Der Maler am Berg

Der Kunstmaler Seppli hadert mit der Kunst, obwohl er ein kantonales Atelierstipendium erhalten hat. In seinem Bergatelier unternimmt er jeden erdenklichen Versuch, die Bilder zu malen, die er malen sollte. Eine Kunstproduktion im Angesicht des Scheiterns.

 

 

"Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit." Karl Valentin

 

"Was ist Malerei? Man macht den ersten Pinselstrich, und schon ist die Leinwand versaut."  Varlin

 

 

Bald ist Silvester, hat Seppli am Telefon gesagt, dann läuten wieder überall die Glocken, und man ist gezwungen, sich mit einem spitzigen Hütchen auf dem Kopf auf das neue Jahr zu freuen. Vielleicht hast du ja noch nichts vor, und es fällt dir ganz spontan ein, mich besuchen zu kommen... Seine Stimme hat geklungen, als spräche er durch eine Mullbinde hindurch. Aber ja, habe ich gesagt - und eigentlich das Gegenteil gedacht. Das ist eine gute Idee, Seppli, habe ich gesagt. Ich werde dich total spontan und unaufgefordert besuchen kommen. Es wird eine tolle Überraschung für dich werden, aus den Schuhen wird es dich hauen, verlass dich drauf. Ich werde unangemeldet an deiner Tür erscheinen - und dir ein Überraschungsgeschenk überreichen, zum Beispiel den Brieföffner aus Antilopenhorn, den du dir schon immer gewünscht hast. Silvester bei dir am Berg, wo es, wenn es im Flachland schneit, gleich doppelt schneit, ist durchaus ein Ereignis, das ich unter keinen Umständen verpassen möchte. Ich liebe Schnee, vor allem wenn er sich meterhoch auftürmt und anhäuft, und wenn du dich auch durch niemanden und kein Argument dazu bewegen lässt, deine Bilderproduktion anzukurbeln, so bin ich doch zuversichtlich, dass du in den nächsten Tagen oder Wochen endlich damit anfängst, die Bilder zu malen, die ich auf deiner Staffelei sehen möchte. Wunschdenken? Von mir aus. Ich wünsche mir einiges. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass du dich hinter deine Aufgabe klemmst. Du bist Maler, Seppli. Auch deswegen werde ich dich besuchen kommen: um dich an deine Malerei zu erinnern.

 

 

Silvester in einem Künstleratelier in Schindboden, denke ich jetzt, während ich im Zug durch die watteweich verschneiten Voralpen fahre, das verspricht ein krachendes Ereignis zu werden. Aber eigentlich könnte ich gut darauf verzichten. Ich kenne Sepplis Situation zur Genüge. Seine Kunst muss sich der Künstler erarbeiten. Das gilt auch für Seppli, für ihn besonders, da er noch ganz am Anfang seines Schaffens steht. Während des Kunsthochschulstudiums haben wir uns ein Atelier geteilt. Wir hatten zwei Fensterplätze mit Aussicht auf den Rhein. Wir haben viel diskutiert, natürlich über Kunst, und vor lauter Diskutieren sind wir kaum noch zum Malen gekommen. Nach dem Studium hat er an der Kunst festgehalten, er hat stur weitergemalt, während ich mich der Logistik zugewandt habe, weil mir die Kunst zu unsicher war. Unsere Wege haben sich getrennt. Trotzdem sind wir in Kontakt geblieben. Erst vor kurzem hat er in seinem Heimatkanton ein Atelierstipendium ergattert. Eine bestimmte Zeitlang darf Seppli ein kantonales Bergatelier benutzen. In wunderschöner Umgebung und in grosser Abgeschiedenheit darf er sich als Maler beweisen. Und sobald die festgelegte Zeit vorüber ist, erhält er eine Ausstellung, wo er sich und seine jüngsten Werke angemessen präsentieren darf. Diese Ausstellung wird natürlich vom Kanton gesponsert sein und allerlei Lokalprominenz anziehen. Damit hat Seppli erstmalig etwas erreicht, das ihn öffentlich auszeichnet. Freilich ist es damit noch nicht getan. Es ist etwas Äusserliches und Ungenügendes. Was ihm dumpf bewusst ist. Dass er sich noch keineswegs in die Riege der hochwertig und produktiv malenden Maler hinaufgearbeitet hat, belastet ihn, obwohl es das eigentlich gar nicht sollte. Am Anfang noch nichts erreicht zu haben, ist beileibe nichts Schlimmes. Am Anfang gibt es vor allem sehr viel Luft nach oben. Da kann es noch kräftig aufwärts gehen. Auch die Grossen haben mal klein angefangen. Für Seppli kein Trost, geschweige denn ein Ansporn. Er spürt, dass ihm etwas fehlt. Etwas Entscheidendes. Was? Zum Beispiel Fleiss. Zum Beispiel Willenskraft. Eine kantonale Kunstkommission hat ihm Anerkennung gezollt, etwas Unerhörtes ist geschehen, und Seppli, der dann doch nicht auf dem Boden schlafen möchte, wenn er ein Himmelbett geschenkt bekommt, hat das Angebot selbstverständlich angenommen. Wie jeden Künstler drängt es auch Seppli an die Öffentlichkeit. Er will ausstellen und einen eigenen Katalog drucken lassen. Die Druckerei hat er sich schon ausgesucht, es ist die renommierte Offsetdruckerei Aschwander & Cie von Udligenswil, links vom Usego-Laden im Dorfzentrum. Die Offerte steht. Die Gestaltung will er selber in die Hand nehmen, hat er doch vor Jahren eine Ausbildung zum Grafiker absolviert, und zwar in Venedig, in einem von Küchenabluft geschwängerten Atelier über dem Canale Grande. Was ihm jetzt noch fehlt, sind die Bilder. Ja, die Bilder. Über die fehlenden Bilder legt sich Seppli täglich Rechenschaft ab. Es quält ihn, dass sich die Bilder, die er malen möchte, nicht von selber malen. Ich arbeite doch hart, rechtfertigt er sich, die ganze Zeit arbeite ich wie ein Verrückter... Da hat er allerdings unrecht. Zum Arbeiten hat Seppli gar keine Zeit. Er ist anderweitig beschäftigt. Seit er am Berg wohnt, im kantonalen Bergatelier mit Aussicht auf den Säntis, den Pilatus, den Oberalpstock und den Titlis, ist der Alltag für Seppli ein Unternehmen, in das er sich immer tiefer und leidenschaftlicher verstrickt. Er macht tausend Sachen und macht doch nichts. So gibt er sich den Anschein, die Gunst der Stunde zu nutzen, wo er doch eigentlich nur herumtrödelt und das Malen verschleppt. Er sieht sich als fleissig und zielstrebig, und das geräumige Atelier verpflichtet ihn, die Geräumigkeit auch zu nutzen; doch irgendwie klappt es dann noch nicht mit dem Malen, und das Atelier bleibt ungenutzt. Bewohnt wird es trotzdem. Es wird zum Kerker, in dem Seppli stundenlang herumstapft wie ein Sträfling, in Gedanken versunken, telefonierend oder Selbstgespräche führend, wie das seine Art ist. Auf dem Massivholzparkett zwischen Wand und Wand oder Tür und Wand oder Wand und Tür dreht er seine stumpfsinnigen Runden, und solange er geht und seine Runden dreht, hält er den Glauben an sich aufrecht. Und mit dem Glauben auch den Zweifel. Wer glaubt, zweifelt auch. Das Unvermögen, mit der eigentlichen Arbeit zu beginnen, nagt an Seppli, seit er in sein Atelier eingezogen ist. Ja, ja, ich arbeite, beteuert Seppli am Telefon. Ja, ja, ich arbeite wie verrückt... Wie ein Verrückter... In Wirklichkeit ist Sepplis Arbeitseifer irgendwo verdunstet, in einer guten Absicht vielleicht, in einem Planungsstadium. Was er die ganze Zeit treibt, hat eher mit Aufwärmübungen als mit Arbeit zu tun. Was an sich ja gar nicht so schlecht ist. Er bereitet sich auf eine grosse Aufgabe vor. Das ist löblich. Das ist schön. Doch schaut man genauer hin, erhält man ein ganz anderes Bild  - und leider kein gemaltes. Im Vorfeld seiner Malerei entwickelt Seppli eine Unrast, die das Malen immer weiter hinausschiebt. Wenn er nicht gerade Notvorräte bunkert, berechnet er Leinwandgrössen und überlegt, wie er die Arbeit an der Staffelei bewältigen soll, ohne einen Haltungsschaden davonzutragen. Tagelang zerbricht er sich den Kopf darüber, ob er beim Malen sitzen oder stehen soll. Und worauf denn sitzen? Auf einem Küchenstuhl, einem Hocker, einem Holzklotz? Und während er sich den Kopf darüber zerbricht, wandert er in seinem Atelier auf und ab, stapft über die handgehobelten Holzlatten, von einer Wand zur anderen, von einer Tür zur anderen. Die Schritte dringen zu mir durch. Wenn ich mit Seppli telefoniere, höre ich immer diese schweren, unruhigen Schritte, mit denen Seppli durch sein Atelier stapft, ein Knarren und Knarzen wie von einem Föhnsturm, der durch einen Bergwald fegt. So hört es sich an, wenn Seppli nicht arbeitet.

