An der Schifflände

Über meine wilde Jugend als Bibelverkäufer

 

"Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort." Johannes 1,1, Lutherbibel

 

 

Frühjahr 1988. Was hatte ich mit Theologie am Hut? Eigentlich nichts. Für mich war das Neuland. Nur durch Zufall war ich an diese Lehrstelle gelangt. Am ersten Arbeitstag begrüsste mich mein Chef mit den Worten: "Wir sind keine religiöse Buchhandlung. Wir sind eine theologische Buchhandlung. Beten müssen Sie bei uns nicht. Damit die Kasse stimmt, müssen Sie in allererster Linie klug geschäften können. Vom Beten wird niemand feiss." Als ich dann die hundert Regalmeter mit der theologischen Fachliteratur zum ersten Mal abstaubte, wobei ich jeden Band von Karl Barths Dogmatik herausnahm, 13 Teilbände und einen Registerband, insgesamt 9000 Seiten, die ich mit einem Dachshaarpinselchen akribisch abwischte, dozierte mein Chef die ganze Zeit über biblische Hermeneutik. Ich verstand natürlich Bahnhof. Wenn die Frommen wüssten, was ihnen da alles entgeht, dachte ich. Als Hauptlieferantin der Münstergemeinde und der Theologischen Fakultät versorgte die Evangelische Buchhandlung Pfarrherren, Vikare, Diakone, Katecheten, Dekane, Theologieprofessoren und Theologiestudenten mit Andachtsbüchern, mit Bibeln und Werken über systematischen und praktischen Theologie, mit Büchern über Gottesdienstgestaltung, Diakonie, Liturgie, Seelsorge und Psychoanalyse, mit Exegesen und Synopsen, mit Kompendien der Kirchen- und Dogmengeschichte, mit altsprachlichen Lehrbüchern, mit Schriften zum Kirchenrecht, mit Büchern über Eschatologie, Sakramantlehre, Ekklesiologie, Pneumatologie, Soteriologie, Christologie und vergleichender Religionswissenschaft, aber auch mit kirchen- und religionskritischen Werken von Feuerbach bis Deschner. Und mit der ganzen Philosophie von Platon bis Jaspers. Eine riesige Palette, eine Mischung aus Protestantismus und bildungsbürgerlichem Humanismus. Den meisten Umsatz machte die Buchhandlung jedoch mit dem allgemeinen Sortiment ausserhalb ihres Fachbereichs, mit Romanen und Sachbüchern, mit Krimis und Ernährungsratgebern. Und nicht zuletzt auch mit Büchern aus dem modernen Antiquariat, d.h. mit aufgekauften Restposten, die in sogenannten Ramschkisten verscherbelt wurden. Damit zog man die Laufkundschaft an, die alles andere als Bücher im Kopf hatte und in der Regel von einem Termin zum nächsten eilte. Hier, an der Schifflände, wurde sie zum Spontankauf animiert. Hier wurde sie vom vorgezeichneten Weg abgebracht und mit der Nase auf etwas gestossen, das ihr den segensreichen Gedanken eingab: "Das könnte ich doch gleich noch mitnehmen." Direkt neben einer Tramstation und einer Schiffanlegestelle, am belebtesten Verkehrsknotenpunkt der Innenstadt, war man gut beraten, die Netze möglichst weit auszuwerfen. Man musste bei den Leuten sein. Mein Chef unterstrich das gerne mit einem Goethe-Zitat: "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen!" Als Buchhändler müsse man das beherzigen, sagte er. Den Radius offen halten, die Welt als Kreis, wenn nicht sogar als Kugel begreifen. Das sei das Wichtigste! Erst recht, wenn man eine Fachbuchhandlung führe. Das Fachliche bilde nur das Obergeschoss, nicht den Sockel. Auch wenn mich die umfangreiche theologische Fachliteratur etwas einschüchterte, merkte ich mit der Zeit dann doch, dass die Grundhaltung sehr offen war. Mit dem allgemeinen Sortiment alimentierte man die Theologie, die in Verbindung stand mit vielen geisteswissenschaftlichen Fächern, von der Philosophie bis zur Linguistik. Die Theologie war der höchste Gipfel in diesem Gebirge. Als angehender Buchhändler war ich natürlich kein Theologe. Und auch mein Chef war kein Theologe, er konnte weder Altgriechisch noch Latein. Und erst recht nicht Hebräisch oder Aramäisch. Das Fachwissen, das er für seine theologische Kundschaft brauchte, hatte er sich im Eigenstudium angeeignet - und natürlich durch unendlich viele Kundengespräche. Täglich lernte man während der Arbeit hinzu. In einer Fachbuchhandlung musste der Buchhändler nur eines gut können: hochstapeln. Bücher hochstapeln und Bescheid wissen. Die Theologie war ein Berg von unglaublichen Ausmassen. Das merkte ich schon an meinem ersten Arbeitstag, als ich die Dogmatik von Karl Barth abstaubte. Und bald schon war mir klar: ich musste diesen Berg nicht besteigen. Ich musste lediglich die Seile, Steigeisen und Karabiner kennen, die für die Besteigung benötigt wurden. Ausserdem musste ich über die wichtigsten Aufstiege und Gipfelrouten Bescheid wissen. Meine Aufgabe war es, den Lesestoff bereitzustellen, nicht ihn selber zu lesen. Das Lesen konnte ich anderen überlassen. Trotzdem wurde meinem Laienverstand sehr viel abverlangt. In meiner Freizeit büffelte ich Fachbegriffe. Ich musste verstehen, was ein Kunde von mir wollte, wenn er eine kulturgeschichtliche Abhandlung über die "Perikope" suchte. Ich musste verstehen, wofür eine "Synopse" verwendet wurde. Ich musste auch einigermassen Bescheid wissen über den Aufbau der Bibel und ihren Kanon. Und welche Übersetzungen gab es? Was zeichnete diese oder jene Übersetzung aus? Was waren ihre Stärken und Mängel? Ich bekam ein theologisches Wörterbuch, das noch immer in meinem Bücherschrank steht. Ich halte es in Ehren. Schon damals war es ziemlich zerfleddert, ein uraltes Fischer-Taschenbuch aus dem Jahr 1957. Ich war nicht der erste Lehrling, der es in der Hand hatte. Da ich jedoch der letzte Lehrling war, der in der Evangelischen Buchhandlung seinen Abschluss machte, durfte ich es behalten. Ich weiss noch, wie ich mich am Wort "Transsubstantiation" festbiss. Stundenlang versuchte ich es korrekt auszusprechen. Unmöglich! Schon für Luther und Zwingli muss das ein Zungenbrecher gewesen sein. 

 

Die Evangelische Buchhandlung befand sich an der Schifflände 3, Ecke Marktgasse, nicht weit vom Wepf entfernt, einer Studentenbuchhandlung vor der Mittleren Brücke. Der Wepf war stadtbekannt, eine renommierte Adresse. Die Evangelische Buchhandlung kannte man nur, wenn man vom Fach war oder täglich dort vorüberkam, sei es im Tram oder zu Fuss. Sie war recht unscheinbar, etwas altmodisch und verstaubt, zurückgeblieben in einer Zeit, als die Herren noch Hornbrillen und die Damen Petticoats trugen. Der Laden war eng, das Büro noch enger, die Inneneinrichtung erinnerte an eine SAC-Hütte, solide Zimmerarbeit, klobig, handgeschliffen und etwas muffig. Ein mehrstöckiger Bücherkorpus nahm einen Grossteil der Ladenfläche ein, die Angestellten nannten ihn "Schlachtschiff" oder "das Floss der Medusa". Ohne Bücher wäre dieses Monstrum sehr unansehnlich gewesen. Der Schaufensterfront entlang ein Heizkörper, in dem das Wasser gurgelte. Bei Kanalisationsarbeiten hörte man die Arbeiter durch die Röhren und Radiatoren hindurch sprechen und fluchen. Und wenn oberirdisch mit einem Presslufthammer gearbeitet wurde, klapperte das ganze Metall. Dazu reichten aber auch schon die Trams. Ständig fuhren sie hier um die Kurve, je nach Witterung arg quietschend, und erschütterten das Fundament. Trotz der kleinen Eingangstreppe, die für Rollstuhlfahrer nicht gerade ideal war, schien die Strasse direkt in den Laden hineinzuführen. Man war hier mitten in der Stadt, mittendrin im Geschehen. Kunden und Lieferanten kamen und gingen den ganzen Tag. Der abgetretene Linoleumboden war mit Schleif- und Bremsspuren überzogen. Zwei verstaubte Sonnenstoren schützten den Aussenbereich, wo sich die Passanten an den Wühlkisten, Postkarten-Drehständern und Buchauslagen erfreuten. Über den Schaufenstern war eine schmale Einbuchtung mit einem Sims und einer Milchglasscheibe, durch die zusätzliches Tageslicht in den Laden fiel. Dieser Sims, der nur einmal im Jahr gereinigt wurde, zog schrecklich viele Fliegen an. Nach der Inventur musste der Lehrling oder die Lehrtochter hier hochsteigen, das ganze liegengebliebene Geschmeiss entfernen und alles schrubben und wischen. Im Büro klingelten Bakelit-Telefone, Museumsstücke mit Wählscheibe und Ringelkabel, und auf der Ladentheke stand eine mechanische Kasse, bei der man aufpassen musste, dass man sich nicht die Finger einklemmte. Es war eben alles ein bisschen verlottert in diesem Laden, an dem seit den späten Fünfzigerjahren - seit seinem Bestehen, um genau zu sein - nicht das Geringste verändert worden war. Es war noch alles in seinem ursprünglichen Zustand. Und das hiess natürlich, dass es nicht mehr der beste Zustand war. Vieles war einfach nur seltsam, unerklärlich dysfunktional. Unter jedem Pult stand ein Fussschemel, dessen Verwendungszweck ein Rätsel war. Es gab Stempelkissen, leere Tintenfässer, einen Vorrat an Aktenreitern und anderes nutzloses Zeug, und die mechanische Türglocke schepperte so laut, dass ich sie mit einer Socke umwickeln musste, wenn viel Betrieb war. Bei angenehmen Aussentemperaturen konnte ich die Tür mit dem Türstopper festmachen, sodass sie offenblieb. Doch in der Regel musste ich mit einer Socke und etwas Klebband dahinter. Und dann die Wandregale: dreieinhalb Meter hohe Ungetüme aus Massivholz. Die obersten Regale erreichte man mit einer Leiter, die an einer Schiene eingehängt war, mit Rollen oben und unten, durch die man den Aufstieg am richtigen Ort platzieren konnte. An beiden Bücherwänden, links und rechts vom Eingang, gab es eine solche Leiter mit entsprechender Vorrichtung. Für eine Buchhandlung eher untypisch. So etwas kannte ich sonst nur aus Bibliotheken und Archiven. Hier, in diesem kleinen Laden, war das auch ein Platz- und Sicherheitsproblem. Beim Abstauben, Büchereinräumen und Büchersuchen war ich immer sehr vorsichtig, im Gegensatz zu meinem Chef, der trotz seines fortgeschrittenen Alters sportlich genug war, um wie ein Flughund auf eine der Leitern zu springen, sich seitlich abzustossen, sodass die Leiter ein Stückweit nach links oder rechts sauste, und mit einem gewagten Sprung wieder auf dem Boden zu landen, wobei er sich mit ein paar torkelnden Tanzschritten auffing. Ein Bravourstück an Körperbeherrschung. Damit bewies er, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehörte. Dass er seinem fortgeschrittenen Alter mühelos zu trotzen verstand. Dass er noch fit und beweglich war wie eine dreizehnjährige Ballerina. Sportlicher als sein Lehrling war er allemal, das demonstrierte er mir täglich, und ganz offensichtlich war es auch seine Absicht, seinem Lehrling die richtige Arbeitshaltung vorzuführen. Was getan werden musste, musste nicht nur fehlerfrei getan werden. Es musste auch mit Schwung getan werden. Nur war leider der Platz dafür viel zu eng, Ein Stolperschrittchen nach dem Aufsetzen auf dem Boden, weil unvermutet eine Bücherkiste im Weg stand, und schon wischte mein Chef ein paar Bestseller vom Korpus oder knallte - wie ein Eisläufer, der nicht bremsen kann - gegen das Bestellpult, wenn nicht sogar in eine Kundin hinein. Letzteres zog eine wortreiche Entschuldigung nach sich, und die Kundin wurde mit einem Pro-Innerstadt-Gutschein entschädigt. So peinlich diese Stolpereien auch waren: meistens gingen sie glimpflich aus. Auch was den Materialschaden betraf. Zum Glück verkauften wir Bücher und keine Porzellanware. Ich selbst hielt mich beim Erklimmen der Leitern wohlweislich zurück. Ich traute diesem Leistersystem nicht, es hatte seine Tücken, zumal man oft über das oberste Regal hinausgreifen musste. Im Zwischenraum unter der Decke gab es ein zweites Zweitlager. Das erste Zweitlager befand sich im Sockel der Regalwände. Bei der Inventur musste man die beiden Zweitlager sauber auseinanderhalten. Und da durfte man auch den Estrich nicht vergessen. Der Estrich war das dritte Zweitlager. Wenn man im Laden etwas nicht finden konnte, war es womöglich drei oder vier Stockwerke weiter oben zu finden, vor der nach Westen gerichteten Dachlukarne, wo man einen wunderbaren Ausblick auf die Dachlandschaft der westlichen Stadtquartiere hatte. Das Universitätsspital neben dem Totentanz, das St. Johann- und Friedmattviertel, und dahinter das Elsass mit seinen Hügeln und Wolken. Rechts der Rhein mit seinen Frachtschiffen und den Industrietürmen von Kleinhüningen. Rauchfahnen schlängelten sich in den Himmel, und im Wasser schlängelten sie sich abwärts. Wenn ich hier oben etwas versorgen oder suchen musste, stieg ich durch eine unglaubliche Menge an Gerümpel hindurch und stellte mich ans Fenster wie ein Frosch, der nach Luft nach schnappt. Es war eng in dem Estrich, im Sommer auch stickig, und der Blick nach Westen oder Nordwesten tat gut. Es war der Blick ins Weite, nach Frankreich. Entriegelte man das Fenster, blies einem der Westwind ins Gesicht. Über den Dächern, Schornsteinen und Antennen zogen die Wolken dahin, je nach Wetter schneller oder langsamer, und manchmal standen sie auch nur da und liessen sich von der Sonne bescheinen. Und nur ganz selten war es wolkenlos, weil im Elsass bekanntlich das Wetter gemacht wird. Der Estrich war noch nie aufgeräumt worden. Bis unter die Dachbalken staute sich das Dekorationsmaterial: Stoffballen, Buchstützen, Weihnachtssterne, Weihnachtskugeln, Schaufensterpuppen, Fasnachtslarven und vieles andere mehr. Das dritte Zweitlager waren die Kartonschachteln mit Büchern und Magazinen, über deren Aufbewahrungszweck häufig gerätselt wurde. Manche dieser Bücher waren einfach Ladenhüter, die man hier oben zwischengelagert hatte. Andere Bücher waren eindeutig antiquarisch und längst ausrangiert. Und die alten Magazine, nun ja, nur der Chef wusste, wofür die noch gut sein sollten. Hie und da erwies er einem Kunden, einer Kundin einen speziellen Dienst, indem er eine alte Heftausgabe zu irgendeinem interessanten Thema hervorstöberte. Er wusste dann immer, welche Kiste er anheben, welchen Deckel er wegziehen musste. Auch im Durcheinander des Dekorationsmaterials fand er sich spielend zurecht. Er war der Einzige, der sich mehr oder weniger gezielt in die tieferen Schichten hineingraben konnte. Er hatte das alles im Kopf, das ganze Durcheinander, weil er von Zeit zu Zeit darauf zurückgreifen musste, wenn er die Schaufenster dekorierte. Eine Sache, die ihm sehr am Herzen lag. Eine Chefsache. "Bücher," pflegte mein Chef zu sagen, "verkaufen sich leichter, wenn sie appetitlich präsentiert werden. Nicht zuletzt auch mit Hilfe von Requisiten. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie es bei Matthäus heisst. Der Mensch muss auch hören und schauen. Vor allem aber schauen. Das Auge isst mit." Nach ein bisschen Wühlarbeit fand er im Estrich stets das richtige Requisit oder Hilfsmittel, eine spezielle Weihnachtskugel, einen vergammelten Vintage-Adventskalender, ein Seidentuch, einen aufblasbaren Gummiengel, eine Rolle Glanzpapierfolie etc. etc. Mein Chef hatte die Peilung einer Fledermaus, dazu die Rüsselnase eines Maulwurfs. Oder einfach nur den Spürsinn eines Menschen, der seit Jahrzehnten Inventur macht und Schaufenster dekoriert. Zweifellos gab es da irgendein heimliches System, auf das er sich verliess, wenn er mit Matthäus 7,8 ("Wer sucht, der findet") auf Schatzsuche ging. Seltsam war auch seine Methode der Geldaufbewahrung. Unter dem Bestellpult gab es einen Tresor für die Tageseinnahmen. Jedes Mal, wenn mein Chef das Geld versorgen wollte, musste er unter das Pult kriechen. In höchst unbequemer Körperhaltung, auf den Knien und mit schief geneigtem Kopf, stellte er am Drehrädchen den Zahlencode ein. Einmal ging die Tresortür etwas zu schnell zu und klemmte seine Krawatte ein. Durch eine ungeschickte Bewegung - er zerrte wie wild an der Krawatte - kam er auf den Rücken zu liegen, was die Sache noch schlimmer machte. Mit strampelnden Beinen lag er unter dem Pult und rief um Hilfe, bald schon röchelnd, weil ihm der straffer werdende Krawattenknoten die Luftröhre abschnitt. Alarmiert durch seine Hilferufe, sprang ich herbei, um an seinen Füssen zu ziehen. Wozu es glücklicherweise nicht mehr kam. Nach dem vielen Zerren sprang die eingeklemmte Krawatte endlich heraus, und meinem Chef gelang es, den Krawattenknoten zu lockern.

