Das Dorfkino

Heute ist es eine Kleinkunstbühne. In den Siebzigern war das Kino Marabu ein verrufener Hotspot im Dorfzentrum von Gelterkinden. Auf dem Schulweg verpassten wir keinen einzigen Film. Obwohl die goldene Pforte für uns noch verschlossen war.

 

Auf dem Schulweg durch Gelterkinden gab es Nebenschauplätze, kleinere Nebenstrudel, die uns anzogen und in sich hineinzogen. Zum Beispiel das Kino Marabu. Diskret schlüpften wir in den Durchgang, wo die Kinoplakate hingen. Wir näherten uns der goldenen Pforte mit angehaltenem Atem. Für uns war sie noch verschlossen. Hier war der Aussenbereich des Dorfkinos, die Eingangsschleuse, wo sich vor besonders angesagten Filmvorführungen (Der weisse Hai, Halloween) die kaugummikauende Dorfjugend einfand. Der Kinosaal existiert noch heute, wenn auch nicht mehr als Versammlungsort für Teenager, sondern als gediegene Kleinkunststätte, in der das mittelständische Kulturpublikum in gepflegter Kino-Ambience dem Weltumsegler Peter Reber, dem Lokalbarden Baschi oder den lustigen Acapickels lauscht. Auch Filme werden noch hie und da gezeigt, anspruchsvolle Biopics: Vincent Cassel als Gaugin, Vincent Lindon als Rodin, Goffrey Rush als Giacometti. In den Siebzigern war das Kino Marabu ein kabuffartiges Dorfkino. Nichts für Kulturmenschen, aber gerade darum echte Kultur. Der Aushang wurde alle zwei bis drei Monate ausgewechselt. Das war schon etwas Grosses. Da blieben wir manchmal ziemlich lange hängen. Allein schon die Filmtitel jagten uns einen Schauder über den Rücken: Der Fluss der Mörderkrokodile. Die Schreckensinsel der Zombies. Sie nannten ihn Knochenbrecher. Urlaubsreport alleinstehender Frauen. Das Blutgericht der reitenden Leichen. Die weisse Göttin der Kannibalen. Die Nacht des Grauens. Im tiefen Tal der Superhexen. Diese Filmkunstwerke, die wir selber noch nicht sehen durften, waren Fenster in die Welt der Erwachsenen. Ich meine nicht die Realität der Erwachsenen. Es war die Welt der Erwachsenen in extremer Zuspitzung und Überzeichnung. Ein Abziehbild. Es war das wahre Leben, nicht das reale. Dass wir darauf ansprangen, lag nicht nur an den bombastisch gemalten Plakaten mit den grossen Schriftzügen, sondern auch an den vielen Einzel- oder Standbildern, die das Filmgeschehen illustrierten, sodass wir die Handlung, wenigstens der Spur nach, daraus ableiten konnten. Es war wie ein Puzzle. Die Einzelteile waren nicht wie bei einem Comic chronologisch angeordnet, sodass man sich schon ein wenig anstrengen musste, wenn man die Filmhandlung verstehen wollte. Man musste sich etwas zusammenreimen. Und der Spass lag darin, dass wir - eine Rotte saumseliger Schüler auf dem Schulweg - dieses Ratespiel gemeinsam spielen konnten. Weshalb war diese Frau halbnackt? Wovor wich sie mit einem Angstschrei zurück? Und auf wen schoss der Gangster? Und wie genau tötete die Bestie ihre Opfer? Als ob es auf die Handlung angekommen wäre! Es war das Jahrzehnt des Trashs, es waren die Siebziger, die sich in diesen Filmen und den dazugehörigen Randzonen des guten Geschmacks austobten. Wobei ich sagen muss, dass die Filme im Marabu relativ massentauglich waren. Wenn auch nicht in jedem Fall kindertauglich. Leise und ehrfürchtig schritten wir von Bild zu Bild. Wir bestaunten die Filmkunst. Wir fühlten uns ihr ganz nah, auch wenn uns der Kinoeintritt noch verwehrt war. Die Bilder zeigten ja alles, vom Make-up bis zum explodierenden Wolkenkratzer, vom demolierten Opel Manta bis zur baumelnden Leiche des erhängten Cowboys, von der klaffenden Fleischwunde bis zur Monsterfratze, ein Schauerkabinett aus Prothesen und Masken, ein Bocuse-Gericht mit viel Kunstblut, liebevoll zurechtgemacht mit Latex und abgeschmeckt mit knallendem Sprengstoff. War das Schund? Oder waren es zukünftige Filmklassiker? Wir wussten es nicht. Wir waren ja selber noch in den Siebzigern, mittendrin in einer Zeit, in der die Trennlinie zwischen High und Low noch ganz dünn war. Ausserdem waren wir noch Kinder. Wir hatten von