 

Arbeit. Das Wort lässt sich verdünnen und ausdehnen, bis es auf fast jede Tätigkeit anwendbar ist. Bis es auch dort zur Geltung kommt, wo es beim besten Willen nichts zu suchen hat. Arbeiten wir an unserer Beziehung, sagt zum Beispiel ein Ehepaar. Und dann wird gehobelt und gebohrt, man mischt Mörtel und klatscht ihn sich gegenseitig ins Gesicht. Die Beziehung ist also etwas, an dem man arbeiten kann, idealerweise zu zweit. Aber man kann auch an sich selbst arbeiten. Ich arbeite an mir, sagt jemand, der sich in eine Psychotherapie begibt, um irgendetwas durch- oder aufzuarbeiten. Es ist ein Ziel, das viele Menschen verfolgen, die mit sich und ihrem Leben nicht im Reinen sind, das Ziel, etwas Sinnvolles aus dem Leben zu machen - oder überhaupt etwas aus dem Leben zu machen. Millionen und Abermillionen Menschen arbeiten an sich oder ihren Beziehungen, und das Ergebnis spricht für sich. Seppli ist keiner, der an Beziehungen arbeitet, und insofern ist er ein echter Künstler. Man sucht sich das ja nicht aus! hat er am Telefon ausgerufen. Bin ich denn nicht ungefragt, was ich bin? Ich male Bilder, weil das meine Bestimmung ist. Von Glück kann keine Rede sein. Und auch nicht von Unglück. Und auch nicht von einem Wettrennen um irgendeinen Meistertitel. Kunst ist etwas, das man macht, und dann funktioniert es irgendwie. Oder auch nicht. Der Maulwurf gräbt seine Gänge. Der Vogel baut sein Nest. Der Biber staut den Fluss. Und ich male meine Bilder. Macht es mich glücklich? Macht es mich unglücklich? Keine Ahnung. Ich weiss nur, dass ich mache, was ich mache. Und dass es viel Arbeit macht, was ich mache, ich arbeite mich ab am Machen und mache mir eine Menge Arbeit damit, und das ist mühsam, weil es sein muss, und es ist auch schön, weil es nicht jedem zufällt. Mir ist es nun mal zugefallen, und das macht mich auch ein wenig stolz. Aber macht es mich auch glücklich? Hüpfe ich vor Freude in meinem Atelier herum? Hörst du mich lachen und frohlocken? Nein, ein glücklicher Mensch bin ich wohl nicht. Aber ich bin ein Mensch, der eine Lebensaufgabe hat, und das ist letztlich das Einzige, was zählt. Seppli bringt es auf den Punkt. Für den, der es erhält, ist das Atelierstipendium sowohl Last als auch Privileg. Das heisst: die Last ist das Privileg. Nicht umsonst liegt das Atelier an einem steilen Berghang, an einem "Stotz", wie die Einheimischen sagen. Überall geht es bergan oder bergab. Überall kommt man ins Schnaufen. Das Gelände ist wahnsinnig stotzig, kein Weg, kein Steg, der nicht stotzig wäre. Wenn man Sepplis Situation anschaut, kann man das fast sinnbildlich nehmen. Ein Stotz ist stotzig, was so viel heisst wie: mühselig steil. Wann immer ich im Tal unten meine Vorräte aufgestockt habe und danach schwer beladen mit Ravioli-Dosen den Stotz hinaufkeuche, kommt mir wieder zu Bewusstsein, dass ich mir dieses Stipendium sauer verdienen muss, hat Seppli am Telefon gejammert. Es ist ein Passionsweg mit etlichen Höhenmetern. Ich weiss aber auch, dass es etwas Schönes ist, dieses Stipendium, eine Auszeichnung, die mich physisch und sozial erhöht. Zweimal wöchentlich besorge ich im Tal unten die dringlichsten Einkäufe, und zweimal wöchentlich keuche ich den Stotz in mein Atelier hinauf. Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit, denke ich manchmal, wenn ich auf halber Höhe zwischen Tal und Atelier kurz stehenbleibe, um Atem zu schöpfen und die Aussicht auf die gegenüberliegende Bergkette zu geniessen - und auf die darüber hinausragende Bergkette dahinter, die ihrerseits von noch höheren Bergen überragt wird. Schon auf halber Höhe zwischen Tal und Atelier ist die Bergaussicht derart beeindruckend, dass man unwillkürlich stehenbleibt. Man ist überwältigt. Man muss das in sich aufnehmen. Und man muss sich Zeit lassen, damit es sich setzen kann. Schauen braucht Zeit. Und je höher hinauf man gelangt, desto mehr Zeit braucht man, um das Schauen zu bewältigen. Immer wieder bleibt man stehen und blickt auf die Gesteinsfalten, Schneehänge und Klüfte. Und manchmal wird man dabei unaufmerksam, man achtet nicht mehr auf den Weg, und während man weitergeht, kann es schon mal passieren, dass man über einen Stein oder eine Wurzel stolpert. Im Bannwald klafft eine Schneise mit einer Lawinenverbauung, wo eine Fahrstrasse den Aufstiegsweg kreuzt, und als ich dort kürzlich die Strasse überqueren wollte, schossen plötzlich zwei Reiter mit ihren Pferden auf mich zu. Ich zuckte erschrocken zurück. Einer der Reiter drehte sich im Sattel nach mir um. Er lachte über meine Reaktion. Nur keine Angst! rief er mir zu. Die Pferde sind harmlos. Es sind Pflanzenfresser.