Neben mir, dem Chef und einer Lehrtochter, die im dritten Lehrjahr stand, arbeiteten in der kleinen Buchhandlung ein paar ältere Damen mit Teilzeitpensen. Sie schmissen den Laden, während der Chef seinen manchmal etwas undurchsichtigen Chef-Interessen nachging. Auf ihn konnte man nicht zählen, wenn alle Stricke rissen, auf die älteren Damen schon. Schneite eine unerwartete Lieferung herein, wussten sie sofort, was zu tun war. Kam ein Kunde, eine Kundin mit einer komplizierten Bestellung, warfen sie sich in die Bresche und nahmen sich des Falles an. Sie schaukelten das Kind. Für nichts waren sie sich zu schade. Von früh bis spät waren sie darum besorgt, dass der Laden lief. Es waren richtige Arbeitstiere. Die Frau Müller zum Beispiel. Sie prüfte die eingehenden Rechnungen und Gutschriften und töggelte dabei stundenlang in einen Tischrechner, aus dem sich ratternd eine Papierschlange wand. Auf ihrem Pult stapelten sich Bankabrechnungen und andere Belege, die sie in akribisch beschriftete Bundesordner ablegte. Als gelernte Buchhändlerin war sie jedoch sehr erpicht darauf, im Laden einzuspringen, wenn dies erforderlich war. Dann die Frau Scheidegger, die an der Kaufmännischen Schule Sortimentskunde unterrichtete, sofern sie sich nicht durch Herrn Erni vertreten liess, was hin und wieder vorkam, da sie ein grosses Pensum zu bewältigen hatte. Ihr Teilzeit-Pensum war schon fast ein Vollzeit-Pensum. Sie war die wichtigste Stütze des Chefs, eine Buchhändlerin mit Leib und Seele. Zuweilen war sie sehr vehement. Wie ein indischer Arbeitselefant benutzte sie gerne ihre Stosszähne. Stand eine Arbeit an, litzte sie die Ärmel hoch und machte nicht viele Worte. Wenn sie ins Stolpern kam, dann nur weil sie etwas fand, das "nicht stimmte". Fand sie etwas, das "nicht stimmte", so war das meistens etwas, das sie nicht fand. Wehe, ein Buch war nicht richtig eingeräumt! Da war sie dann ganz spitzfindig und kleinlich und pochte auf ein Ordnungssystem, das man einhalten musste. Oder die Frau Strehblow, die einzige Deutsche in der Buchhandlung. Sie wohnte in Efringen, in Grenznähe also, wobei sie ursprünglich aus dem schlesischen Riesengebirge stammte: eine kleine, handfeste, wuschelhaarige Frau, die man leicht übersehen konnte. Die Kunden hielten sie meistens für die Putzfrau. In Wirklichkeit war sie eine anerkannte Schriftstellerin. Ihr Erzählband "Matka mit den blossen Füssen" war unter ihrem Autoren-Namen Erle Bach in einem ostfriesischen Kleinverlag erschienen und hatte ihr eine lobende Kritik aus der Feder des grossen Siegfried Lenz eingetragen. Darauf war sie nicht wenig stolz. Es war der päpstliche Segen für sie, und trotzdem gelang es ihr nicht, wie eine Schriftstellerin auszusehen. Das machte ihr aber nichts aus, und es machte ihr auch nichts aus, dass ihr Buch an ihrem Arbeitsplatz nicht so richtig gewürdigt wurde. An Selbstbewusstsein fehlte es ihr nicht. Sie wurde an Schulen eingeladen, machte Lesereisen. Sie war eine gefragte Persönlichkeit, nicht nur ihrer feinfühligen Sprachkunst wegen, sondern auch wegen ihrer Herkunft und Lebensgeschichte. In der Öffentlichkeit sprach sie gerne über ihre schlesische Heimat. Nicht aber bei uns im Geschäft. Da hielt sie sich zurück, sie machte ihren Job, und es war ihr wohl auch bewusst, dass sie keinen Bestseller geschrieben hatte. In ihrem Buch zeichnete sie die Schicksalswege von Müttern in der Kriegs- und Nachkriegszeit nach. Trümmerliteratur, dachte ich. Nicht so mein Ding. Dabei wäre es vielleicht (denke ich heute) interessant gewesen, die Erzählungen zu lesen und diese unkomplizierte Frau nach ihrem Leben zu fragen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir Frau Werenfels: eine hochaufgeschossene, hagere, altmodisch gekleidete Dame mit unglaublich langem Schildkrötenhals und schmuckvoller Brille, deren Schildpattkette sie häufig um die dürren Finger schlang. Wenn sie etwas sagte, sagte sie es sehr bedächtig und überlegt, mit grossen Pausen zwischen den Sätzen und einer dünnen, heiseren Stimme. Sie liebte die kurze träfe Aussage, das Bonmot, mit dem sie etwas zusammenfassen oder auf den Punkt bringen konnte. - "Schönes Wetter, miese Laune." - "Wer Herpes nicht mag, benutzt lieber seine eigene Kaffeetasse." - "Bei uns reklamieren die Kunden, und im Zolli tanzen die Affen." - "Die einen verdienen, was sie bekommen, und die andern bekommen es umsonst." - Andererseits war das auch etwas umständlich. Will man etwas bündeln, es knapp und klar zusammenfassen, in einer Quintessenz, einem abschliessenden Satz, einer letzten klugen Bemerkung, muss man zuerst in einen ganzen Haufen von Dingen hineingreifen, muss dies und das in die richtige Ordnung bringen. Um das richtige Bonmot finden und platzieren zu können, musste Frau Werenfels jeweils lange überlegen. Und diese Überlegung fasste sie behutsam in Worte. Sie murmelte lange vor sich hin, bevor sie eine klare Äusserung machte. Unsicher und mit vielen Pausen tastete sie sich an die Schlussbemerkung heran. Und das Bonmot war dann quasi die Schlussbemerkung, eine Zusammenfassung in Schönschrift. Dazu passte, dass sie in der Freizeit nostalgische Stadtansichten malte, in der Manier naiver Malerei, mit putzig vereinfachten Biedermeier-Figuren, die vor dem Spalentor, dem Rathaus und anderen bekannten Basler Gebäuden umherliefen, mit Regenschirmchen und Hütchen, die Kinder mit Reifen spielend, eine Stadtidylle aus dem 19. Jahrhundert, aber eigentlich zeitlos, eine Lebkuchenidylle. Während meiner Lehre arbeitete sie gerade an einem Bilderbuch für Kinder. Ein paar Jahre später erschien es unter dem Titel "Em Schuggi sy Basel". Es wurde auf Anhieb ein Bestseller. Frau Werenfels durfte man nie unterschätzen. Während einer Kaffeepause empfahl sie mir Robert Walser, den ich noch nicht kannte. "Seine Sätze, also das müssen Sie gelesen haben. Wie der schreibt! Da fehlen mir die Worte, so eigen ist das! Ich glaube, das könnte Ihnen gefallen." Daraufhin las ich "Der Gehülfe", und von da an konnte ich nicht mehr aufhören, Robert Walser zu lesen. Für mich war das eine neue literarische Welt. Mit einem Ton, einem Sprachsound, wie ich ihn noch nie vernommen hatte. Auf einmal weitete sich mein Horizont. So war es mir auch bei J.R.R. Tolkien, Arthur Rimbaud, James Joyce und Franz Kafka gegangen. Und so ging es mir dann später bei Jean Cocteau, Stendhal, Urs Widmer, Thomas Bernhard, Gerhard Meier, Ludwig Hohl, Andreas Meier und Ror Wolf. Es gibt Autoren, die man entdeckt wie einen neuen Kontinent, den man nach und nach besiedelt. Auf dem man sich niederlässt, auf dem man sich ausbreitet. Es sind Autoren, die einen lebenslang begleiten. Damals war Robert Walser ein Volltreffer. Mit Literaturempfehlungen ist es ja so eine Sache. Was jemand toll findet und wärmstens empfiehlt, muss noch lange nicht das Gelbe vom Ei sein. Vor allem nicht für alle andern. Selbst massgeschneiderte Literaturempfehlungen können ganz gehörig danebengehen. Ich erinnere mich an einen Mitschüler, der total auf Hesse stand und mich unbedingt mit seiner Begeisterung anstecken wollte: ich solle den "Steppenwolf" lesen, die Titelfigur hätte eine grosse Ähnlichkeit mit mir, das Buch sei wie für mich geschrieben. Ich wurde neugierig, fühlte mich gebauchpinselt, und so stürzte ich mich in die spätpubertäre Hesse-Lektüre. Welche Enttäuschung! Alles bei Hesse passte in ein vorgefertigtes psychoanalytisches Raster. Ein Roman voller Plattitüden, reichlich abgedroschen, wie ich fand. Und dieser Harry Haller war doch nicht ich! Nie und nimmer! Ich getraute mich kaum noch, in den Spiegel zu schauen. Mit Hesse war ich endgültig durch. Während meiner Buchhändlerlehre tauschte ich mich rege mit andern Lehrlingen aus, und fast immer ging es dabei um die Frage: "Was liest du gerade?" Um in der täglichen Bücherschwemme nicht unterzugehen, handelte man mit Lesetips wie an der Börse. Ich kannte Lehrlinge, die etwa zehn Romane pro Woche lasen. Meistens ging das auf Kosten des Schlafs. Ich selber war kein Vielleser. Ich war eher ein Tiefleser, ein Gründlichkeitsleser. Anstatt zehn Bücher zu lesen, las ich lieber das gleiche Buch zehnmal. Es konnte vorkommen, dass ich wochenlang den gleichen, arg zerfledderten Gedichtband oder Roman mit mir herumtrug: wie ein Hund sein Kauspielzeug. An der Buchhändlerschule lernte ich Karim kennen. Er arbeitete in der Missionsbuchhandlung, der grössten theologischen Fachbuchhandlung der Stadt. Er war ein paar Jahre älter als ich, blitzgescheit und ein literarischer Connaisseur mit ganz eigenen Wertungen und Kriterien. Ich bewunderte ihn, weil er im Militärdienst in den Karzer gewandert war, wo er die "Bekenntnisse" von Augustinus gelesen hatte. Eine Leseerfahrung der besonderen Art. Er war jemand, der mit seiner Lektüre immer auf den Grund der Existenz ging. Das imponierte mir, und obschon wir nicht dieselben Autoren bevorzugten, hatten wir uns beide Kafkas Lesemotto zu eigen gemacht: "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." Vielleicht aber wäre ein anderes Kafka-Zitat passender für uns gewesen: "Das ist Literatur: Flucht vor der Wirklichkeit." Karim war ein Fan von Halldor Laxness, Charles Bukowski und Samuel Beckett. Er mochte es düster und karg, schwärmte von Island und Irland, von Whisky und Ale. Er zeigte mir seine Kurzgeschichten, ich zeigte ihm meine Gedichte. Wir schrieben ein bisschen um die Wette: ein Möchtegern-Bukowski und ein Möchtegern-Rimbaud. Das war mehr als nur Nachäfferei. Indem wir an wilden Texten herumbastelten, spielten wir die wilden Kerle, die wir im drögen Arbeitsalltag nicht sein durften. Eine Buchhändlerlehre machten wir nur deshalb, weil wir eingesehen hatten, dass das immer noch besser war als nichts. Für uns war der Buchhandel ein Strand, an den es uns nach einem Schiffbruch angeschwemmt hatte. Klar, immer noch besser als nichts. Aber sicher nicht das Ziel unserer Wünsche. Immerhin verstanden wir uns auf dieser Ebene recht gut. Erst als ich Robert Walser entdeckte, erlitt unsere Freundschaft einen Riss. Immer öfter sprachen wir aneinander vorbei. Karim missverstand Robert Walser als betulichen Sonntagsspaziergänger. Vergeblich versuchte ich diesen Eindruck zu korrigieren, indem ich die Mikrogramme, den Räuberroman, die wilde Experimentierlust dieses Autors ins Spiel brachte. Die mentale Nähe des Schweizerischen stand einem bei Walser manchmal im Weg. Wenn man die aber ausblendete, hatte man einen Autor, den man auf die gleiche Stufe wie Kafka und Joyce stellen konnte. Karim sah das anders. "Absolut unmöglich zu lesen! Wie der jedes Käferchen, Blümchen und Gräschen beschreibt! Kaum auszuhalten!" Was mich betraf, so ging es mir ähnlich, wenn ich Bukowski las. "Na hör mal, Karim. Findest du den wirklich gut? Zuerst säuft er sich die Birne voll, und dann beschreibt er seine Kotze." Literatur kann Menschen zusammenbringen. Sie kann sie aber auch trennen. Frau Werenfels hatte bei mir den richtigen Nerv getroffen. Und auch bei andern Leuten - oft sehr schwierigen Leuten - traf sie stets den richtigen Nerv. Einmal, da rannte sie einem Bücherdieb nach, als er sich mit vollgestopften Taschen davonmachte. Sie verfolgte ihn bis zum Fischmarkt und stellte ihn dort zur Rede. Reumütig gab er die geklauten Bücher zurück.