nichts eine Ahnung. Trotzdem durfte man uns als Filmkritiker nicht unterschätzen. Wir konnten Filme beurteilen, die wir nie gesehen hatten. Die Marabu-Filme blieben uns als Filme verschlossen, bis auf die paar wenigen Ausnahmen, die uns das Fernsehen gewährte. Als ich in die erste Klasse kam, waren Katastrophenfilme mit Erdbeben, Flutwellen und abstürzenden Jumbo Jets gerade gross in Mode. Danach kamen die Italo-Western mit Charles Bronson und Clint Eastwood und anderen stoppelbärtigen Typen, die ihren Weg durch die Prärie mit Leichen pflasterten. Danach die Zombies, damals noch stumpfsinnige Romero-Kreaturen, die in jedes Stromkabel hineinbissen und dabei verschmorten. Danach folgte ein Film, der uns wirklich Gänsehaut verursachte, allein schon die Standbilder waren hart an der Grenze des Erträglichen: eine Vogelspinnen-Invasion in Texas. Ein haariges Gekrabbel von etwa faustgrossen mörderischen Vogelspinnen. Sie krabbelten in alles hinein und aus allem heraus. Sie waren buchstäblich überall, es gab kein Entrinnen. Das Schlimmste daran war, dass die Vogelspinnen echt waren. Sie waren lebendig, das sah man, es war kein Trick, keine Animationstechnik. Man hatte am Filmset echte Vogelspinnen eingesetzt, Ich fragte mich, wie die Schauspieler das ausgehalten hatten. Es war eine Frage, die mich lange beschäftigte, wollte ich doch selber Schauspieler werden. An die harmlosen Filme dachte ich dabei weniger. Die gab es natürlich auch. Bud Spencer mit seinen Fäusten, mit denen er gar nicht so viel anstellen musste: seine Gegner liefen von alleine in sie hinein und flogen, wie von einem hin und her schwingenden Amboss getroffen, in alle Himmelsrichtungen davon. Auf dem Pausenhof spielten wir das häufig nach: einer war Bud Spencer, und die anderen waren die Vollidioten, die mit Anlauf in seine Fäuste hineinrannten, woraufhin einer nach dem andern davonflog. Dann natürlich Louis de Funès, den die meisten meiner Mitschüler wahnsinnig witzig fanden, während ich ihn eher bescheuert fand. Ich fand ihn schon rein äusserlich nicht zum Lachen. Ich hielt ihn für einen schlechten Komiker, nicht halb so witzig wie Benny Hill, den ich aus dem Fernsehen kannte. Benny Hill machte ein Käsekuchen-Gesicht, das mich sofort zum Lachen brachte. Louis de Funès machte ein Gesicht wie ein Zitronenschnitz, und was daran so witzig sein sollte, erschloss sich mir nicht. Die Komik von Louis de Funès konnte ich allerdings gar nicht wirklich beurteilen. Ich kannte seine Filme nicht. Im Schweizer Fernsehen liefen seine Filme selten, und ausländische Sender waren bei uns zu Hause nicht zu empfangen. Benny Hill kannte ich aus einer englischen Sketch-Serie, die im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde und in der auch ein Komiker-Trio namens "The Goodies" auftrat. Ich kann mich noch gut an eine Szene erinnern, in der einer von ihnen als Schotte verkleidet mit dem Dudelsack einen Puding erschlug. Das war natürlich grossartig. Ansonsten waren wir mit dem Schweizer Fernsehen eher unterversorgt. Wir hatten keinen Kabelanschluss. Ich war deshalb oft ein bisschen hinter dem Mond. Längst nicht überall konnte ich mitreden. Ich wusste nichts von den Mainzelmännchen, nichts von der Sesamstrasse, und Bud Spencer kannte ich nur von den Kinoplakaten und den mit Bud-Spencer-Sprüchen garnierten Schlagvorführungen meiner Mitschüler. "Ich spitz dir den Spargel an, bis man dich für einen Pfirsich hält." - "Mach die Kackstelzen flott, sonst hau ich dir den Sonntagsbrei aus der Rübe." Ein distanziertes Verhältnis hatte ich auch zu Bruce Lee. Wenn meine Mitschüler die Schlagtechniken aufzählten, mit denen Bruce Lee seine Gegner ausser Gefecht setzte, musste ich passen. Ich kam mir vor wie der letzte Idiot. Ob man viel zu erzählen hatte oder nicht, ob man mitreden konnte oder nicht, wurde weitgehend durch die Zahl der Sender bestimmt, die man bei sich zu Hause empfangen konnte. Gleich waren wir nur vor dem Kino: da durfte noch niemand von uns hinein.