 

Zum Mittag- und Nachtessen gibt es bei Seppli Ravioli aus der Dose. Am liebsten hat er die Füllung mit Pferdefleisch. Wenn Seppli das Pferdefleisch erwähnt, redet er wie ein Feinschmecker, der weiss, was gut ist. Dabei sind es ja nur Ravioli, mit Schmiersauce übergossene Teigtäschchen, die normalerweise mit Schlachtereiabfällen gefüllt sind. Seppli ist vollkommen klar, dass er von seiner Kunst niemals anständig wird leben können. Wer Künstler werden will, muss sich frühzeitig mit Ravioli anfreunden. Und natürlich auch mit dem Dosenöffner. Ob Seppli deswegen den Rank nicht findet? Weil er dazu verurteilt ist, für den Rest seines Lebens aus Dosen zu futtern? Oder liegt es an der Ortsveränderung? Ist es die Höhenlage, was ihm so zusetzt? Das Föhnwettersausen? Die alpinen Wetterumschwünge? Kälte und Regen? Plötzlicher Frost? Schnee bis an die Hausdächer heran? Seit dem Tag, an dem er mit Sack und Pack und Staffelei in sein Atelier eingezogen ist, zermürbt ihn eine innere Unruhe. Es ist, als hätte ihm die Berghöhe das Eigengewicht genommen, das Selbstverständliche des Könnens und Wollens, das den nervösen, von Wetterlaunen gebeutelten Hautsack, den wir Mensch nennen, dazu befähigt, seine Aufgaben zu erfüllen. Was unternimmt Seppli dagegen? Wie versucht er das Chaos zu bändigen? Ganz einfach. Er bemüht sich um Disziplin, er praktiziert praktisches Denken. Ich bin recht unkompliziert, behauptet er. Beim Duschen behalte ich immer die Schuhe an. Die Füsse wasche ich separat. Da ich unverheiratet bin, brauche ich keine Rücksichten zu nehmen. Das hat seine Vorteile. Unbeweibt, wie ich bin, kann ich mein Leben auf angenehme Weise vereinfachen und die alltagsüblichen, in der Beziehung zwischen Mann und Frau unweigerlich auftretenden Umstandsorgien vermeiden. Zum Beispiel kann ich mit schmutzigen Schuhen ins Bett gehen, ohne dass es jemanden stört... Seppli ist Junggeselle von Natur aus, ein richtiger Glückspilz. Wenn man Künstler ist, kommt es mit den Frauen selten gut. Ausser mit solchen, die selber Kunst machen, und die sind in den meisten Fällen lesbisch. Seppli weiss sehr wohl, dass er Künstler ist. Und weil dies weitherum niemand so sicher weiss wie er, spricht er gerne über die allgemeine Kunstignoranz. Als Künstler habe ich ein gewisses Können, das mich von der Masse abhebt, hat Seppli am Telefon behauptet. Wer schon ausser mir kann so malen wie ich? Niemand! Mein Farbauftrag ist unnachahmlich, meine Pinselführung würde jeden Fälscher vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen, und meine Pigmentmischungen, die ich endlosen Tüfteleien verdanke, sind mir oft selbst ein Rätsel. Als ich noch in meiner Stadtwohnung gemalt habe, sind oft Leute bei mir gewesen, die meine fertigen Bilder angeschaut und sich gefragt haben: wie hat er das bloss gemacht? Wie habe ich das bloss gemacht? habe ich mich dann selber gefragt. Und warum habe ich das so gemacht und nicht anders? Ja, warum? Das Warum trieb mich um. Das Warum übernahm den Pinsel und setzte bei den fertigen Bildern nochmals an. Wie meine Besucher, die einen fremden Blick mitbrachten, begann ich meine Bilder zu hinterfragen. Mir war, als hätte sich die Arbeit an diesen Bildern klammheimlich verselbständigt. Als wäre sie gar nie abgeschlossen gewesen. Fertige Bilder! Dass ich nicht lache! Was ist in der Kunst schon fertig? Mit dem fertigen Bild ist der Malvorgang noch überhaupt nicht abgeschlossen. Ein fertiges Bild ist ein Bild, das man übermalen sollte. Es macht uns glauben, man könne aus dem Malen aussteigen, um es von ausser zu betrachten. Doch der Maler ist niemals ein Betrachter. Ein fertiges Bild zu betrachten: das überlässt er den andern. Denjenigen, die alles fertig und fixiert haben wollen. Die auf Ergebnisse aus sind. Auf fertige Ergebnisse!  Für ihn ist überhaupt nichts fertig, seine Aufgabe ist nicht die Betrachtung, sondern das Malen, das Weitermalen. Er darf den Faden nicht aus der Hand geben. Er muss dran bleiben, weil er weiss, dass ihn das Fertige auf die Reflexion zurückwirft, auf die Unproduktivität. Sobald etwas abgeschlossen ist, kann man es in eine geistige Ordnung bringen. Man kann es verstehen und abnicken. Man kann ein Bild an die Wand hängen und sagen: ah, das ist es jetzt! So muss es sein! Das kann man machen, so kann man den Malvorgang beenden oder für beendet erklären, aber der Künstler wehrt sich instinktiv dagegen. Das kann es doch nicht sein! denkt sich der Künstler, der sein fertiges Bild anschaut. Naja, drei Schritte zurück und nochmals schauen. Hmmm. Besser so? Na, ich weiss nicht. Soll ich den Kopfstand machen? Oder meine Nase auf dem Bild plattdrücken? Bekomme ich dann vielleicht den richtigen Eindruck? Gescheiter wäre es, das Bild gar nicht aufzuhängen. Es gar nicht anzuschauen! Um Himmels willen, nur nicht anschauen! In der Produktivität ist kein Platz für Selbstzergliederung. Entweder man malt oder man malt nicht, und wenn man sich zergliedert, weil man nicht malt, untersucht man eigentlich immer nur das, was abwesend ist, ein Phantom. Über das Malen nachdenken kann ich nur, wenn ich nicht male, wenn sich die Distanz zwischen mir und dem Malen so weit gefestigt hat, dass ich es von mir abtrennen kann. Dann aber ist die Malerei bloss noch ein Phantom, und die Malerei, die ich wirklich erlebe und ausübe, hat nicht die geringste Ähnlichkeit damit. Was ich über das Malen sage und denke, ist völlig unerheblich. Ich könnte nichts darüber sagen und denken, ich könnte als der grösste Hohlkopf herumlaufen und trotzdem ein guter Maler sein. Das Malen kommt nicht aus dem Sachverstand des Kunstverständigen. Es kommt aus der Selbstverständlichkeit, mit der man seinen Instinkten folgt. Der Maulwurf gräbt seine Gänge. Der Vogel baut sein Nest. Der Biber staut den Fluss. Und sie alle tun das aus einem natürlichen Betätigungsdrang heraus, und niemand fragte sie nach ihrer Motivation. Lieber Herr Biber, warum tun sie das? Was motiviert Sie dazu? Was sind Ihre inneren Beweggründe?