Ich war jetzt Lehrling in einer Sortimentsbuchhandlung und musste Bücher verkaufen. Was das hiess, merkte ich schon sehr bald. Nachdem ich etwa zwei Wochen lang nichts anderes getan hatte als Bücher abzustauben sowie die morgendlich eintreffende Ware auszupacken und einzuräumen und im Büro zwischen den Pulten und Aktenschränken Rechnungen einzuordnen, den Postversand zu besorgen und Bestellungen auszuführen, kam ich definitiv in den Verkauf. Oder besser gesagt: zu allem anderen kam nun auch noch das Beraten und Verkaufen hinzu. Mein erster Kunde war ein Japaner, der eine Ansichtskarte kaufte. Mein zweiter Kunde war eine Kundin, die sich nur mal kurz umschaute und wortlos wieder verschwand. Mein Chef, der mich aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, sprach von einer verpassten Chance. "Seien Sie nicht so schüchtern! Bücher sind Frauensache. Betritt eine Frau den Laden, müssen Sie die Gelegenheit beim Schopf packen. Frauen sind diejenigen, die uns den Umsatz bescheren. Sie haben zwar nicht das Geld, aber sie geben es mit beiden Händen aus..." Der dritte Kunde war ein verschwitzter Amerikaner mit einem Musterköfferchen. Er wischte sich das Gesicht mit seinem Einstecktuch ab und fragte nach der Mustermesse. "Over the bridge!" stammelte ich. "Over the bridge!" Danach kam jemand, der dringend mal musste. Kein Problem. Oberhalb der Schiffanlegestelle befand sich eine öffentliche Toilette, das sogenannte Schiffhäuschen. Gleich danach kam eine Kundin mit einer wirr zusammengesteckten Vogelnest-Frisur und Birkenstock-Sandalen, meine erste richtige Kundin, unschwer als Anthroposophin zu erkennen. Bevor sie überhaupt etwas sagte, dachte ich: das ist die falsche Buchhandlung, Madame. Ich zeigte ihr die wenigen anthroposophischen Schriften, die wir an Lager hatten. Es war ungefähr das Quantum Bücher, das in eine Hand passte. Wir waren nicht gerade führend auf diesem Gebiet. Danach kam ein Mädchen, das einen lustigen Sticker wollte. Nein, hatten wir nicht. Ich schickte sie zum Jäggi, der grössten Buchhandlung der Stadt. Zu spät begriff ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Mein Chef wies mich umgehend zurecht. "Empfehlen Sie niemals den Jäggi. Wenn der auch noch davon profitiert, dass wir unsere Kundschaft zu ihm schicken, können wir den Laden bald einmal zumachen!" Kurz darauf kam wieder ein Japaner mit einer Ansichtskarte, der zweite Japaner innerhalb von zehn Minuten, und es war die gleiche Ansichtskarte, die ich eben erst seinem Landsmann verkauft hatte. Sie zeigte die Mittlere Brücke mit dem Nepomuk-Häuschen. Langsam wurde mir klar, weshalb wir diese Ansichtskarte ständig nachbestellen mussten. In Japan hing sie wahrscheinlich an jedem zweiten Kühlschrank. "Nepo-muk, Nepo-muk," sagte der Japaner und strahlte mich an. Nach ihm kam ein Kunde, der einen Hut kaufen wollte. Oder ein Brot. Und so ging das stundenlang weiter. Erst nach und nach lernte ich auch die interessanteren Kunden kennen. Zum Beispiel den Dramatiker Rolf Hochhuth. Mit unserm Chef verband ihn eine langjährige Freundschaft. Eine Zeitlang hatte er in Riehen und Basel gelebt, und auch für sein Schaffen als Theaterautor war die Stadt am Rheinknie eine wichtige Station gewesen. Man könnte sogar von einem dramatischen Höhepunkt sprechen. 1963, anlässlich der Aufführung seines damals heftig umstrittenen Schauspiels "Der Stellvertreter" am Stadttheater Basel, hatten erzürnte Katholiken einen Protestumzug durch die Innenstadt veranstaltet. Das Medienecho war riesig gewesen, und es hallte noch immer nach, vor allem bei uns an der Schifflände, wo mein Chef andauernd auf diesen Theaterskandal zu sprechen kam, der kaum noch für rote Köpfe sorgte, aber nach wie vor den idealen Aufhänger für eine Diskussion über Verdrängung, Schuld und Geschichtsvergessenheit abgab. Papst Pius XII. und seine fragwürdige Haltung zum Holocaust: das war noch längst nicht vom Tisch. In der Evangelischen Buchhandlung machte Hochhuth immer nur eine Stippvisite, er schwatzte ein bisschen mit dem Chef und verschwand wieder, ein alter Bekannter auf Durchreise. Die normalen Stammkunden kamen etwas häufiger vorbei, und sie nahmen sich sehr viel Zeit, weil sie eine Art von Betreuung brauchten, eine fachliche Beratung, die mein Chef - ganz der versierte Buchhändler - in ein weit ausuferndes persönliches Gespräch zu verwandeln wusste. Professor Wagner, Spezialist für Altjudaistik, erkundigte sich immer nach Flavius Josephus, den römisch-jüdischen Historiker aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Sobald man es mit Professor Wagner zu tun bekam, merkte man, dass es bei ihm kein anderes Thema gab. Im Gespräch mit ihm erfuhr man alles über Flavius Josephus, der in doppelter Hinsicht von historischem Interesse war: er war ein Historiker, der selber historisch war. Über das Historische im Historischen bei Flavius Josephus gab Professor Wagner erschöpfend Auskunft. Er tat das sehr freundlich, fast ein bisschen schüchtern, mit fein gewählten Worten. Und jedes Mal brachte er einen besonders erwähnenswerten, bis anhin jedoch noch kaum beachteten Aspekt zur Sprache, irgendein Detail, über das er, wie er sagte, schon seit geraumer Zeit nachgrüble, das ihn kaum noch loslasse. Selbst nachts, wenn er wegen seiner schnarchenden Frau nicht schlafen könne und an den Kühlschrank gehe, denke er darüber nach, spuke es in seinem Kopf herum. Bei uns, in der Buchhandlung, gab es keine schnarchende Frau, die ihm gleichgültig den Rücken zudrehte. Bei uns fand er Verständnis und Zuspruch, Die höchste Form platonischer Zuwendung. Wir zeigten ihm Verlagsankündigungen, diskutierten mit ihm geplante Neuerscheinungen, recherchierten hin und wieder nach einem vergriffenen Titel. Alles von oder über Flavius Josephus fiel in unsern Zuständigkeitsbereich, so wie es auch in den Zuständigkeitsbereich von Professor Wagner fiel, wobei das etwas untertrieben ist: eigentlich war Flavius Josephus alles, womit sich Professor Wagner seit Jahren beschäftigte, es gab für ihn nichts anderes, und als er einmal sagte, er suche eine Ferienlektüre, er reise demnächst mit seiner Frau nach Ibiza, empfahl ihm mein Chef - und er meinte das nicht einmal ironisch - ja was wohl? Ein Buch über Flavius Josephus! Dann gab es noch den Seeräuber, einen bärtigen Freizeit-Theologen mit Augenklappe, der mich nur ansprach, wenn der Chef nicht da war. Aber auch dann wünschte er allen Anwesenden einen wunderschönen guten Tag und machte eine angedeutete Verbeugung aus der Hüfte heraus. Ob der Chef da sei? Ob er zu sprechen sei? Ob ich ihn rufen könne? Ob er vielleicht kurz Zeit hätte? Nur kurz? Für einen alten Freund? Einen treuen Kunden? Einen Seeräuber des Geistes? Er befingerte seinen Bart und schaute eifrig um sich, als könnte sich der Chef hinter einem Stuhl oder unter der Ladentheke versteckt haben. Es war ihm eigentlich nicht recht, dass er nach dem Chef fragen musste. Er tat das nicht aus Hochnäsigkeit, er war ausgesprochen freundlich, er stiess niemanden weg und schloss auch den Lehrling in seine freundliche Begrüssung ein. Wenn er nach dem Chef verlangte, wollte er lediglich jemanden zum Palavern haben, und das musste natürlich jemand sein, der ihm ebenbürtig war, wofür in diesem Laden nur der Chef in Frage kam. Wenn der Seeräuber im Laden auftauchte und der Chef gerade im Büro war, wo er vielleicht Verlagskataloge studierte oder das Farbband seiner mechanischen Schreibmaschine auswechselte, brauchte man ihn bloss zu rufen - und er liess alles stehen und liegen, um sich der Kundenpflege zu widmen. Die Kundenpflege war ihm wichtig, sie war Chefsache. Zwischen den beiden entspann sich dann jeweils eine längere Unterhaltung theologischen Inhalts, und mit etwas Glück gelang es meinem Chef, den kirchenkritischen Nerv des Seeräubers zu treffen und den neusten Küng oder Drewermann in Anschlag zu bringen, einen 1000 bis 2000 Seiten starken Wälzer, der wie ein Ziegelstein in der Hand lag. Genau das Richtige für den Seeräuber.