 

Heute bedaure ich es, nicht etwas älter gewesen zu sein. Wir waren noch zu jung, um den Trash voll auskosten zu können. Gewellte Frisuren, schnelle Autos, Glitzerkleider, Schlaghosen, Plateau-Schuhe und Fäuste, die in stoppel- und kotelettenbärtige Schurkenvisagen hineindonnerten. Es war eine Zeit, in der man als Halbwüchsiger voll auf seine Kosten kam. Und wie stand es mit den Sexfilmchen? Kann sein, dass die im Marabu gar nicht so oft liefen. "Emanuelle" und "Bilitis" beeindruckten mich kaum, an die Saunastimmung mit dem Weichfilter und den Rohrstühlen kann ich mich zwar noch irgendwie erinnern, nicht aber an die nackten Brüste. Vielleicht war in dieser Erotik-Sauna alles so von Dampf vernebelt, dass man die Brüste gar nicht sehen konnte. Auch bei "Eis am Stil" kann ich mich kaum noch an nackte Haut erinnern, die Frauen trugen Bikinis und waren eher kleinbrüstig. Der einzige Mensch, der dort nackte Brüste hatte, war der Dicke, der am Badestrand den Frauen nachstellte. Bei all diesen Filmen muss die Erotik wohl ausschliesslich verbal abgelaufen sein. Das Gegenteil von Erotik war der britische Schauspieler Marty Feldman. Er war mein Lieblingsschauspieler. Wenn ich Marty Feldman im Fernsehen sah, in einem Klamaukfilm oder als Stargast der Muppet Show, geriet ich ganz aus dem Häuschen. Auf den Marabu-Bildern von "Young Frankenstein" - der aus dem Jahr 1974 stammende Film wurde im Rahmen eines Retro-Programms gezeigt - begeisterte mich der irre Blick des Krüppels Igor. Marty Feldman hatte zweifellos das gewisse Etwas. "Young Frankenstein" sah ich dann aber erst viel später, als ich alt genug war, um die verpassten Filme nachholen zu können. Der Film an sich und sein Regisseur Mel Brooks sagten mir noch nichts. Stattdessen schwärmte ich von Filmen, die man heute bestenfalls noch in Fussnoten erwähnt. Das King-Kong-Remake von 1976 oder die Superman-Verfilmung von 1978 - mit Christopher Reeve, dem einzigen wahren Superman - hatte ich weder im Kino noch im Fernsehen gesehen. Heute, im Internet- und Netflix-Zeitalter, erstaunt es mich ein bisschen, dass mir diese Filme derart präsent waren. Doch schon damals wurden Blockbuster überall beworben und auf jede erdenkliche Weise vermarktet, und obwohl es noch kein Internet gab, war man auf die eine oder andere Weise immer voll dabei. Mein Wissen über Superman und King Kong hatte ich aus Illustrierten und Comics, die mir das Kino ersetzten. Alle zwei Wochen holte ich mir am Migros-Kiosk das neuste Superman-Comic. Zwischen 1977 und 1979 habe ich vermutliche keine einzige Ausgabe verpasst. Und selbstverständlich war es auch der Plakataushang im Marabu, was mich in diese Filme eintauchen liess. Jedenfalls beschäftigten sie mich durch die ganze Primarschulzeit hindurch. In der ersten Klasse zeichnete ich zum Entsetzen meiner Lehrerin unablässig einen grossen Affen, der auf der Spitze eines Wolkenkratzers von Flugzeugen attackiert wird und eine kleine schreiende Frau in der Faust hält. Und als Zweitklässler wünschte ich mir zum Geburtstag einen Superman-Dress. Weil meine Grösse überall ausverkauft war, nähte ihn meine Mutter aus alten Pyjama-Teilen zusammen.