 

Manchmal ist die Aufmerksamkeit herabgesetzt und das Interesse gering, dann will einem einfach nichts gelingen. Dann hilft es auch nichts, dass man mit dem Kopf durch die Wand will. Vielleicht muss Seppli das Malen vorübergehend ruhen lassen, es gibt ja schliesslich noch anderes, womit sich ein Maler beschäftigen kann. Vor kurzem hat Seppli das Zeichnen entdeckt. Zeichnen könnte mich aus meiner Stagnation erlösen, hat Seppli am Telefon gesagt. Zeichnen ist Glukose für das Künstlerblut. Eine Frischzellenkur! Weil es Kopf und Hand nicht trennt, sondern zu einem einzigen Impuls vereinigt. Ähnlich wie eine Zen-Übung ist das Zeichnen eine Methode des Zu-sich-selbst-Kommens in der absichtslosen Konzentration, ein lebendiges Pulsieren zwischen Yin und Yang, zwischen Auslassung und Strich, Ruhe und Fluss, Leere und Fülle. Beim Zeichnen, hat Seppli am Telefon erklärt, fühle ich eine Energie, die direkt in den Strich fliesst, vom Kopf zur Hand und über den Stift in den Strich, wie wenn das alles am Stück wäre, und ich brauche den Strich weder zu denken noch zu lenken, er findet seinen Weg von alleine, ganz flüssig läuft er aus mir heraus und aufs Papier, jede bewusste Lenkung könnte ihn verwirren und zerstören, weshalb es vor allem darauf ankommt, ihn nicht bemeistern zu wollen. Es gilt, die Kontrolle abzugeben und den Ruhepunkt, aus dem der Strich herausfliesst, zu erhalten. Beim Zeichnen bin ich ganz bei mir selbst. Sofern ich mich nicht anstrenge. Jede Anstrengung würde den Strich vermurksen und eine Verkrampfung verursachen, der man den Krampf ansieht. Indem ich einfach draufloszeichne, bleibe ich dran und im inneren Gleichgewicht. Eine beglückende Erfahrung. Wie beim Velofahren oder Seiltanzen ist es die Bewegung, die das Gleichgewicht erhält, eine Bewegung, die nicht über sich selbst nachsinnen darf. Nun, ich möchte zeichnen. Ich möchte eine Frau zeichnen, die auf einem Stuhl sitzt. Ein richtiges Modell muss her, ein schönes Modell mit einer nicht zu kurzen Frisur und nicht zu grossen Füssen. Und ihre Bluse muss hübsch drapiert sein, faltig wie eine Schneelandschaft, und diese Frau muss etwas Strahlendes oder Schimmerndes haben, sie muss im richtigen Licht sitzen, als Erscheinung sozusagen.