Obwohl der Seeräuber ein gepflegtes Baseldeutsch sprach (voller I-Tüpfli und Nasallaute) und über das nötige Kleingeld verfügte, um sich regelmässig einen "Schungge" (Wälzer) kaufen zu können, stammte er vermutlich nicht aus dem Basler Daig. Auf mich wirkte er eher wie ein abtrünniger Katholik mit abgebrochenem Theologiestudium. Andererseits passte er gut in unsere Stammkundschaft hinein, in der der Basler Daig überproportional vertreten war. Ein komischer Vogel, aber stinkreich. Man sah diesen Leuten selten an, dass sie Millionäre waren. Die meisten kleideten sich betont unmodisch und wirkten auch sonst ein bisschen schlampig. Schlampig auf die altbackene Art. Nicht ungepflegt, aber ein bisschen schäbig oder schräg, leicht neben den Schuhen. Mit ihren schlecht sitzenden Hosen, karierten Socken, ausgebeulten Jacketts und fehlenden Hemdknöpfen schienen sie direkt jenem Filmsketch von Monty Python entsprungen zu sein, der die sogenannten "Trottel der feinen Gesellschaft" aufs Korn nimmt. Und dann die Frisuren! Vermutlich schnitten sie sich ihre Haare selber, und das nicht einmal vor dem Spiegel. In der Stadt, in der sie heimlich regierten, konnte man sie an allen möglichen Orten antreffen. Auch an unerwarteten Orten. Mitten im dicksten Alltagsgewühl materialisierten sie sich mit ihrem näselnden Baseldeutsch und machten auf sich aufmerksam, in der Metzgerei Kuhn genauso wie im Kollegienhaus, in der Evangelischen Buchhandlung genauso wie an der Herbstmesse und dort vorzugsweise am weltberühmten Käsküechli-Stand der Familie Wacker, und nie schlugen sie Wurzeln. Immer waren sie "pressiert", immer mussten sie "weiter", immer waren sie "auf dem Sprung", immer wollten sie nur schnell mal "Hallo sagen", weil sie in einer wichtigen Angelegenheit unterwegs waren, gefragte Persönlichkeiten, Honoratioren, die von Anlass zu Anlass hüpften, den Spalenberg hinauf und den Spalenberg hinunter, vom Gross- ins Kleinbasel, von der Wettstein- zur Dreirosenbrücke, von hier nach dort und wieder zurück. Im städtischen Veranstaltungskalender war immer etwas los, an jeder Strassenecke eine Vernissage, eine Tombola, eine Degustation oder eine Ladeneröffnung, da musste man mit von der Partie sein und sein Interesse bekunden. Weil ihr Daheim die ganze Stadt war, hatten sie immer etwas Proviant, eine Thermoskanne und einen Schmöker dabei. In der Regel trugen sie diese Sachen nicht in Handtaschen, Aktenmappen oder Rucksäcken mit sich herum, sondern in zerknitterten, schon mehrfach gebrauchten Gratis-Plastiksäcken aus Detailhandelsgschäften und Warenhäusern. Wenn man nicht wusste, wer das war, konnte man diese Leute für Tagediebe halten, für Langzeitstudenten oder Frühpensionäre, die irgendwelchen versponnenen Interessen nachgingen. Die meisten waren berufstätig, aber ihre wahre Berufung zielte weit über den Lohnberuf hinaus. Sie lebten mit Herz und Seele für die Stadt Basel. Unter ihnen gab es Ärzte, Rechtsanwälte, Pharmazeuten, Banker, Hochschullehrer, viele Gutverdiener, und fast alle waren Grossaktionäre, Erbbegünstigte, Ehrenzunftsleute und Mäzene. Gemachte Leute. Aber von Schick oder Eleganz keine Spur. Ihre Vornehmheit drückte sich eher in einem exzentrischen Verhalten aus. Dafür waren sie ja bekannt und berüchtigt. Allerdings war das selten ein Thema. Auch mein Chef äusserte sich eher zurückhaltend über den Basler Daig. Obwohl er einen regen Umgang mit ihm hatte, empfand er ihn als fremdartig oder sogar befremdlich, und nur ganz selten liess er durchblicken, dass ihn diese Fremdartigkeit auch ein bisschen faszinierte. Was er über die Burckhardts, Merians oder Staehelins erzählte, klang wie ein Volkshochschulreferat über die altägyptischen Königsfamilien. "Die sind halt ein bisschen komisch," sagte er, wenn er mal wieder einen merkwürdig gekleideten Menschen bedient hatte, der mit Herr oder Frau Doktor angesprochen werden wollte, aber dann doch nur einen Ramschroman kaufte. Bis anhin war der Basler Daig eine geschlossene Gesellschaft gewesen. Er hatte zwar überall seine Finger drin, liess sich jedoch selten in die Karten blicken. Das oberste Gebot hiess Diskretion. 1988, in meinem ersten Lehrjahr, erschien das Enthüllungsbuch "Die Frau des Geliebten der Mutter" der 86jährigen Diane d'Henri. Die alte Dame, die mit richtigem Namen Marie Louise Staehelin hiess, liess eine Bombe platzen. Kurz nach der Jahrhundertwende war sie in eine der vornehmsten Basler Familien hineingeboren worden. Ein Privileg mit Schattenseiten. Sie wuchs in einem goldenen Käfig auf und wurde sehr jung mit einem Grosscousin verheiratet, einem gewissen Nicolas Schlumberger, Jurist und Kavallerieoberst im Generalstab. Der entpuppte sich als unverbesserlicher Playboy. Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, musste sie miterleben, wie er sie mit ihrer Mutter betrog. Doch damit nicht genug. Nachdem sie die Scheidung erzwungen hatte, wurde sie von ihrem Clan verstossen und um ihr ganzes Vermögen gebracht. Als das nun alles enthüllt wurde, entstand in Basel eine riesige Aufregung. "Er ist halbnackt. Greift zur silbernen Whiskyflasche, trinkt. Ich setze mich auf. Er steht am Ende des Bettes...." Die Mischung aus Voyeurismus und Skandalisierung war perfekt. Vergeblich hatten die betroffenen Familien ihren ganzen Einfluss geltend gemacht, um die Veröffentlichung zu verhindern. Der Verlag Zytglogge, damals noch mit Hugo Ramseyer an der Spitze, war kein Basler Verlag. Er konnte dem Druck standhalten und das Buch herausgeben. Jetzt war es da, und die Leute stürmten die Buchläden. Ich kann mich noch gut an die unfreiwilligen Verballhornungen des Titels erinnern. Während er von Mund zu Mund ging, kamen immer weitere Varianten in Umlauf. "Die Mutter der Frau des Geliebten." - "Der Bruder der Schwester der Geliebten." - "Die Frau der Geliebten der Mutter." - "Die Geliebte der Mutter der Frau" - "Der Geliebte der Frau der Mutter" etc. etc. Mein Chef hatte seine helle Freude daran. Aus der Kassenlade quollen die Geldscheine, und die Türklingel musste ich mit der dafür vorgesehenen Socke umwickeln, sonst hätte uns das ständige Ding-Dong in den Wahnsinn getrieben. Was auffiel: viele Leute, die sich auf das Buch stürzten, hiessen Burckhardt, Merian oder eben auch Staehelin. Trotz allen Enthüllungen und der ganzen Pikanterie - oder vielleicht gerade deswegen - war das Buch auch ein bisschen prüde, eine Lektüre für den Teetisch alter Tanten. Es passte gut in unser Sortiment. Die Evangelische Buchhandlung war im Basler Daig eine beliebte Adresse. Nicht nur wegen der theologischen Ausrichtung und der prüden Atmosphäre. Manche Burckhardts, Merians oder Staehelins liebten diese Buchhandlung vor allem deswegen, weil sie im pulsierenden Herzen von Basel lag, an der Haltekante verschiedener Tramlinien und neben der Schifflände und dem Lällekönig. Manchmal besuchten uns zwei Schwestern, gnomenhafte weibliche Wesen undefinierbaren Alters. Beide hatten einen Doktortitel, obwohl sie geistig etwas zurückgeblieben waren. Unmöglich konnten sie auf normalem Wege habilitiert haben. Man munkelte, sie hätten den Doktortitel durch gewisse Begünstigungen erhalten. Mein Chef sprach jede von ihnen mit "Fräulein Doktor" an und stellte ihnen zwei Stühle hin, damit sie in Ruhe Bücher anschauen konnten. "Typisch Basler Daig," sagte er, als wir unter vier Augen waren. "Das kommt dabei heraus, wenn der Sohn der Mutter die Tochter des Vaters heiratet."  

Hin und wieder verlangte ein emeritierter Theologieprofessor eine Hauslieferung. Dann packte ich die bestellten Bücher in ein Einkaufswägelchen, hüllte mich in meinen Coolman-Mantel und marschierte los. Bis weit ins Frühjahr hinein trug ich diesen Mantel, den ich Coolman-Mantel nannte, weil ich felsenfest davon überzeugt war, dass er mir ein cooles Aussehen verlieh. Mit dem Trenchcoatverschluss konnte ich allerdings nicht viel anfangen, ich liess ihn offen und trug den Mantel wie einen Umhang. Beim Arbeiten war ich meistens etwas träge und träumte gerne vor mich hin. Aber sobald ich draussen war, fiel das von mir ab, und die Lebensgeister kehrten zu mir zurück. Schon damals war ich ein Schnellgeher, der jeden überholen musste, der vor ihm ging, und sobald ich mit meinem Coolman-Mantel auf der Überholspur losmarschierte, verwandelte ich mich in eine dunkel verhüllte, dramatisch dahineilende Comicfigur, in Zorro oder Batman. Weil sich der Mantel durch die Beschleunigung mit Luft füllte und sich zu seiner doppelten Grösse aufblähte, verlor er seine isolierende Wirkung. Er sah cool aus, gab aber kein bisschen warm. Das störte mich nicht. Wer cool sein möchte, muss frieren können, sagte ich mir. Sobald ich den Haltegriff des Wägelchens richtig in der Hand hatte, flog der Asphalt unter meinen Schuhen nur so dahin. Hops, über die Trottoirkante. Hops, über die nächste Trottoirkante. Das machte ich am liebsten. Ich war gerne an der frischen Luft. Wie auch an der verlängerten Leine eines Auftrags, den ich selbständig ausführen konnte. Ausserdem war ich neugierig auf die Stadt. Ich war gerne in Bewegung und an Orten, die ich noch nicht kannte. Was kannte ich denn von Basel? Ein paar Plätze und Strassen, Aeschenplatz, Heuwaage, Steinenvorstadt, Barfüsserplatz, Freienstrasse, Treffpunkte für den Ausgang, Begegnungsorte, die wichtigsten Baudenkmäler, den Lällekönig, (klar, den kannte jedes Kind), die wichtigsten Tramverbindungen, den täglichen Weg zum Bahnhof. Ich nutzte die Gelegenheit, um ein bisschen herumzukommen. Ausserdem gab es reichlich Trinkgeld. Dort, wo ich die bestellten Bücher hinbrachte, wurde nicht geknausert, wenn es um Kleinbeträge ging. Das Schönste war aber die Abwechslung. Endlich bekam ich auch mal etwas anderes zu Gesicht als immer nur die Bücherstellage des kleinen Ladens, der wie ein Käfig war, in dem man die ganze Zeit herumturnte. Zum Glück gab es noch die Kaufmännische Schule, wo ich im Unterricht angenehm vor mich hindämmern konnte. Ohne Leistungsdruck. Aber das waren nur zwei Tage pro Woche. Die Arbeitszeit kam mir unendlich lang vor. Manchmal setzte ich mich auf dem Petersplatz, auf dem Barfüsserplatz oder vor der Martinskirche kurz hin, um eine zu rauchen und die schönen Fassaden zu betrachten, die sandsteinroten Türmchen, Simse und Erkerchen, die aus jedem Gebäude herauswuchsen. Und hinter all den Mauern und verschachtelten Dächern sah ich da und dort ein bisschen Grün, ein Vordach mit Weinranken, ein paar Kübelpalmen, eine schattige Ulme. Basel bestand auch aus Hinterhöfen und privaten Gartenrefugien. Danach ging es weiter, über holpriges Kopfsteinpflaster, über Strassen, an Verkehrsinseln vorbei und auf nicht enden wollenden Trottoirs bis in eines der nobleren Aussenquartiere, wo die professoralen Herrschaften in ihren Herrschaftshäusern und Studierstuben auf die bestellten Bücher warteten. Oder eben auch nicht. Manchmal kam es mir so vor, als befolgten sie die Anweisung aus Matthäus 6, Vers 2-3, wo es heisst, dass die linke Hand nicht wissen soll, was die rechte tut. Nahmen sie die Bücher in Empfang, taten sie immer etwas zerstreut, als könnten sie sich nicht mehr so genau an die Bestellung erinnern. "Bücher? Für mich? Ach so. Das sind ja die Bücher, die ich bestellt habe! Wie lustig! Wo hab ich bloss meinen Kopf!" Mit einem tatterigen Lachen suchten sie in ihren Sachen herum und drückten mir schliesslich eine zerknitterte Zehnernote in die Hand. "Für Sie, junger Mann. Gönnen Sie sich ein Croissant." Und alles weitere war dann nicht mehr so klar verständlich: die Verabschiedung bestand aus einem Gebrummel, das auch ein Selbstgespräch sein konnte. Nach einem kurzen lichten Moment der kommunikativen Anteilnahme versanken sie wieder in ihren Gedanken, ihren Buchstabenwelten und Papierbergen, ihren Studien, Textarbeiten und Lektüren, ihren Traktaten, Monatsschriften, Moralpredigten, Monografien, Exegesen und Synopsen, wobei sie an Dinge anknüpften, von denen ich keine Ahnung hatte, obwohl sie doch mein täglich Brot waren. Die emeritierten Theologieprofessoren waren freundlich, wenn auch etwas konfus. Wenn sie nach der Trinkgeldübergabe noch etwas sagten, war ich nie ganz sicher, ob sie nur mit sich selbst sprachen oder auch mit mir. Ein Selbstgespräch zu belauschen, kam mir irgendwie indiskret vor. Ich merkte: das sind Menschen, die in höheren Sphären zu Hause sind. Dort, wo man über das Göttliche und Ewige nachdenkt. Über das Unaussprechliche, wie zum Beispiel die "Transsubstantiation". Die meisten dieser Professoren waren verheiratet und hatten Kinder. Das fand ich ziemlich erstaunlich. Irgend etwas an ihnen musste dann auch normal sein. Musste normal funktionieren können. Aber was genau? Wie zeugten solche Menschen Kinder? Wie musste man sich einen Zeugungsakt vorstellen, in den ein Theologieprofessor verwickelt war? Ein pensionierter oder emeritierter Theologieprofessor hatte das natürlich schon lange hinter sich. Mit einem Fuss stand er praktisch schon im Himmel. Wobei der eigentliche Himmel für ihn der Buchstabenhimmel war, bedrucktes Papier zwischen zwei Buchdeckeln. Endlose Lektüren, endlose Denk- und Schreibarbeit. Arbeiten die immer noch an der Reformation? fragte ich mich. In Basel gab es mindestens drei von ihnen; einer war schon über neunzig Jahre alt und hatte gute Aussichten, das biblische Alter von Methusalem, Jered oder Noach zu erreichen. Als bibelkundige Menschen wussten diese Herrschaften, dass ihr Alter ein Gütesiegel war. In die Buchhandlung kamen sie nie. Ihre Bestellungen tätigten sie schriftlich oder per Telefon. Wenn ich einen emeritierten Theologieprofessor am Telefon hatte, erkannte ich das meistens daran, dass am anderen Ende der Leitung lange gehustet, gewürgt und geschnieft wurde, mit einzelnen Wortbrocken dazwischen, denen ich undeutlich entnehmen konnte, dass da jemand Bücher bestellen wollte. Aus diesem Gebrabbel die eine oder andere zweckdienliche Information herauszufischen, war gar nicht so einfach. Es war eine logopädische Herausforderung. Wenn ich Glück hatte, las der Herr Professor eine Liste mit pfannenfertigen Titeln herunter. Dann musste ich lediglich die Ohren spitzen und möglichst genau mitschreiben. Die Schwierigkeit bestand auch darin, dass es nicht die geläufigsten Titel waren, die da genannt wurden. Oft waren sie mit Fremdwörtern gespickt, und oftmals war es mit der Pfannenfertigkeit nicht allzu gut bestellt. Dann nämlich, wenn die Angaben unvollständig oder falsch waren, weil die Herren Professoren es nicht für nötig befanden, sich mit den Profanitäten des korrekten Bibliographierens abzugeben. Und immer waren es Bücher über das Höchste und Unaussprechliche, zum Beispiel die "Transsubstantation". Und bitte mit Heimlieferung! Niemals hätten sich die emeritierten Theologieprofessoren in die Niederungen des normalmenschlichen Umgangs begeben, in die profane Sphäre der Erdfüssler, wo man arbeitete, einkaufte, spazierte, Kinderwägen herumschob und Joints rauchte. Wenn sie sich ausserhalb ihrer Studierstuben und Schreibkammern blicken liessen, eilten sie wie in geheimer Mission durch die Altstadt und dem Münster entgegen. Im ehemaligen Domherrenhaus, wo die Allgemeine Lesegesellschaft untergebracht war, befassten sie sich mit Johannes Oekolampad, Erasmus von Rotterdam, Jakob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Karl Jaspers und Karl Barth. Oder sie gingen noch weiter zurück, bis zu den Scholastikern und dem Basler Konzil. Auf der Suche nach dem Göttlichen und Ewigen verkrochen sie sich hinter dicken Folianten und nahmen sich sehr viel Zeit, um durch den Staub von Jahrhunderten zu blättern. Oder sie vertieften sich in die Neue Zürcher Zeitung, die dort immer auflag, und schauten hin und wieder verstohlen um sich, als könnten sie bei einer heimlichen Ketzerei erwischt werden. 

