dann ist es arbeiten. Oder auf gut Neudeutsch gesagt: die pflichteifrige Selbstaufgabe im supermotivierten Team. Als Schweizer oder Schweizerin (Schweizer können auch weiblich sein, zumindest sei 1971) hat man man dem wenig entgegenzusetzen. Man muss einpacken oder sich fügen. Allenfalls kann man noch eine gewisse "Chnuschtigkeit" hervorkehren und den Globi spielen - also sich selbst - und so die hochdeutsche Gradlinigkeit unterspülen und leise verhöhnen. Für die Deutschen, die immer exakt das meinen, was sie sagen, sind wir ein ewiges Rätsel. Von "Chnuschtigkeit" verstehen sie rein gar nichts. Und das ist gut so.

 

2017