 

In der näheren oder weiteren Umgebung des Bergateliers eine Frau zu finden, die bereit wäre, stundenlang mit drapierter Bluse auf einem Stuhl und im richtigen Licht zu sitzen, dürfte allerdings gar nicht so einfach sein. Die Bergbevölkerung hat in der Regel anderes zu tun, als einem dahergelaufenen Künstler Modell zu sitzen. Seppli weiss das, und es bedrückt ihn. Ein bisschen gezeichnet hat er trotzdem, und zwar nach der Natur. In einem freistehenden Stall in der Nähe seines Ateliers überwintert eine Ziege, mit der sich Seppli angefreundet hat. Sieh an, habe ich zu ihm gesagt, Träume werden wahr... So ist es, hat Seppli gesagt. Sie heisst Meggy. Sie hat ein wunderschönes weisses Fell, und sie frisst mir aus der Hand. Sie verhält sich ganz anstellig. Ihr Besitzer, der Bio-Bauer Madöri, der das Atelier verwaltet, hat mir freien Zutritt gewährt. Zu jeder Tageszeit darf ich dort ein- und ausgehen. Bis das Licht schwindet. Ein Glücksfall für meine Kunst! Ob du's glaubst oder nicht: alle Ziegen-Zeichnungen, die ich bis jetzt gemacht habe, sind bereits in Madöris Besitz. Stapelweise hat er mir die Zeichnungen abgekauft. Einfach so. Mehrere Hundert Franken hat er hingeblättert, einfach so, aus seinen schmutzigen Cordhosen hat er die Scheine gezogen, aus dem Bauernbankomaten sozusagen, und es scheint mir sonnenklar, dass er nur deswegen so viel hingeblättert hat, weil auf den Zeichnungen seine Ziege abgebildet ist. Hätte ich eine andere Ziege gezeichnet, zum Beispiel die Ziege des Nachbarn, eines gewissen Hans Stöffli, den Madöri als “zugewanderten Fötzel” bezeichnet, so würde Madöri niemals soviel Geld locker gemacht haben. Mit ziemlichem Behagen hat er sich auch meine früheren Arbeiten angeschaut. Er hat sie für gut befunden, für “brauchbar”, und nachher, du glaubst es nicht, hat er mich zu einem gediegenen Nachtessen nach Schindboden eingeladen, irgendwas mit Kutteln, ich habe tüchtig reingehauen. Da siehst du es wieder, wir sind voller Vorurteile. Die meisten Bergler stehen der Kunst gar nicht so banausisch gegenüber, wie wir immer denken. Sie lassen auch Künstler gelten, die nicht so akurat malen und zeichnen wie Albert Anker. Madöri hat mir einen Bärendienst erwiesen, nicht nur als Geldgeber und Mäzen. Er hat mich auch künstlerisch gefördert. Dank seiner Ziege habe ich den Zeichner in mir entdeckt, und der Zeichner in mir hat die Ziege entdeckt, und die Ziege ihrerseits hat mein Brot entdeckt. Sie ist meine Muse, und ich füttere sie mit Brot. Sooft ich ihr einen Brotbrocken zuwerfe, schnappt sie ihn freudig meckernd und lässt ihn mit einem backenausstülpenden Käuen und Malmen zwischen ihren Zähnen zerkrachen.

 

Letztlich ist das nur eine Verlegenheitslösung. Neben dem Zeichnen bleibt alles, wie es ist. Seppli versäumt sich im gleichförmigen Tagesablauf des Nichts- oder Wenigtuns, kocht Ravioli auf einem Minikocher und mischt - wahrscheinlich in derselben Pfanne, in der er seine Ravioli kocht - pflanzliche und mineralische Pigmente mit Harz und Eigelb, woraus Farben entstehen, die sehr schnell austrocknen. Sobald Seppli die Farben parat hat, kommt etwas dazwischen und das Malen verzögert sich um ein weiteres Mal, und meistens vergisst er dann die Einweckgläser zuzuschrauben, in die er die Farben abgefüllt hat. Und so geht der Alltag im Bergatelier seinen Gang: mit leeren Leinwänden und eingetrockneten Farben. Und natürlich ist das nicht Faulenzerei und schon gar nicht wenig oder nichts. Es ist eine interessante Situation. Mich nimmt wunder, wie es bei Seppli aussieht. Ich möchte sehen, womit sich ein Künstler in seinem Atelier beschäftigt, wenn er nicht malt. Mich interessiert auch die Vorgeschichte des Malens, die Mühsal der Selbstmotivation. Das Forschen und Suchen in einer Phase, in der noch kein einziger Pinselstrich getan ist. Die Bildlosigkeit, mit der sich Seppli abmüht, regt meine Phantasie an. Ich sehe sie bildlich vor mir, diese Bildlosigkeit, sie inspiriert mich. Seppli, der Maler, betätigt sich bildnerisch und malt doch kein einziges Bild. Ein interessanter Ansatz, kratzt er doch am herkömmlichen Werkbegriff. Die Leinwände bleiben leer, die Bildschätze ungehoben. Dies und das und jenes behindere ihn und verzögere das Malen, hat Seppli am Telefon gejammert, er könne nicht stillsitzen oder stillstehen und sich konzentrieren, weil ihn dies und das und jenes mit Beschlag belege, ja, vermutlich sei er hochgradig abgelenkt, permanent auf dem falschen Sender. Aber was noch schlimmer sei: er brüte innerlich über das Malen und mache es herunter... Ja Seppli, das ist nun mal so, wenn ein Maler malen möchte, dann plagen ihn Zweifel. Und weil er nicht loskommt von seinen Zweifeln, verheddert er sich in maltechnischen Zurüstungen. Und weil er sich in maltechnischen Zurüstungen verheddert, kommt er nicht zum Malen. Und weil er nicht zum Malen kommt, treiben ihn berechtigte Zweifel um. Nicht dass ich Seppli nicht gut zugeredet hätte. Ich habe es versucht. Alles hat seine Zeit, habe ich gesagt, und deine Zeit wird noch kommen. Eines Tages wirst du deine Zweifel beiseite schieben, die maltechnischen Zurüstungen für beendet erklären und den ersten mutigen Pinselstrich ausführen, und ich weiss schon jetzt, dass er dir ein siegreiches "Aha!" entlocken wird.