Morgens um halb acht betrat mein Chef den Laden. Täglich fuhr er mit dem Velo zur Arbeit. Eine Form von Frühsport, die einen gleitenden Übergang vom Küchentisch zum Arbeitsplatz ermöglichte und auch noch den Vorteil hatte, dass sie zeitsparend war. Mit dem Tram wäre er wesentlich länger unterwegs gewesen. Er traf immer vor seinen Angestellten ein, er war schliesslich der Chef und Ladeninhaber. Aus lauter Zerstreutheit und weil er morgens immer alles Mögliche in Angriff nahm - zuerst zwei Kiwis auslöffeln, dann die Post öffnen, dann die Schaufenster kontrollieren, dann die Angestellten instruieren etc. etc. - vergass er zuweilen die Hosenklammern abzunehmen. Dann stolzierte er stundenlang mit seltsam unpassenden Hosen - mit staksig wirkenden, hoch gerafften Hosenbeinen - durch den Laden, ein Jacques Tati des Buchhandels. Die Hosenklammern begleiteten ihn durch den ganzen Vormittag, ohne sich bemerkbar zu machen. Aber man sah sie trotzdem. Er stolzierte damit hin und her, schob Buchstützen herum, schwatzte mit dem Postpaketboten oder dem Buchlieferanten, besprach mit den Angestellten die Posttarife oder die Feiertagsregelung, inspizierte die Wühlkisten, wechselte die Bücher in den Vitrinen aus, vertiefte sich in ein Kundengespräch, bediente an der Kasse und hielt dem Lehrling einen Vortrag, und immer noch trug er diese Hosenklammern, und niemand machte ihn darauf aufmerksam, niemand hatte den Mumm zu sagen: "Gestatten Sie, Sie haben da was am Hosenbein. An beiden Hosenbeinen." Es wäre schwierig gewesen, seinen Schwung zu bremsen, und es wäre auch unnötig gewesen: die Hosenklammern entstellten ihn keineswegs. Sie passten zu ihm. Sie unterstrichen seine Sportlichkeit. Man sah gleich, dass das ein Mensch war, der den inneren Ruhepunkt nur in der Bewegung fand und sich jederzeit aufs Velo schwingen und davonradeln konnte. Im Sommer schwamm er im Rhein. Mehrmals kam er nach der Mittagspause in einem lose verschnürten Bademantel über die Strasse gerannt, tropfend wie ein nasser Hund. Er kam direkt aus dem Wasser, gleich gegenüber war ja die Schifflände, wo nicht nur das Passagierrheinschiff anlegte, sondern hin und wieder auch mein Chef, wenn er sich - rheinaufwärts, wie ich mir vorstellte - durch die grünliche Flut gekämpft hatte. Es kann aber auch sein, dass er etwas weiter unten aus dem Wasser stieg, Richtung St. Johann, wo es für Schwimmer nicht so gefährlich war. Mein Chef war vielleicht überdurchschnittlich sportlich, aber sicher nicht lebensmüde. Bei jedem Rheinschwumm liess er sich von seiner Frau assistieren, die ihm nach erfolgter sportlicher Betätigung ein Frottiertuch, den Bademantel und ein isotonisches Getränk überreichte. Keine fünf Minuten später wieselte er wieder mit Anzug und Krawatte durch den Laden und motivierte sich selbst und die Angestellten mit einem Goethe-Zitat: "Nur rastlos betätigt sich der Mann!" Kamen die Angestellten - mit Ausnahme des Lehrlings waren das ja ausschliesslich Frauen - nach dem Mittagessen nicht so richtig auf Trab, konnte die Dosierung erhöht werden. "Erfolg hat drei Buchstaben: Tun!" Sein Lieblingszitat hätte man ohne weiteres als Leitspruch für den Buchhandel verwenden können: "Und nun, über Gräber vorwärts!" Bücher zu verkaufen, war so ziemlich das unlukrativste Geschäft, das man betreiben konnte. Täglich musste man die Hoffnung begraben, eine tolle Bilanz erzielen zu können. Man musste sich einreden können, man liebe Bücher und tue das aus Idealismus. Dabei war es ein fortlaufendes Schreiten über Gräber hinweg. Man könnte auch von einem Ritt über den Bodensee sprechen. Vorwärts, vorwärts, nur nicht bänglich werden und zurückschauen! Nicht allen Buchhandlungen ging es gleich schlecht. Ein paar wenige genossen einen Platz an der Sonne, weil sie Grossbuchhandlungen waren. Entsprechend ihrer Ladengrösse hatten sie die Möglichkeit, mit üppigen Mengen zu hantieren. Der Jäggi zum Beispiel konnte seine Bücher einfach zu riesigen Bergen aufstapeln, und das war schon alles, was er bewerkstelligen musste, um die Kasse zu füllen. In einer kleineren Buchhandlung, wo der Platz beengt war und man die Leute nur schwer dazu bringen konnte, sich selber zu bedienen, musste man für jedes einzelne Buch, das man verkaufen wollte, den Kopfstand machen, für jeden "Gingernillis", wie man auf Baseldeutsch sagt, musste man durch den Feuerreifen springen, und da war Goethes Maxime eine grosse Hilfe. Wenn man schon zum Scheitern verurteilt war, dann durfte man nicht auch noch am Scheitern scheitern. Nach jedem Fehlschlag, jedem Schlag ins Wasser, jedem Schuss in den Ofen und jeder Bauch- und Bruchlandung hatte man die Pflicht, sich auf die Hinterbeine zu stellen mit einem trotzigen "Jetzt erst recht". Und wenn es dann doch nicht besser wurde und die Pechsträhne einfach nicht aufhören wollte, war Goethe derjenige, bei dem man sich Trost und Rat holen konnte. Du darfst scheitern, kleiner Buchhändler, sagte Goethe, aber wenn du scheiterst, dann bitte mit Elan, mit Begeisterung. Und vor allem mit einer gehörigen Portion Dramatik: damit eine kathartische Wirkung entsteht. "Über Gräber vorwärts." Für jede Gelegenheit hatte mein Chef das passende Goethe-Zitat. Seine Quelle: "Mit Goethe durch das Jahr." Im Grunde genommen war Goethe das Sesam-öffne-dich für meine Buchhändlerlehre gewesen. Im Bewerbungsgespräch hatte ich Goethe erwähnt. In welchem Zusammenhang weiss ich nicht mehr. Aber es hatte gewirkt. Sekunden später hatte ich die Lehrstelle. Meine mittel- bis saumässigen Schulnoten waren wie ausradiert. Der fehlende Schulabschluss: nicht der Rede wert. Wie auch die Tatsache, dass ich im Bewerbungsschreiben den Namen des Chefs falsch geschrieben hatte. Kann halt passieren. Schwamm darüber! Ich musste nur noch den Lehrvertrag unterschreiben.

Gut, ich hatte eine sichere Lehrstelle. Aber was hiess das schon? In der Evangelischen Buchhandlung waren die Umsätze rückläufig. Nicht mal die Ramschbücher verkauften sich gut. Genaueres wusste man nicht, aber es war zu vermuten, dass sich hinter dem Tagesgeschäft, das zwischendurch auch mal ganz passabel war, ein Unheil zusammenbraute, für die Angestellten nicht weiter problematisch, aber für den Chef, der für alles verantwortlich zeichnete und einen vorausschauenden Blick haben musste, dann doch ein Grund zu tiefer Beunruhigung. Wenn es so weitergehe, sei es mit dieser Buchhandlung bald einmal Matthäi am Letzten, hörte man ihn zuweilen jammern. Ein starker Wind ziehe auf. Über dem Elsass stünden bereits die Gewitterwolken. Man durchwandere das Jammertal, befinde sich auf Talfahrt, im Tal der Tränen, in einem Schloss voller Dornen und Disteln, man habe beinahe schon den Tiefstand erreicht, den umgedrehten Scheitelpunkt rückläufiger Verkaufszahlen. Schlimmer könne es kaum noch werden. Die Schwerkraft sei immens. Man stemme sich gegen den Sisyphusstein, müsse die Hochwasserstiefel anziehen etc. etc. Mag sein, dass er etwas übertrieb. Solche Aussagen standen eigentlich im Widerspruch zu seinem Goethischen Optimismus. "Und nun, über Gräber vorwärts!" Sie standen auch im Widerspruch zur Nonchalance, mit der mein Chef die Kundschaft bezirzte. Vor allem die weibliche Kundschaft. Mein Chef war beunruhigt, das merkte man ihm an, und trotzdem gab er sich jede erdenkliche Mühe, die Moral hochzuhalten. Liess er sich zu einer finsteren Bemerkung hinreissen, wischte er sie gleich darauf wieder weg, indem er sich entschlossen den handfesten Dingen zuwandte, den anstehenden Problem, die man hier und heute lösen konnte. "Über Gräber vorwärts." Alles musste weiterlaufen wie gehabt. Morgens huschte er manchmal in den Toilettenraum, um sich ein paar Baldriantabletten einzuwerfen. Ob es half, ist fraglich. Mit dem gespreizten Elan seiner Beredsamkeit trat er von einem Fettnäpfchen ins andere. Er verpasste Termine, vergass dringende Rückrufe zu machen, stolperte über Bücherkisten, verschluderte Dokumente, liess seine Kiwischalen auf dem Chefpult verrotten, verlegte Bücher, die er hätte abreservieren sollen, und verschwand manchmal spurlos, und dann stellte sich heraus, dass er mit einem Judaisten oder Neutestamentler ins Café Spillmann gegangen war, um ein bisschen zu tratschen. Die älteren Damen, die das alles mehr oder weniger auszubügeln hatten, regten sich sehr darüber auf. Sie waren ja gerne im Buchhandel tätig. Es war etwas Schönes, Bücher zu verkaufen. Aber die Überspanntheit des Chefs, seine Flatterhaftigkeit und Schwatzsucht setzte ihnen zu. Ungefragt redete er überall drein, und wenn man ihn etwas fragen wollte, war er nirgends zu sehen. Dass er sowohl die Angestellten als auch die Kundschaft mit den immergleichen Lebensweisheiten beglückte, war vielleicht noch hinnehmbar. Dass er dann aber auch noch ständig etwas vergass, vermasselte oder verlegte, weil er den Kopf nicht bei der Sache hatte, war eindeutig zuviel des Guten. Die armen Frauen! Womit hatten sie einen solchen Chef verdient? Wenn sie unter sich waren, verdrehten sie desöftern die Augen und seufzten: "Heinrich, mir graut vor dir!" Heinrich war der Vorname unseres Chefs. Und immer wieder erzählten sie eine Geschichte, die sich vor ein paar Jahren zugetragen hatte, noch vor meiner Lehrzeit. Am Vorabend des Morgenstraichs hatte der Chef versehentlich die Beleuchtung in einem der Schaufenster angelassen, respektive den Zeitschalter nicht betätigt, sodass sich die Fasnächtler gezwungen sahen, die Scheibe einzuschlagen. Einen ähnlichen Vorfall hatte es auch schon am Spalenberg gegeben, auch dort war ein Schaufenster zu Bruch gegangen. Und auch dort hatte der Ladeninhaber zum Schaden auch noch die Schadenfreude gehabt. Unser Chef stand diesem Rigorismus verständnislos gegenüber. Er war kein Basler. Kein gebürtiger Basler, um genau zu sein. Er war ein Stadtberner, der in jungen Jahren nach Basel gezogen war und hier nun ein Geschäft, einen Synodalsitz, eine Frau, zwei erwachsene Kinder und einen treuen Familienhund hatte. Wirklich eingewöhnt hatte er sich nie, heimisch fühlte er sich nicht. Mit dem Basler Daig, der in seiner Buchhandlung ein und aus ging, wurde er nie so richtig warm, und die Basler Fasnacht bestaunte er ziemlich passiv, nämlich aus respektvollem Abstand. Am liebsten sah er sie von zu Hause aus, im Fernsehen und mit der Fernbedienung in der Hand, damit er jederzeit um- oder abschalten konnte. Und die Fasnachtsplakette kaufte er nur, weil das zum guten Ton gehörte. So wie es auch zum guten Ton gehörte, dass man in der Nacht des Morgenstraichs die Schaufensterbeleuchtung nicht anliess. Seine Herkunft war nicht das Einzige, was ihn zu einem Fremden machte. Schuld daran war auch seine Schusseligkeit. Er war ein Chef, bei dem es starke Nerven brauchte. Ich persönlich verstand mich gut mit ihm, weil ich - ein Schulabbrecher und Rimbaud-Leser - vielleicht auch nicht unbedingt der bodenständigste Typ war. Bezeichnenderweise hatten wir dasselbe Sternzeichen, wir waren beide Zwillinge, was Frau Müller, die regelmässig die Zeitungshoroskope vorlas, zu amüsieren schien. Bekanntlich haben Zwillinge nicht unbedingt den besten Ruf: sie gelten als flatterhaft, als notorisch zerstreut. Als ich meine Lehrstelle antrat, wohnte ich noch auf dem Land. Weil mir das Pendeln zu mühsam wurde, mietete ich im Gellertquartier eine billige Mansarde. Zufällig wohnte mein Chef nur ein paar hundert Meter davon entfernt. Nach einem abendlichen Geschäftsessen stiegen wir zusammen ins gleiche Tram, wir hatten ja den gleichen Heimweg, und erst im Tramdepot Morgartenring, als das Licht gelöscht wurde, merkten wir, dass etwas nicht stimmte. Während wir uns angeregt über Goethe unterhalten hatten, waren wir in die falsche Richtung gefahren. Ich mochte seine Schrullen, seine theologischen und intellektuellen Allüren. Er führte eine theologische Fachbuchhandlung im tiefprotestantischen Basel, war aber ein Freigeist, ein humanistischer Schwärmer. Trotz seiner Abneigung gegen die Freikirchen und die aus Amerika herüberschwappende charismatische Bewegung war er kein typischer Vertreter der Landeskirche. Als Pfarrer hätte er eine ziemlich komische Figur abgegeben. Obwohl er sich gerne als kirchentreuen Protestanten darstellte und als Vizepräsident der freiwilligen Schifferseelsorge (oder sonst einer nicht allzu arbeitsintensiven Kirchenkommission) an jeder Synodalratssitzung teilnahm, schrammte er mit seinen neutestamentlichen Ausführungen gelegentlich haarscharf an offener Ketzerei vorbei. Sein theologisches Steckenpferd waren die Essener und die Schriftrollen von Qumran. Alles Neutestamentliche, das von der Bibel abweicht und von ihr verschwiegen wird, interessierte ihn brennend. Die Apokryphen und die gnostischen Strömungen des Urchristentums: solche Themen brachte er mit viel Tamtam unter seine Kundschaft. Wochenlang hatte er zum Beispiel das Evangelium der Maria bei sich auf dem Pult und las jedem theologisch interessierten Kunden daraus vor. Was ihn bei solchen Texten regelrecht in Begeisterung versetzte, war das weibliche Element, das hier überall zur Sprache kam - und das die Kirchenväter seiner Meinung nach systematisch und böswillig unterdrückt hatten. "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!" rief mein Chef manchmal, wenn er über die Frauen um Jesus und die apokryphe Weiblichkeit referierte. Womit er dann wieder bei Goethe andocken konnte. 