 

Als ich die Altersfreigabe ab 12 endlich nutzen konnte, hatte sich die Filmlandschaft schon stark verändert. Ronald Reagan, der "Errol Flynn der Billigfilme", wie er sich selbst nannte, war nun Präsident der Vereinigten Staaten, und dieser Präsident war nicht nur ein zweitklassiger Schauspieler, sondern auch ein Saubermann. Schmuddlig und gangsterhaft, hardboiled-mässig amerikanisch, waren nur noch die wenigsten Filme, die im Marabu liefen. Wenn Gewalt überhaupt noch zulässig war, dann nur in Filmen, die einen gesunden amerikanischen Patriotismus verströmten. In "Rambo" und "Top Gun" räumten die Amis auf. Die ganze Welt war ein Saustall, und es waren immer die Amis, die diesen Saustall aufräumen mussten. Und auch das Kino war ein Saustall, der nun aufgeräumt wurde. Das neue Hollywood - das Hollywood der Reagan-Ära - räumte auf mit Geistern und Ganoven, mit Spinnenplagen und Saloonschlägereien, mit halbnackten Weibern und halbmenschlichen Mutanten. Der eiserne Besen der neuen Rechtschaffenheit fegte alles Verruchte hinweg. Auf einmal waren die Siebziger vorbei. Das familientaugliche Vormittagsprogramm zog sich bis in die Nacht hinein. Ich war dreizehn oder vierzehn, als ich im Marabu meine ersten Kinofilme sah. Zum Beispiel "E.T.", "Das Letzte Einhorn" oder jene Folge von "Star Wars", in der ein ungeheuerlicher animatronischer Fettklops vorkommt. Ein bisschen etwas von den Siebzigern blitzte da und dort noch auf. Etwa bei "Scarface" oder "Cujo". Aber wegen der Altersvorgabe durfte ich diese Filme noch nicht sehen. Zumindest nicht unbegleitet. Was mir aber gar nicht so viel ausmachte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich mir die fürchterlichsten Filme anschauen durfte, Horrorfilme, Splatterfilme, Zombiefilme. Aber was heisst hier "fürchterlich"? Die fürchterlichen Filme waren diejenigen, die ich langweilig oder blöd fand. Und von denen gab es in den Achtzigern mehr als genug. Was sollte ich mit "Flashdance"? Oder mit "Ghostbusters"? Die Achtziger nervten. Genau zehn Jahre lang nervten die Filme, nervte die Musik, nervte die Mode, nervten die Frisuren, nervte überhaupt alles. Zum Erwachsenwerden hatte ich eindeutig das falsche Jahrzehnt erwischt. Der Projektionssaal des Kinos war immerhin eine Augenweide: rote Plüschsessel, Vorhangtüren und eine Architektur, die an Art Déco erinnerte. Natürlich alles andere als ein Kabuff. Doch sobald sich die Halle mit lärmenden Jugendlichen füllte, war es mit der Noblesse vorbei. Auf dem Balkon durfte geraucht werden, und ich weiss noch, dass wir, die Nicht-Raucher im Parkett, es ängstlich vermieden, direkt unter der Brüstung zu sitzen, weil da immer wieder mal etwas herunterflog: eine Zigarettenkippe, ein Papierchen, ein Popcorn, ein Pappbecher oder ein Kaugummi. Mein Interesse verschob sich deutlich in Richtung Theater. Trotzdem behielt das Kino für mich seinen Reiz, als Teenager war ich natürlich leicht zu beeindrucken. Ja, die Achtziger! Wie gern wäre ich ihnen entflohen! Dazu passte "Back to the Future", ein Film, den ich mochte, weil er meinem eskapistischen Bedürfnis entgegenkam, und das Gleiche galt auch für "Time Bandits" von Terry Gilliam. Wie schön wäre es gewesen, in eine Zeitmaschine zu steigen und in die Zukunft oder die Vergangenheit abzuhauen! Man musste nur aufpassen, dass man nicht plötzlich im Jahr 1939 landete. Andererseits gab es auch zeittypische Highlights, wie zum Beispiel "Amadeus". Auf diesen Film hatten alle gewartet. Er brachte das von Haarspray und Rokoko-Ästhetik geprägte Jahrzehnt auf den stylishen Höhepunkt.