 

Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit, hat einst Karl Valentin gesagt, und das Gleiche sagt auch Seppli, der diesen Spruch übernommen hat und immer wieder anbringt, um sich in Erinnerung zu rufen, dass die Arbeit noch nicht getan ist. Das Zitat bezieht sich auf die schmutzige und handfeste Wirklichkeit der Kunst, die sogenannte Kunstpraxis. Hier wird das Kind zur Welt gebracht. Hier wird es abgenabelt, in Schleim und Blut, in einem grossen Krampf. Hier wird zubereitet und angerührt, was auf die Leinwand kommt. Hier wird die Leinwand bearbeitet, sie wird besudelt und bekleckst, bis sie unter dem Farbauftrag verschwindet. Bietet sich die Gelegenheit, einen Maler zu besuchen, besser gesagt einen Kunstmaler, so ist das ein Glücksfall. Besucher sind nicht unbedingt erwünscht. Wird man dennoch eingelassen, betritt man eine Zone, in der man nichts zu suchen hat, wo unerklärliche Dinge geschehen und jeder Handgriff ein bisschen geheimnistuerisch wirkt. Die Künstler fördern diesen Eindruck ja nach Kräften. Sie werden grantig, wenn man ihnen über die Schulter schaut, und noch grantiger werden sie, wenn man, anstatt schön brav auf Abstand zu bleiben, wo man als Kunstliebhaber eigentlich hingehört, den Kopf mitten in die Leinwand hineinstösst, um auf die andere Seite blicken. Was gibt es da zu sehen? Kann man etwas Sinnvolles über Kunst erfahren, wenn man die Künstler bei der Arbeit stört? Notwendigerweise auf die Leinwand fixiert, die sie bearbeiten, verschmähen sie den zwischenmenschlichen Kontakt und halten die Geselligkeit, dieses perfide Druckmittel der Gesellschaft, so weit wie möglich von sich fern. Das Misstrauen der Künstler jenen gegenüber, die ihnen auf die Schliche kommen wollen, ist berechtigt und muss in jedem Fall respektiert werden. Wenn man darauf verzichtet, die Künstler zu bedrängen, und sich ihnen gegenüber nicht als Kunstliebhaber aufspielt, sondern bescheiden daran festhält, dass man im Grunde genommen von Kunst überhaupt nichts versteht, so ist dies vielleicht der erste Schritt zu einem erspriesslichen Miteinander. Künstler möchten nicht, dass man sich um "ein tieferes Verständnis" bemüht. Wir brauchen euer Verständnis nicht, sagen die Künstler, sagt auch Seppli. Wir sind keine Straftäter, die man verstehen muss. Wir haben keine schwierige Kindheit gehabt. Wir sind keine Abnormität, die man entschlüsseln muss. Nicht uns sollte man angaffen, sondern unsere Bilder! Im sogenannten Kunstverständnis sehen die Künstler das Gegenteil von Kunst, und im sogenannten Kunstliebhaber sehen sie nichts als einen Kunstschwätzer, der ihnen wohlmeinend dreinredet und einfach nicht begreifen will, dass es beim Kunstmachen nichts zu begreifen gibt. Den Kunstliebhaber und seinen Gemeinsinn halten die Künstler von sich fern, indem sie das Atelier verriegeln oder sich trotzköpfig gegen die Tür werfen, wenn jemand anklopft. Aber man braucht doch Menschen um sich herum! sagt man den Künstlern. Man braucht doch den zwischenmenschlichen Kontakt, den Gesprächsaustausch, das wechselseitige Interesse! Man braucht die andern, die menschliche Resonanz! Das mitmenschliche Miteinander! Das alles braucht man, um sich nicht einsam zu fühlen! Um nicht in der Isolation zu verarmen! Doch die Künstler sehen das anders. Die Künstler sagen: einen Scheiss braucht man. "Isolation" ist bloss ein anderes Wort für Produktivität.

 

Ich weiss, ich bin schrecklich ordinär. Ich gehe an jede Kunstausstellung, von der ich Wind bekomme. Und ich brauche dazu auch keine Einladung. Ich lade mich selber ein. Ich bin ein Kunstliebhaber, der sich seiner Liebhaberei überhaupt nicht schämt. Ich interessiere mich für Kunst. Und für die Künstler interessiere ich mich ausschliesslich deswegen, weil sie die Kunst herstellen. Die menschliche Seite der Künstler interessiert mich weniger. Künstlerbiografien langweilen mich zu Tode. Bei allen Künstlern ist es ungefähr das Gleiche. Sie kommen auf die Welt, sie machen Kunst, und irgendwann sterben sie. Als Menschen sind Künstler, ich muss es leider sagen, überhaupt nicht erwähnenswert. Wenn ich Seppli am Telefon habe, würde ich manchmal am liebsten aufhängen. Mach du deine Kunst, sage ich ihm, mach du deine Kunst, und zwar kommentarlos. Hör auf, mir auf die Nerven zu gehen mit deinem Gejammer. Hör auf, durch dein Atelier zu wackeln mit deinem Gespucke und deinen Kopfkratzgeräuschen, während du mit mir telefonierst. Hör auf, die handgehobelten Massivholzlatten des Atelierbodens mit deinen Schritten zu bearbeiten und ins Telefon hineinzuspucken. Künstler sollten Kunst machen und sonst nichts. Vor allem sollten sie ihre Zeit nicht mit Telefonieren vertrödeln und auf eine Hilfe hoffen, die nicht kommt. Die Hilfe kommt allein aus dir. Ja Seppli, ich sage dir auf den Kopf zu, dass du, solange du jammerst, an der Sache vorbeigehst. Erst wenn du aufhörst zu jammern, wirst du auf die Sache zugehen, die uns beiden so wichtig ist, nämlich die Kunst.

 