In Basel gab es vier christliche Buchhandlungen. Jede hatte einen bestimmten Grad an Frömmigkeit anzubieten - und eine eigene konfessionelle Ausrichtung, wobei das eine mit dem andern zusammenhing. Es gab die Frommen von der Freikirche, die mehr oder weniger Frommen von der Basler Mission und die eindeutig weniger Frommen, die über verschiedene Kanäle mit der evangelisch-reformierten Landeskirche oder der katholischen Una sancta verbunden waren. Die Evangelische Buchhandlung war die am wenigsten fromme protestantische Buchhandlung in Basel. Sie war die Hausbuchhandlung der mit der Landeskirche verkoppelten Oekolompadianer, der universitären Barthianer, der theologisch interessierten Altphilologen und der kirchlich engagierten Bildungsbürger, die zu einem nicht geringen Teil aus dem Basler Daig stammten. Im Basler Daig hatte man seinen Buchhändler, so wie man andernorts, zum Beispiel an der Zürcher Goldküste, seinen Gärtner oder Chauffeur hatte. Der Vetter an der Spiegelgasse war die katholische Entsprechung zur Evangelischen Buchhandlung. Allerdings fehlte hier das religiöse Umfeld. Alles in allem eine ziemlich normale Buchhandlung. Wenn nicht gerade Fastenzeit war, verkaufte man hier mehr Kochbücher als Bibeln. Nur zwei Strassen weiter, auf der anderen Seite des Fischmarkts, in der kleinen Buchhandlung an der Schifflände, fragten wir uns manchmal im Scherz, wofür die drei bis vier gläubigen Christkatholiken, die es in Basel gab, überhaupt eine eigene Buchhandlung benötigten. Das Religiöse wurde beim Vetter nur in homöopathischen Dosen verabreicht. Für die kleine katholische Exil-Kommunität genügte das. Wie auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich ein Pilger auf dem Weg nach Mariastein in die Spiegelgasse verirrte. In den beiden Schaufenstern türmten sich Bildbände über die Rhätische Bahn, die Schwarzwaldbahn, die Preussische P10 und die Firma Märkli. Irgendwie stand das eher mit dem Modelleisenbahnen-Shop am oberen Spalenberg als mit dem Papst in Verbindung. Während meines ersten Lehrjahres arbeitete in der Evangelischen Buchhandlung eine Lehrtochter, die katholisch war - und das auch offen zugab. Na sowas, dachte ich zuerst. Eine echte Exotin. Sie stammte aus dem Solothurnischen und befand sich im dritten Lehrjahr, steuerte also auf den Abschluss zu. Selbstverständlich durfte man in der Evangelischen Buchhandlung auch katholisch sein. In der Lehrstellenausschreibung wurde die reformierte Konfessionszugehörigkeit nicht zur Bedingung gemacht. Aber in der Regel ergab es sich von selbst, dass sich nur Reformierte bewarben. Die andern fühlten sich vermutlich abgeschreckt. Die katholische Lehrtochter war zu dieser Lehrstelle gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Mir war es ja ähnlich ergangen. Sie war sehr nett, wenn auch etwas altklug, eine brillentragende Vielleserin, bei der man das Gefühl hatte, sie sei mit ihrer Brille zur Welt gekommen, die geborene Buchhändlerin. Vermutlich hatte sie schon im Mutterbauch eine Menge Bücher gelesen, zum Beispiel Schwangerschaftsliteratur. Merkte man ihr an, dass sie katholisch war? Rein äusserlich wahrscheinlich nicht. Aber ihre Nettigkeit war dann doch etwas typisch Katholisches. Jedenfalls meinem Empfinden nach. Im grossen und ganzen bin ich mit Katholiken immer besser gefahren als mit Protestanten. Damit möchte ich keineswegs behaupten, dass es nicht auch nette Protestanten gibt. Doch die Erfahrung mache ich bis heute: mit Protestanten bekommt man schon Ärger, wenn man nur durch das falsche Nasenloch schnauft. Vielleicht stimmt es halt doch, und die Katholiken, ob gläubig oder nicht, sind etwas nachlässig und faul. Weniger pedantisch und leistungsbewusst. Max Weber und die protestantische Ethik. Vielleicht sind wir Protestanten gut im Geldverdienen. Und die Katholiken können dafür alles andere besser. Über solche Unterschiede lässt sich trefflich spekulieren. Eine gewisse Grosszügigkeit im Denken und Fühlen kann man den Katholiken nicht absprechen. Sie haben keine Buchreligion. Sie haben eine Comicstrip-Religion. Der Katholizismus trennt das Spirituelle nicht vom Ästhetischen, das Heilige nicht vom Konkreten. Oder wie der überzeugte Katholik Salvador Dali einmal gesagt hat: "Wenn Gott existiert, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass er ein alter Mann mit weissem Rauschebart ist." Es ist leicht, diese Haltung zu belächeln, sie als naiv abzutun. Aber wenn es etwas gibt, dass den Wahrheitsgehalt der Bibel überzeugend darlegen kann, dann ist es das Turiner Grabtuch - und nicht das Gepolter Martin Luthers oder die uferlos dozierende Dogmatik Karl Barths. Genau das schien sich auch Frau Vetter von der Buchhandlung Vetter gedacht zu haben. Wenn das Göttliche etwas Konkretes ist: wieso kann es dann nicht die Gestalt einer Märklin-Eisenbahn annehmen? Etwas frommer gelagert war die Missionsbuchhandlung an der Missionsstrasse, nicht zu verwechseln mit der Pilgermission am Spalenberg, dem späteren Bibelpanorama, einem Ableger der freikirchlichen Chrischonagemeinde. Die Missionsbuchhandlung hatte zwar ebenfalls einen pietistischen Einschlag, aber ohne den Billigdiscount-Jesus der Evangelikalen. Hier herrschte die pingelige Nüchternheit eines Kontors. An die Buchhandlung war die Verlagsauslieferung Basilea angeschlossen, und das Ganze stand in einer namengebenden Verbindung zur altehrwürdigen Basler Mission, die ihre Geschäftsstelle und Koordinationszentrale gleich nebenan hatte. 1815 war sie gegründet worden, um Missionare auszubilden, die in Afrika, Vorderasien und Indien den protestantischen Glauben verbreiten sollten. Und natürlich auch die mitteleuropäischen Tischmanieren mitsamt dem Tischgebet. Wie es in diesem sittenstrengen Milieu zugegangen ist, kann man bei Hermann Hesse nachlesen, dessen Vater die Basler Missionarsschule besucht hat. Basel mag eine urprotestantische Stadt sein, und trotzdem standen und stehen die Basler - im Gegensatz zu den Schwaben - dem missionarischen Pietismus eher reserviert gegenüber. Seit Menschengedenken kursiert in Basel ein Witz, ein typischer Basler Witz, den man geniessen kann wie eines der leicht ätzenden Laugengipfeli der Confiserie Bachmann. Weshalb sind die afrikanischen Giftschlangen bei der Ankunft der Basler Missionare in die Büsche geflohen? Weil sie Angst hatten, sie könnten von den Missionarsgattinnen gebissen werden. Selbstverständlich haben die Basler Missionare - und auch ihre Gattinnen - sehr viel Gutes getan. Mit schwäbischem Fleiss und Pflichtbewusstsein haben sie Spitäler, Schulen und florierende Handelsniederlassungen gegründet. Eine frühe Form der Entwicklungshilfe, und soweit ich weiss haben die Basler Missionare die fremden Kulturen, bei denen sie zu Gast waren, immer respektiert und gewürdigt. In der blitzblank aufgeräumten Buchhandlung an der Missionsstrasse war das noch spürbar. Neben Bibeln und Andachtsbüchern verkaufte man hier auch Kokosmatten und Buschtrommeln, die man damals noch "Negertrommeln" nennen durfte. Neben verschiedenen Bibelausgaben (Elberfelder Bibel, Schlachter Bibel, Gute Nachricht etc.) prangte im Schaufenster ein Plakat mit einem grossäugigen Drittewelt-Kind, und auf einem zerknüllten Batiktuch lagen die dazugehörigen Originalprodukte aus einheimischen Manufakturen und Hausbetrieben: exotische Teemischungen, Haarpulver aus Khadi, holzgeschnitzte Elefanten und Ohrgehänge aus Vogelknochen. Man fand hier alles, was man auch in einem Weltladen finden konnte, ausser Meditationskissen und Räucherstäbchen. Die galten nämlich als heidnisch. Das Christliche stand hier eindeutig im Vordergrund - wie auch der gute alte protestantische Ordnungssinn. Die Missionsbuchhandlung war die aufgeräumteste und modernste Buchhandlung weit und breit. Schon in den Achtzigern, als die meisten Buchhändler noch Buchlaufkarten vollkritzelten und Auslieferungskataloge herumfugten, die an Schwere und Dicke jede Bibel übertrafen, besass die Missionsbuchhandlung ein eigenes Computersystem. 

Als ich ins letzte Lehrjahr kam, stand die Evangelische Buchhandlung kurz vor dem Konkurs. Mein Chef kommentierte die Situation von früh bis spät, trug jedoch nichts zu einer Klärung bei. Er war nervös wie ein Ameisenhaufen, in dem jemand herumstochert. Hinter seinem Rücken kursierten Gerüchte. Von roten Zahlen war die Rede, von einer bevorstehenden Fusion, von Notfallplänen, gar von Entlassungen. Kirchenratsmitglieder und Pfarrherren tauchten mit besorgten Mienen im Laden auf und liessen sich vom Chef die Geschäftslage erklären. Es könne besser laufen, aber auch schlechter, man verkaufe halt zu viel Ramsch, zu wenig Hochwertiges, und das Kerngeschäft - die Theologie - sei auch nicht mehr so der Renner. Aber man studiere bereits an einer Lösung herum. Es gehöre, um mit Goethe zu sprechen, viel Mut dazu, in der Welt nicht missmutig zu werden, und deshalb müsse man den Stier bei den Hörnern packen... Es gelang meinem Chef, die schlimmsten Befürchtungen zu zerstreuen. Als Pressesprecher eines absteigenden Fussballvereins hätte er einen guten Job gemacht. Es gelang ihm, eine sportliche Zuversicht zu verbreiten. Und obwohl da viel geredet und wenig gesagt wurde, merkte man, dass etwas im Busch war. Vor allem im Hinblick auf die andere evangelische Buchhandlung, die es in Basel gab: die Missionsbuchhandlung. Deren Chef, der umsichtig-väterliche Herr Kellenberger, war ganz anders als unser Chef. Er war die Ruhe in Person. Er konnte auch mal schweigen, und wenn er etwas sagte, dann immer genau zur Sache. Er war zwar gläubig und ein bisschen pietistisch angehaucht, aber kein Frömmler. Und anders als unser Chef war er kein Schöngeist. Idealismus war nicht seine Sache. Er war keiner, der mit Goethe hausieren ging und die Formvollendung der Kugel anbetete, und so war auch sein Verhältnis zur Literatur kein schöngeistiges. Mit Buchhaltung kannte er sich besser aus als mit Büchern. Und wenn er von Büchern redete, meinte er nicht den Faust Teil 1 und 2, sondern die geschäftliche Buchführung. Er dachte an Zahlen und Abschlüsse. Und das war es auch, was er regelmässig unter die Lupe nahm. Er verstand sich als Manager, und seine Buchhandlung managte er nicht anders als jemand, der ein Brillengeschäft oder einen Reinigungsservice für verstopfte Abflussrohre leitet. Seit einiger Zeit trafen sich die beiden Chefs regelmässig im Café Spillmann. Was ging da vor sich? Als mein Chef eines Tages mit zerstreutem Blick, zerzaustem Haar und verrutschter Krawatte von so einem Treffen zurückkam, wusste ich, dass auf höchster Ebene etwas Wichtiges beschlossen worden war. Und bald lag es auch schon auf dem Tisch. Die Evangelische Buchhandlung und die Missionsbuchhandlung würden fusionieren. Vom Sortiment her war das natürlich naheliegend, die theologische Ausrichtung war nahezu gleich - wie auch der Frömmigkeitsgrad. Beide Buchhandlungen blieben an ihrem Standort. Ansonsten wurde alles auf den Kopf gestellt. Da die Missionsbuchhandlung den ganzen Postversand und die Gesamtadministration übernahm, konnte das Büro an der Schifflände zur Ladenfläche umgestaltet werden. Auf einmal gab es Platz für eine moderne Multitask-Theke mit einer Sichtfront für Taschenbücher und Prospekte. Dort bediente man den Computer oder sortierte die angelieferten Bücher. Und oftmals machte man beides gleichzeitig, sozusagen vierhändig, während man nebenbei auch noch einen Kunden oder eine Kundin bediente. Die Multitask-Theke war so konzipiert, dass man sich beliebig auffächern konnte. Ihre eigentliche Bedeutung erhielt sie aber durch den Computer. Der Computer war die Neuerung des Jahrhunderts, auch für mich persönlich. Am Arbeitsplatz kam ich zum ersten Mal mit so einem Gerät in Berührung. Es war wie eine Schreibmaschine mit eingebautem Hirn, und der Umgang damit war kinderleicht, eigentlich selbsterklärend, für einen Lernfaulen wie mich genau das Richtige. Und sogar mein Chef freundete sich damit an, obwohl er sich nur ungern von seiner mechanischen Schreibmaschine trennte, einer Hermes, die er allerdings nicht fortwarf oder zum Trödelhändler brachte, sondern im Estrich verstaute. "Falls mal der Strom ausfällt," flüsterte er mir zu, und wir wussten natürlich beide, dass es nie wieder eine Evangelische Buchhandlung mit einer mechanischen Schreibmaschine geben würde. Die Entwicklung blieb an diesem Punkt ja nicht stehen. Der Computer erwies sich als Alleskönner. Kurze Zeit später flog ich bereits mit einem Flugsimulator um die halbe Welt und überlebte dabei etliche Abstürze. Allerdings tat ich das nur bei mir zu Hause, als Privatmensch. Im Geschäft benutzte ich den Computer ausschliesslich zum Arbeiten. Das buchhändlerische Gekritzel und Gekratzel wurde überflüssig. Jede Katalogangabe, jede Empfehlung, jede Buchliste, jede Statistik konnte sauber ausgedruckt werden. Auf einmal herrschte die totale Transparenz. Mein Chef hatte nicht so richtig Freude daran. Er kämpfte um seine berufliche Reputation. Eigentlich stand er kurz vor der Pensionierung. Unter normalen Umständen hätte er einfach gehen können. Nun musste er noch ein Weilchen ausharren, weil der Kapitän das sinkende Schiff nicht verlassen darf. Alles stand auf der Kippe. Auch für die Missionsbuchhandlung, die insofern noch ein bisschen besser dran war, als sie eine Verlagsauslieferung betrieb. Damit schrammte sie knapp an den roten Zahlen vorbei. Das war gut, aber keine Rettung. Aufatmen konnte niemand. Die Angestellten beider Buchhandlungen verbrachten ihre Kaffeepausen damit, Stelleninserate durchzugehen. Sie wussten, dass hier nichts mehr zu retten war. Sie konnten nicht so viel Wasser ausschöpfen, wie in das Boot eindrang. 