 

Mein grösstes Kinoerlebnis lag da schon hinter mir. Das war 1983 gewesen, eine Kinovorstellung, aus der ich wie umgedreht herauskam. Als hätte man mich unter Drogen gesetzt. Und wiederum war es ein Film, den heute kein Mensch mehr kennt: "Krull" von einem gewissen Peter Yates. Das monumentale Fantasy-Epos ist in der Mottenkiste der Filmgeschichte verschwunden. Vielleicht war es doch etwas zu dick aufgetragen. Und trotzdem: "Krull" war mein erstes grosses Kinoerlebnis - mein grösstes bis zum "Herrn der Ringe", der auf der Leinwand eine ähnliche, noch nie gesehene Bildgewaltigkeit entfesselte. Wenn man von etwas sagt, es sei "grosses Kino", so ist das zwar nur eine Redewendung. Aber sie bezieht sich doch auf das Wesentlichste, das dem Kino zu eigen ist. Auf das, was dem Kino seit jeher seine Macht verleiht: die Überwältigung durch das grosse Bild. Jene Eigenschaft, die der abgedunkelte Kinosaal dem Fernsehen, dem Theater und dem Internet voraus hat. Filme von Ken Loach oder Woody Allen kann ich ohne Abstriche auf dem Smartphone anschauen. Bildgewaltige Filme jedoch nicht. Nichts gegen Küchendramen und ausgefeilte Dialoge. Ich mag Ken Loach. Ich mag auch Woody Allen. Aber Hand aufs Herz. Einen Woody Allen-Film könnte man auch als Theaterstück aufführen. Bei bildgewaltigen Filmen ginge das weniger gut. Es gibt Filme, die brauchen eine gewisse Projektionsgrösse, damit man sie geniessen kann. Das ist wie bei einem Wasserfall oder einem Berg. Als Miniatur ist ein Berg kein Berg und ein Wasserfall kein Wasserfall. Deshalb ist das Kino für den Trash geradezu prädestiniert. Trash ist etwas Grosses und Grossartiges. Er kommt nicht ohne Übertreibung aus. Eine Axt, die einen Orkschädel spaltet, wirkt einfacher besser, wenn die Grösse stimmt. Trash ergötzt uns, weil er brachial und trivial ist. Weil er das Kind in uns anspricht, das vor Freude in die Hände klatscht, wenn der Kasperli das Krokodil zu Hackfleisch verarbeitet. Wer aber die Liebe zum Trash auf eine psychische Regression reduziert, verkennt dessen Möglichkeiten. In den richtigen Händen kann er das höchstmögliche Kino-Niveau erreichen. Mit seiner Surrealität - seiner Übergrösse, seinen Übertreibungen, seinem Too-Much -  kann man ganz gezielt ein traumartiges Register bedienen. Man kann damit zaubern. Und niemand hat das besser hinbekommen als der Kino-Magier Fellini. Als ich im Marabu meinen pubertären Stammplatz einnahm, kannte ich "La Strada", "Fellinis Satyricon" und "Amarcord" schon aus dem Fernsehen. Ich habe Fellini also nicht erst durch das Kino entdeckt. Aber "E la nave va", "Ginger and Fred" und "La voce della luna", die drei letzten Fellini-Filme, habe ich tatsächlich im Marabu gesehen, in voller Leinwandgrösse. Und bis heute bin ich ein angefressener Fellini-Fan.

 

 

Die Bildgewaltigkeit rettete das Kino Marabu nicht. In den Achtzigerjahren verlor die goldene Pforte an Glanz. Schräg gegenüber an der Bohnygasse eröffnete ein Video-Verleiher sein Geschäft. Und plötzlich gab es das U-Abo, mit dem die Leute abends in die Stadt gehen konnten, in den Ausgang, wie man damals noch sagte. Was natürlich auch den Kinobesuch miteinschloss. Das Marabu war nun gar nicht mehr so cool, ein schäbiges Dorfkino, das die meisten neuen Filme mit Verspätung zeigte und in einem nach Feierabend völlig ausgestorbenen Dorfkern wie ein historisches Relikt wirkte. Die Betreiber setzten alle Hebel in Bewegung: sie rüsteten die 35mm-Projektoren auf und taten sich mit dem Kino Sputnik von Liestal zusammen. Vergebens. Das legendäre Dorfkino ging seinem Ende entgegen. Immerhin war es ein Happy End. Seit 1994 ist das Marabu ein Kulturbetrieb. Eine Kleinkunstbühne mit regionaler Ausstrahlung. Auch nicht schlecht. Besser als nichts. Das Marabu gibt es wenigstens noch. Und wenn ich hinter der goldenen Pforte für den Lokalbarden Baschi oder für die lustigen Acapickels Eintritt bezahle, hat das natürlich einen tieferen Grund. Der angenehme Schauder, der mich überläuft, wenn ich an das kabuffartige Dorfkino von früher zurückdenke, ist im Eintrittspreis miteinbegriffen.

 

2018