Wir werden zusammen Silvester und Neujahr feiern. Doch was heisst hier feiern? Die Situation ist ernst. Wir feiern, um nicht trübsinnig zu werden. Zu feiern gibt es nichts, - es sei denn, wir sehen grosszügig darüber hinweg, dass Sepplis Atelieraufenthalt mit einem dramatischen Zuwachs an Sorgen verbunden ist. Zum Glück gibt es gegen die meisten Sorgen ein probates Mittel. Man geht in eine Beiz und säuft sich die Birne voll. So können wir uns vielleicht dazu bringen, Sepplis Atelieraufenthalt als Chance zu feiern. Gratuliere, Seppli, du hast es geschafft. Endlich hast du ein Atelier und bist auf dem Sprung, ein anerkannter Künstler zu werden. Für die Dauer deines Atelieraufenthalts darfst du im Rampenlicht stehen und Kunst machen, dass sich die Balken biegen. Du geniesst das Vertrauen von Kunstexperten, die dich empfehlen und anpreisen, so wie sie auch sich selber empfehlen und anpreisen, und so lernst du Menschen kennen, Kunstliebhaber, die es gut mit dir meinen und deinen Bekanntheitsgrad zu steigern vermögen. Sie stellen dich aus, sie portieren dich als Künstler, nennen dich aber nicht Künstler, weil das viel zu altbacken und vielleicht auch zu unseriös klingt. Künstler, das klingt ja fast wie Gaukler! Offiziell bist du ein Kunstschaffender, also jemand, der sein Einkommen ordnungsgemäss versteuert und seinen Beruf nicht zu verstecken braucht. Beruf? Ja, tatsächlich, es ist ein vollgültiger Beruf. Die Eidgenössische Berufsregistratur führt den Kunstschaffenden direkt vor dem Kunststoffsachbearbeiter. Man hat dich quasi geadelt und zur Vertrauensperson erhoben, als Kunstschaffender schaffst du Vertrauen in die Kunst und vor allem auch in deine Förderer, die für dich bürgen, und du wirst erleben, dass man dir von allen Seiten hofiert, weil du, so die offizielle Verlautbarung, das kulturelle Leben der Region bereicherst und aufwertest. Ja, die Kunstförderer und Kunstliebhaber werden deine Nähe suchen wie die Motten das Licht, und sie werden über deine Witze lachen, als wärst du der grösste Witzbold. Sie werden deine Ausstellung besuchen und dir die Hand schütteln, als wärst du ein König, der eine Audienz gewährt. Denn das haben die einflussreichen und kunstliebenden Menschen so an sich: sie brauchen die Kunst, um sich in ihr zu verwirklichen. Und mit den Künstlern gehen sie eine oberflächliche Komplizenschaft ein, um sich selber einen Hauch von Künstlertum zu geben. Mit ihnen musst du dich gut stellen. Du kannst malen, wie du willst und was du willst: mit den Bildern allein erreichst du noch nichts, mit den Bildern allein bist du höchstens ein Eigenbrötler. Es braucht schon sehr viele Zutaten, damit die Kunst als solche gewürdigt wird. Zum Beispiel Information. Zum Beispiel Kontakte. Das gesellschaftliche Drumherum, das Geschwätz, die Wichtigtuerei. Fast mehr noch als die Bilder schätzen die Kunstliebhaber den Ausstellungskatalog, mit dem sie sich im Gedränge der Vernissage Luft zufächeln können. Die Künstler können nichts dafür. Sie spielen mit, weil das von ihnen erwartet wird. Ansonsten tun sie ihr Bestes, um sich dem gesellschaftlichen Druck nicht beugen zu müssen. Sie können sich das auch leisten, weil sie immer irgendwie danebenstehen. Sie durchschauen, was sie tun. Sie wissen, dass es vergeblich ist. Dass das ganze Getue um Kunst ein Schwindel ist. Die Leute brauchen Brot und Kleider. Sie brauchen Medizin und Möbel. Aber immerzu neue Kunstwerke braucht kein Mensch, und Ausstellungen sind bestenfalls eine nette Abwechslung. Die Leute haben anderes im Kopf. Sie haben ganz andere Bedürfnisse. Ganz andere Prioritäten. Die Künstler wissen das, weil es gerade die Kunst ist, die ihnen den Blick schärft für die Unterschiede zwischen Schein und Sein. Die meisten anderen Menschen erkennen diese Unterschiede nicht. Sie sehen eine gemalte Pfeife und sagen: ah, das ist eine Pfeife! Dabei ist es nur ein Fetzen Leinwand mit Farbe drauf. Die Pfeife ist eine Illusion. Eine gutwillige Vortäuschung. Gutwillig deshalb, weil sie niemanden hinters Licht führt, sondern lediglich an den Sinn für das Selbstverständliche appelliert. Einigen wir uns doch darauf, dass es eine Pfeife ist! Einigen wir uns darauf, dass Kunst etwas Schönes und Wertvolles ist! Für sie, die normalen Leute, hat alles eine gewisse Selbstverständlichkeit. Für die Künstler nicht. Sie leben in einer permanenten Verunsicherung. Eine leise Tragik umschwebt sie, und darauf sind sie insgeheim stolz. Dass es auf sie nicht ankommt, kränkt sie nicht. Es adelt sie. Sie wissen, dass von ihnen nichts abhängt. Dass sie entbehrlich sind. Würden sämtliche Künstler von einem Tag zum andern ihre Kunstproduktion einstellen, so wäre das kaum der Rede wert. Nichts würde passieren. Niemand würde sich aufregen. Die Welt würde sich gleichgültig weiterdrehen. Und das Kulturleben mit seinen Ausstellungen und Atelierstipendien würde sich mit Leichtigkeit auf etwas Anderes konzentrieren können. Zum Beispiel auf Sauerteigbrote, Strickjacken oder Spenglerarbeiten. Wie hat doch Beuys so schön gesagt? "Jeder Mensch ist ein Künstler".

 