Der Zusammenbruch des protestantischen Buchhandels kam nicht aus heiterem Himmel. Schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, schrumpfte die Trägerschaft des gebildeten Protestantismus dahin. Die traditionsbewussten Kirchgänger starben weg, und die Landeskirche verlor an Einfluss. Und so erwies sich selbst die Fusion als vergeblich. Kaum hatte ich meine Lehre abgeschlossen, verschwanden die beiden evangelischen Buchhandlungen für immer aus dem Stadtbild. Ausserhalb des Basler Daigs fiel das niemandem gross auf. Die Presse nahm es kaum zur Kenntnis. Es war der sprichwörtliche Reissack, der in China umfällt. Es gab ja noch genügend andere Buchhandlungen, und die goldenen Neunzigerjahre, in denen die Buchverkäufe einen Rekordstand erreichten, hatten eben erst begonnen. Die grosse Gewinnerin war die Pilgermission am Spalenberg. Sie war die Hausbuchhandlung der Evangelikalen. Und sie ist es bis heute, auch wenn der Name und die Besitzer seitdem mehrmals gewechselt haben. In den Achtzigerjahren legte die Pilgermission kräftig zu. Nicht nur, weil die protestantische Konkurrenz wegbrach. Die Freikirchen nutzten den Zeitgeist. Hier gab es keine Gottesdienste, sondern Happenings, keine Predigten, sondern Entrückungserlebnisse, keine Gebete, sondern Briefings mit Gott, keine Matthäus-Passion, sondern Gospel-Geschrei und Pop-Gesäusel. Überall schossen evangelikale Gruppen aus dem Boden, die einen "erlebbaren Jesus" verkündeten, einen Jesus, der keine Sandalen mehr trug, sondern Adidas-Turnschuhe - und der sich entsprechend erfolgreich vermarkten liess. Diesen Jesus nannte man denn auch nicht Jesus, sondern "Tschises". Es war der Jesus von Billy Graham und Konsorten. Bei den protestantischen Althumanisten, die der Basler Münstergemeinde die Treue hielten, kam das natürlich schlecht an. Es war nicht nur Neid. Es war eine riesige Kluft, ein gegenseitiges Unverständnis, das den Protestantismus bis zur Wurzel hinab spaltete. Es war die Spaltung zwischen alt und neu. Aber eben nicht so, wie man vielleicht denken könnte. Mit Barth, Bultmann und dem Zweiten Vatikanischen Konzil waren die evangelischen Althumanisten in der Moderne angekommen, während die hipen, auf jugendlich getrimmten Evangelikalen - oder Freikirchler, wie sie häufiger genannt wurden - ein Bibelverständnis pflegten, das die Bibel zum Fetisch machte. Hier versuchte man den Glauben nicht durch Beherrschung von Komplexität zu bewahren, sondern durch radikale Vereinfachung. So kam es, dass die Evangelikalen alles Biblische direkt auf das gegenwärtige Leben übertrugen, ohne Rücksicht auf historische Bezüge, hermeneutische Feinheiten und geisteswissenschaftliche Interpretationsspielräume. Eine theologische Plattheit, die das Wort beim Wort nahm. Als ob die Bibel im heutigen Deutsch vom Himmel herabgefallen wäre, blitzsauber redigiert und von Gott persönlich abgesegnet. Die tautologische Prämisse der Evangelikalen lautete: wer an die Schrift glaubt, hat Recht, weil die Schrift göttlich ist. Und wer daran glaubt, dass die Schrift göttlich ist, muss demzufolge natürlich doppelt Recht haben! Eine wasserdichte Schlaumeier-Logik. Kurzum: die Evangelikalen glaubten an die Schrift. Tautologisch und total. Ganz anders die evangelischen Protestanten: sie glaubten nicht an die Schrift, sondern an das, worauf die Schrift hinweist, wodurch sie das Bibelverständnis öffneten und relativierten. Sie glaubten der Schrift, nicht an die Schrift. Kleiner Unterschied, grosse Wirkung. Die einen lasen die Bibel wie eine Gebrauchsanleitung, die andern wie eine historische Schrift, die uns noch etwas angeht. Für die einen war der Wortlaut der Bibel etwas Göttliches und Unverrückbares, für die anderen etwas Menschengemachtes, das man ständig wieder neu zurechtrücken musste. Die einen sprachen von Bibelvergötzung, wenn sie den Glauben der anderen kritisierten, und diese wiederum warfen den anderen Bibelverfälschung vor. Die schismatische Unterscheidung zwischen "An etwas glauben" und "Etwas glauben" war mehr als nur Wortklauberei. Es lagen Welten dazwischen. Die Aussage "Ich glaube, dass es so ist" verweist auf eine Vermutung, einen Spielraum. Ich vermute, dass es so ist. Es könnte auch anders sein. Die Aussage "Ich glaube daran, dass es so ist" räumt hingegen jeden Zweifel und jede Vermutung aus. Man ist davon überzeugt. Die eine Aussage ist relativ, die andere absolut. Die evangelischen Protestanten - aufgeschlossene, moderne Christen - vertrugen sich mit allen Religionen und Konfessionen und gewannen sogar dem Atheismus etwas Positives ab, mit allem und jedem kamen sie zurecht. Nur nicht mit den Fundamentalisten im eigenen konfessionellen Lager, die von Offenheit und Toleranz so gar nichts wissen wollten. 

Was mich zu einer ganz persönlichen Frage führt. Kann man in einer theologischen Fachbuchhandlung arbeiten, ohne sich vertieft mit dem Glauben zu befassen - und vor allem mit dem eigenen Glauben, respektive Nicht-Glauben, der altbekannten Gretchenfrage: wie hast du's mit der Religion? Kann man dieser Frage ausweichen, wenn man tagein, tagaus Bibeln, Losungen und theologische Fachliteratur verkauft? Mit achtzehn, neunzehn - mein damaliges Alter muss ich mühsam errechnen, so lange ist das her - tanzt man gerne auf vielen Hochzeiten. Man ist hochgradig empfänglich, aber auch unendlich dumm. Man springt schnell auf etwas an, ist aber auch schnell abgelenkt, jongliert mit zu vielen Bällen und verwirrt sich dabei. Wie hatte ich es mit der Religion? Was wäre damals meine Antwort gewesen? Hätte ich mich gewunden? Hätte ich die Frage ins Lächerliche gezogen? Hätte ich überhaupt etwas zu sagen gewusst? Jetzt aber mal raus mit der Sprache: wie hast du's mit der Religion? Diese Frage einem Achtzehnjährigen zu stellen, ist ungefähr so, als würde man einem Dreijährigen ein Aftershave schenken. Besser wäre es, man würde sie einem todkranken Achtzigjährigen stellen. Einem jungen, gesunden Menschen fällt es leicht, an Gott zu glauben. Genauso wie es ihm leicht fällt, nicht an Gott zu glauben. Es macht schlicht keinen Unterschied. Existentiell wird die Sache erst, wenn es ernst wird. Wenn die Gretchenfrage unausweichlich wird, weil alles auf dem Prüfstand steht. Und hier kann der Glauben genauso mutig sein wie der Nicht-Glauben. Als ich meine Lehre begann, hatte ich einfach den Glauben, den ich von zuhause mitbrachte. Falls man das überhaupt als Glauben bezeichnen kann. Ich war so eine Art Kulturchrist. Ein Sonntagsschulchrist. Ein Wischiwaschi-Christ. Und das bin ich bis heute, und mehr denn je halte ich das für eine ziemlich solide Einstellung. In Glaubensfragen gemässigt und inkonsequent zu sein, ist wahrscheinlich nicht das Dümmste. Das wurde mir schon während meiner Lehrzeit klar, nämlich im Jahr 1989, als Salman Rushdie für seinen Roman "Die Satanischen Verse" von Ayatollah Khomeiny mit einer Fatwa belegt wurde. Aus Angst vor Anschlägen nahm mein Chef das Buch aus dem Sortiment. Zähneknirschend, weil es sich wegen der unfreiwilligen Publicity wahrscheinlich gut verkauft hätte. Mehr als 4000 Kilometer von Teheran und dem dortigen Mullah-Regime entfernt, beugten wir uns einem religiösen Diktat, das mit einer heiligen Schrift und einem heiligen Gebot begründet wurde. Auch das ist Religion. Das falsche Buch verkaufen, und schon ist man einen Kopf kürzer. Für mich ein Schlüsselerlebnis. Dass ich noch lebe, verdanke ich womöglich dem glücklichen Umstand, dass ich ein bestimmtes "blasphemisches" Buch nicht verkauft habe. Beunruhigt durch den weltweit erstarkenden religiösen Fundamentalismus, habe ich mich in den folgenden Jahrzehnten schrittweise dem Atheismus angenähert, ich habe Richard Dawkins gelesen und bin inzwischen mit allen religionskritischen Wassern gewaschen. Zu meinem Skeptizismus hat sicher auch die Philosophie beigetragen. Durch sie habe ich die Problematik des Glaubens eigentlich erst so richtig kennengelernt. Was ist überhaupt "Glauben"? Was heisst "an Gott glauben"? Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man an den Gott der Wissenschaftler und Philosophen glaubt, den Gott Einsteins und Spinozas, einen XY-Gott, der lediglich eine Variable für die Letztbegründung der Existenz aller Dinge ist, oder ob man an einen Gott glaubt, auf den man sich persönlich beziehen kann, einen göttlichen Kummeronkel oder allenfalls eine anonyme Transzendenz, die einen durchs Leben trägt, oder ob man an den geschichtlichen Offenbarungsgott der Bibel glaubt, den Gott Israels, den Gott der Dreifaltigkeit, der seinen Sohn in die Welt gesandt hat. Man kann das nicht einfach alles in denselben Topf schmeissen. Was den Bibelglauben betrifft, so ist er für mich unabdingbar an den Grundsatz "Credo, quia absurdum est" geknüpft: ich glaube, weil es widersinnig ist. Das hat durchaus etwas für sich. Die christliche Erlösungslehre ähnelt ein bisschen der Quantenmechanik. Sie ist sehr paradox und teilweise schwer nachvollziehbar. Deshalb der Riesenaufwand an Theologie. Die Auslegungsspielräume sind gewaltig, und die Logik, die der Erbsünde und Erlösung zugrunde liegt, ist derart vertrackt, dass man einen Erklärungsapparat braucht, wie ihn keine andere Wissenschaft hat. Nicht umsonst hat man früher die Theologie als die "Königin der Wissenschaften" bezeichnet. Ich habe mal den Katechismus der Katholischen Kirche angeschaut, und ich habe gestaunt, was sich da für eine Komplexität auftürmt. Selbst in dieser verdichteten, für Laien verständlich gemachten Form. Der christliche Glauben ist - wie eigentlich jeder Offenbarungsglauben - ein Ärgernis, eine Anmassung. Trotzdem bin ich nicht aus der Kirche ausgetreten, seit Jahr und Tag zahle ich termingerecht meine Kirchensteuern. Das Christentum ist weitgehend säkularisiert, es bedroht niemanden, und man wird es nicht los, nur weil man aus der Kirche austritt und keinen Gottesdienst mehr besucht. Es ist ein fester Bestandteil unserer Kultur. Ich bin getauft und konfirmiert worden, und ich bin mit zwei reich bebilderten Kinderbibeln aufgewachsen, Taufgeschenke für mich und meine Schwester. Was sie mir mitgegeben haben, möchte ich auf keinen Fall missen: ein wertvolles Kulturgut. So allgegenwärtig wie Grimms Märchen und die griechischen Sagen. Bis in die Primarschulzeit hinein haben mich die Illustrationen zu den biblischen Geschichten stark beschäftigt. Sie haben mich sogar dazu angeregt, eine eigene Bibel zu zeichnen. Adam und Eva und die Schlange. Die Sintflut und die Arche Noah. Die ägyptischen Plagen. Moses auf dem Berg Sinai. Samson, der die Tempelsäulen zum Einsturz bringt. David und Goliath. Jonas im Fischbauch. Daniel in der Löwengrube. Jesus, der den Lazarus zum Leben erweckt. Die Kreuzigung auf Golgatha, der Blitz, der den Tempelvorhang zerreisst. Ein Sandalen-Western als Fortsetzungsroman, unüberbietbare Dramatik, grosses Kino. Bis heute schätze ich mich glücklich, Christ zu sein. Und ich schätze mich auch glücklich, ein bisschen jüdisch zu sein. Das bin ich tatsächlich, wenigstens dem Vornamen nach. Daniel ist hebräisch und bedeutet: Gott ist der Richter. Nach meiner Lehre war ich ein bisschen angefixt. Noch jahrelang befasste ich mich mit spirituellen Themen. Allerdings auf eine ziemlich unschlüssige Weise. Ich las Bücher über die Kabbala, vertiefte mich in das I-Ging, fand Gefallen an der Weltsicht und Weisheit der Hildegard von Bingen, betete regelmässig das Vaterunser, und phasenweise neigte ich sogar dem Zen-Buddhismus zu, der mich faszinierte, weil er dem Humor einen grossen Platz einräumt. In dieser Zeit entdeckte ich auch Sören Kierkegaard, den ich kurzerhand zu meinem Lieblingsphilosophen erklärte. Kierkegaard, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts gelebt hatte, war ein Philosoph des radikal individualisierten Glaubens. In Gott sah er eine Art Schallmauer des Denkens, die wir nicht durchbrechen können, eine Überforderung, vor der die Frommen in eine behagliche Theologie des sonntäglichen Verdauungsschlafes flüchten. Kierkegaard kritisierte nicht den Glauben, sondern die Frömmler und Glaubensverwalter, Leute, die sich in einem Kollektiv verschanzen, hinter falschen Sicherheiten und bequemlichen Formeln. Er selbst war tief gläubig. Wenn auch auf eine komische Weise. Er war nämlich ein gewiefter Ironiker, ein philosophischer Dandy, der allen auf der Nase rumtanzte. Das gefiel mir. Diesen Zwiespalt kannte ich gut, obwohl ich glücklicherweise keine streng religiöse Erziehung genossen hatte und als Mitteleuropäer am Endes des 20. Jahrhunderts von Freiheiten profitierte, von denen Kierkegaard und seine Zeitgenossen nicht einmal träumen konnten. Nach der Lehrzeit nahm ich meine Konfirmationsbibel wieder aus dem Buchregal, wo sie schon Staub angesetzt hatte. Ich las sie jetzt anders als früher; ich las sie im Wissen um die vielen Zugänge, die dieses Buch ermöglicht. Und doch fand ich in der Bibel auch etwas Eigenes, etwas, das nur mir gehörte. Sie erinnerte mich an meine Kindheit, an den Religionsunterricht, an die ebenso schönen wie spannenden Illustrationen, die meine Phantasie beflügelt hatten. Die Bibel faszinierte mich, solange sie nicht gepredigt, sondern erzählt wurde. Langweilig oder blöd fand ich nur die Apostelgeschichten, alles, was nach Jesu Auferstehung folgte. Auf den Meister folgten alsbald die vielen kleinen Meisterlein, die in ihrer glossolalischen Begeisterung in die Welt der Vielgötterei ausschwärmten, mit einer Endzeit vor Augen, die dann dummerweise nicht anbrach, was zur Gründung der Kirche führte. Angefeuert von der leuchtenden Vision eines neuen Adams, eines neuen Menschen, installierten sie das grosse Sündenregister und mühten sich nach Kräften, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Religion als Sortieranstalt. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Als ich im Religionsunterricht zum Thema "Sünde" etwas hätte schreiben sollen, kam mir nicht eben viel in den Sinn. Das religiöse Konzept von "Schuld und Sühne" oder eben auch von "Sünde" ist mir schon immer schleierhaft gewesen. Auch bei den zehn Geboten kratzte ich mich ausgiebig am Kopf. "Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren." Na super, dachte ich. Dann begehre ich halt die Frau des Übernächsten. Typisch Kulturchrist: ich habe Religion nie als Erziehungsanstalt oder Wahrheitstribunal erlebt, sondern als etwas, das mit Liedern, Bildern, Geschichten, Festen, gutem Essen und gemütlichem Zusammensein zu tun hat. Kurzum, mit Selbstverständlichkeiten, die eben genau das nicht sind, was Fundamentalisten so gerne aus der Religion machen: Ausschliesslichkeit,  Exaltation, Alles-oder-nichts, Freeclimbing zwischen Himmel und Hölle. Zu den Selbstverständlichkeiten "meiner" christlichen Religion gehört auch das Glockengeläut. Egal, ob Stundenschlag oder Festtagsgeläut: die Kirchenglocken fehlen mir jedes Mal, wenn ich irgendwo in der Wildnis campiere. Obwohl ich sie selten bewusst wahrnehme, bilden sie den Umrahmungsklang meines Alltags, meines ganzen Lebens. Schon allein deswegen halte ich es für richtig und notwendig, dass man das Christentum bewahrt und die leeren, halbleeren oder halbvollen Kirchen nicht einfach abschreibt. Meine Eltern sind nicht besonders religiös gewesen. Mutter mochte ein schönes Weihnachtsfest, inklusive Bastelkrippe und Adventskranz, sie wollte alles so haben, wie man es schon immer gehabt hatte, und manchmal besuchte sie einen Gottesdienst, und manchmal las sie an Heiligabend aus dem Lukasevangelium vor: "Es begab sich aber zu der Zeit...". Dieser Satzanfang hat es in sich. Er verzaubert mich noch heute. Er weckt Vorstellungen von Kerzenlicht, Krustengebäck, Zimtsternen, Weihnachtsgesängen und Pulverschnee. Religion als Nostalgie und Seelenbalsam. Vater war da ein bisschen anders. Er machte sich gerne über die Pfaffen und frommen Kirchgänger lustig, mokierte sich über das gefühlige Salbadern im Sonntagstalar und das duldsame Dahocken mit Gesangsbüchern im Schoss. In einen Gottesdienst brachte man ihn nur mit Gewalt. Die Kirchensingerei, das Andachtsgetue, für ihn war das nichts. Er mochte das Kirchenorgelspiel, aber nur solange niemand mit einer Predigt dazwischenquatschte. Dabei war er durchaus kein strenger Rationalist. Dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sich die Schulweisheit träumen lässt, wusste er sehr wohl. Er hatte das von seiner Mutter, deren Vater aus dem Hotzenwald in die Schweiz eingewandert war. Sie war eine gläubige Katholikin, eine herzensgute Frau, die regelmässig in der Basler Antoniuskirche eine Kerze anzündete und kniend ein Gebet verrichtete, "für die Seelen der Verstorbenen", wie sie sagte. Als ich etwa sechs Jahre alt war, schenkte sie mir ein Jesus-Bildchen, zu dem ich jeden Abend vor dem Einschlafen beten sollte. Sie hängte ihren Glauben nicht an die grosse Glocke. Glauben war für sie etwas Intimes und Selbstverständliches. Als sie einmal den Hausschlüssel verlegt hatte, sprach sie ein kleines Gebet, und fünf Minuten später kam er wieder zum Vorschein. Wenn sie die Bibel oder Jesus erwähnte, sprach sie höchstens über die Emmeusjünger aus dem Lukasevangelium, eine Szene, die sie anscheinend tief bewegte. Nach seiner Auferstehung erscheint dort Jesus einigen seiner Jünger in der Gestalt eines unbekannten Mannes. Eine mysteriöse Begegnung. Auf ihren neunzigsten Geburtstag schenkte ich ihr eine gerahmte Bleistiftzeichnung, auf der ich diese Szene darstellte. Sie hatte sich das schon lange von mir gewünscht. Von seiner katholischen Mutter hatte mein Vater ein reges Interesse an Phänomenen geerbt, die über die Schulweisheit und das Schulwissen hinausgehen. Grenzwissenschaften waren sein Steckenpferd. Er verschlang die Bücher von Erich von Däniken, begeisterte sich für Präastronautik und Ufologie, befasste sich mit Uri Geller, Raymond Moody, parapsychologischen Experimenten und vor allem auch mit Kryptozoologie. Weil er ansonsten ein ziemlich vernünftiger Mensch war, staunte ich manchmal nicht schlecht, wenn er sich mal wieder ein Buch über den Bigfoot, den Yeti, den Mothman oder das Monster von Loch Ness angeschafft hatte. Das alles kam als Forschung oder Wissenschaft daher, war aber auch Glaubenssache. Wer nicht dran glaubte, wie zum Beispiel meine Mutter, hielt es für Unsinn, bestenfalls für gute Unterhaltung. Man kann sehr unterschiedliche Dinge glauben, und Glauben ist kein binäres System mit einem Ein- und Ausschalter. Es gibt da unzählige Schattierungen und Farben. Selbst für einen Bibelgläubigen stellt sich immer wieder die Frage, welche Bibelstellen er für massgeblich und welche er für weniger massgeblich halten soll. Die Bibel ist ein Selbstbedienungsladen. Mir gefiel zum Beispiel die Stelle aus dem Matthäusevangelium, wo Jesus über die Sorglosigkeit predigt, das In-den-Tag-Hineinleben. "Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut euch die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht...." Ja, sie arbeiten nicht! Für einen Arbeitsfaulen wie mich genau die richtige Bibelstelle. Da konnte ich voll mitschwingen! Aber war meine Auslegung die einzig richtige? Hatte Jesus wirklich die Faulheit gelobt? In der Evangelischen Buchhandlung war die Glaubenssache keine persönliche Angelegenheit. Zumindest nicht für jemanden, der dort arbeitete. Eine gewisse Unparteilichkeit oder Gleichgültigkeit konnte durchaus von Vorteil sein, wenn man in der verwirrenden Vielfalt der Überzeugungen und Auffassungen den Überblick bewahren wollte. Ein Apotheker kann auch nicht jedes erdenkliche Medikament an sich selber ausprobieren. Man musste gleichsam darüber oder daneben stehen, durfte sich nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen.

In der Evangelischen Buchhandlung habe ich vieles gelernt. Aber gläubig wurde ich nicht. Ich hatte alle Hände voll zu tun und wurde die ganze Zeit beansprucht. Ora et labora? Vonwegen! Es war tatsächlich so, wie mein Chef an meinem ersten Arbeitstag gesagt hatte: Geld verdient man nicht mit Beten. Geld verdient man mit Arbeiten. Und auch das hat mir mein Chef klargemacht: wenn die Verkäufe lahmen, das Geld nicht reinkommt, die Kundschaft ausbleibt, liegt das nicht an Gott, sondern am Lauf der Welt, die schon immer unvollkommen gewesen ist, eine Glocke, die klappert, aber nicht klingt, wie es bei Goethe heisst. Mein Chef zitierte nicht nur Goethe. Obwohl sein Gottvertrauen nicht grenzenlos war, entlehnte er manche seiner Weisheiten auch der Bibel, ihrem unerschöpflichen Vorratsschatz an schönen Sätzen. "In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen." Mit diesem Spruch aus Johannes 14 ergänzte er gerne Goethes "Wer vieles bringt, wird manchmal etwas bringen." Damit strich der betriebsame Buchhändler die Sortimentsvielfalt heraus, die er mit Hilfe von Goethe und der Bibel zu Recht ein bisschen idealisierte, da sie nicht nur dem Geldverdienen diente, sondern auch der geistigen Vielfalt, der geistigen Freiheit. Ein weiterer Spruch, den er häufig anbrachte, stammte aus dem ersten Thessalonicher Brief und lautete: "Prüft aber alles und das Gute behaltet." Auch so ein Merksatz, der mir geblieben ist. Wie so vieles, was mein Chef gesagt hat. Ob das nun Goethe-Zitate, Bibelsprüche oder persönliche Meinungen waren. Mit seinem Gerede ist er mir noch seltsam gegenwärtig, eine Schallplatte, die ich jederzeit auflegen und geniessen kann. Und ich sehe ihn noch deutlich vor mir, die Idealgestalt eines Buchhändlers, hin und her pendelnd zwischen den Musen und dem Händlergott Merkur und von früh bis spät an den Buchregalen herumturnend, und noch immer bewundere ich seinen Schwung, seine Beschwingtheit, seinen Überschwang, sein Feuer, seine nie erlahmende Begeisterung. "Und nun, über Gräber vorwärts!" Etwa fünfzehn Jahre nach meinem Lehrabschluss sah ich ihn zufällig im Gellertquartier, wo er anscheinend noch immer wohnte. Er sass in einem Rollstuhl, ein knitteriges Männchen, völlig in sich zusammengesunken und in eine Wolldecke gehüllt. Eine Pflegerin rollte ihn über den Vorplatz des Coops an der Hardstrasse. Ich sah ihn nur kurz. Ich hatte keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.  

Die Fusion war ein Aufschub, keine Rettung. Die Tage der Evangelischen Buchhandlung waren gezählt. Mich ging das eigentlich gar nichts mehr an. Ich hatte andere Sorgen. Ich war bereits in den Abschlussprüfungen, und es lief denkbar schlecht. Ich hatte mich zu wenig vorbereitet. In Buchhaltung versagte ich völlig. Ich verfehlte den erforderlichen Notenschnitt und bekam ein "Nicht-Bestanden" ins Abschlusszeugnis. Was nun? Ich entschied mich für die Flucht nach vorn. "Über Gräber vorwärts!" Schon am nächsten Tag bewarb ich mich beim Jäggi, ausgerechnet beim Jäggi, der seelenlosen Warenhaus-Buchhandlung.  Der Personalchef empfing mich in seinem Büro. Wie ein Orang Utan fläzte er sich in einem knarrenden Ledersessel, dessen Sitzfläche fast den Boden berührte. Der Ledersessel stand neben dem Schreibtisch mitten im Raum. Mir wurde ein normaler Stuhl zugewiesen, auf dem ich, was ziemlich ungewöhnlich war, auf den Personalchef hinabsah. Dennoch war ich unsicher. Ich hatte den Abschluss vermasselt, und der Personalchef hätte mich sehr leicht daran aufhängen können. Zu meiner Verwunderung grinste er bloss, als ich den Abschluss erwähnte. Es folgten ein paar Fragen, die ich brav beantwortete, die üblichen Bewerbungsfragen, und ehe ich etwas Falsches sagen konnte, war ich eingestellt. 

 

April, 2018