Seppli wird mich am Bahnhof abholen kommen. Ich weiss, dass er darauf bestehen wird, den Ort nach einer Fressbeiz abzuklappern. So wie ich ihn kenne, wird ihm das ganz spontan einfallen. He, wie wär’s? Wolltest du nicht schon immer eine richtige Fressbeiz kennenlernen? Wie wär’s mit einem Silvestermenü? Am besten etwas Regionales, mit Kutteln? Natürlich werden wir darauf verzichten müssen. Am Silvesterabend spontan in eine Beiz gehen, um etwas Währschaftes zu essen? Vergiss es! Die Beizen werden gerammelt voll sein. Und die einzigen unbesetzten Plätze werden natürlich reserviert sein, nicht für Spontangäste, sondern für Gäste, die sich frühzeitig angemeldet haben. In der grössten Winterkälte werden wir also durch Schindboden marschieren und unter jedem Wirtshausschild in die erleuchteten und von Eisblumen überkrusteten Butzenscheiben spähen, und Seppli wird die Faust im Sack machen, und die Augen werden ihm tränen von der Kälte. Reserviert hat er wohl nichts. Seppli plant nie, er lässt die Dinge geschehen, und wenn sie dann aus dem Ruder laufen, macht er das Beste daraus. Oder das Zweitbeste. Er improvisiert mit dem grössten Vertrauen in die jeweiligen Umstände. Seppli geht niemals von einer realistischen Annahme aus. Realistisch ist für ihn das, was ihm gerade durch den Kopf geht, also im Prinzip auch Blödsinn. Und er ist verteufelt gut darin, blitzschnell eine oberschlaue Begründung aus dem Hut zu zaubern, um sich im Schlamassel seiner Fehleinschätzungen auf die sichere Seite zu bringen. Vernunft kann man ihm nicht attestieren, Schlauheit schon. Ist Seppli ein Chaot? Ja und nein. Momentweise gelingt es ihm, einen geordneten Eindruck zu machen. Er hat zum Beispiel eine Künstler-Agenda. Er zückt sie, sobald er eine Abmachung trifft, blättert wichtigtuerisch darin herum und trägt den fälligen Termin sorgfältig ein. Das tut er meistens mit einem Bleistift, dessen Spitze er jedes Mal ableckt, bevor er zum Schreiben ansetzt. Gut, Seppli hat eine Künstler-Agenda, und die Abmachung ist notiert. Und dabei bleibt es. Bis ihm "etwas dazwischenkommt". Oder bis ihm etwas Besseres einfällt. Bis er die Abmachung kurzfristig kippt und eine neue Abmachung trifft. Und so verliert er sich in halben Zusagen, halben Absagen, in Vagheiten, Stornierungen und Ausreden. Seine Planlosigkeit ist kaum zu beschreiben. Er habe ein Konzept, behauptet Seppli, er male so und so. Das sei sein Konzept. Was ich davon halte. Aber du malst doch gar nicht, wende ich ein. Du stellst ein Konzept auf, das ist alles. Du redest irgendetwas daher, und dann verlangst du von mir, dass ich dir zustimme. Dass ich damit einverstanden bin. Aber womit denn eigentlich? Du malst ja gar nicht!

 

Ja, ich male nicht, hat Seppli am Telefon gesagt. Meine Arbeit liegt darnieder. Sie ist ins Stocken geraten. Womöglich befinde ich mich in einer Phase der Unproduktivität, einer sogenannten Schaffenskrise. Bin ich deswegen kein Künstler? Bin ich nicht die ganze Zeit mit Kunst beschäftigt? Ich stehe mittendrin - und nicht etwa irgendwo daneben. Auch wenn die Fabrik nichts produziert, so rauchen doch die Schornsteine, und die Maschinen rasseln vor sich hin. Du hast ja keine Ahnung, was Arbeiten bedeutet! Bei dir läuft das anders. Bei dir sagt der Chef, was zu tun ist, und er schreibt dir haarklein vor, wie du vorzugehen hast, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und das Ziel ist schon da, bevor du dich überhaupt mit ihm auseinandersetzen musst, so wie auch dein Bürostuhl schon da ist und die ganze Firma, für die du arbeitest. Du bist ersetzbar und im höchsten Grade manipulierbar. Man zieht an deinem Schlips - und du spurst. Man gibt dir einen Tritt in den Hintern, wenn du einschläfst. Und hast du, unter welchen Repressalien auch immer, eine Arbeit erledigt, so bist du damit noch lange nicht aus dem Schneider, denn jetzt kommt das Nachspiel, die sogenannte Selbstevaluation, ein Verfahren, das übrigens Stalin erfunden hat. Du bekommst einen Qualifikationsbogen ausgehändigt, auf dem du deine Leistung hinsichtlich der erledigten Arbeit mit einer Punkteskala von eins bis zehn bewerten sollst. Natürlich wirst du niemals eine Zehn ankreuzen, weil du dich als ehrlich und bescheiden einschätzt und die Fairness, mit der man dich behandelt, nicht ausnützen möchtest. So eine Selbstevaluation dient letztlich dir selbst. Man will nur das Beste für dich. Und natürlich hoffst du, dass dein Chef, der manchmal überraschend nett sein kann, deine Ehrlichkeit zu würdigen versteht und grosszügig honoriert. So hält er dich unter Kontrolle und versucht dein psychisches Selbstbelohnungssystem anzureizen. Dabei tust du ja nichts anderes, als Vorgaben zu erfüllen. Wenn du von Arbeit redest, redest du nicht von Arbeit, sondern von einer Methode, Schablonen auszumalen. Fast jede Erwerbstätigkeit besteht im Grunde aus nichts anderem. Man malt Schablonen aus. Die einen malen von links nach rechts - und die andern von rechts nach links. Innerhalb der Schablone sind sie frei. Da können sie Fehler machen, Punkte holen und Auszeichnungen erringen. Aber gesamthaft gesehen, tun sie alle das Gleiche. Bis hinauf zum Chef tanzt hier niemand aus der Reihe. Und niemand ist unersetzbar. Man könnte jeden Arbeitnehmer durch einen andern Arbeitnehmer ersetzen, und die Arbeit würde immer die gleiche bleiben. Eine Arbeit, für die man Arbeitskräfte einstellt, braucht Menschen, aber sie braucht weder dich noch mich. Sie ist nichts Persönliches. Längerfristig würde kein Hahn nach dir krähen, wenn du deinen Bürostuhl räumtest. Spätestens nach einer Woche hätten sich alle vom Schock erholt, und ein anderer Depp würde auf deinem Stuhl sitzen. Das ist die Arbeit, die du kennst. Davon redest du, wenn du von Arbeit redest. Und dann kommst du daher und unterstellst mir Arbeitsunwilligkeit! Damit liegst du definitiv falsch. Eigentlich bin ich ein Schwerarbeiter. Während andere Leute die Arbeit machen, die sie bekommen, mache ich mir meine Arbeit selber. Niemand gibt mir diese Arbeit, und niemand steigt mir auf den Rücken mit Anweisungen und Lohnanreizen. Niemand plagt mich mit Qualifikationsbögen, Motivierungskursen und läppischen Evaluationsmassnahmen. Ich bin selber dafür zuständig, dass ich meine Arbeit erledige, ich bin mein eigener Chef und werde bei mir selber vorstellig, wenn ich ein Arbeitszeugnis brauche. Die Zutaten für die richtige Arbeit sind mir noch unbekannt, aber ich werde daran arbeiten, am richtigen Arbeitsrezept, so wie ich auch an der Motivation arbeite, indem ich mir schon zum voraus ein gutes Arbeitszeugnis ausstelle. Freilich ist das gar nicht so einfach. Worauf soll sich denn die Bewertung stützen, wenn noch gar nichts da ist, das ich bewerten könnte? Ist sie nicht da, die Arbeit, so ist es auch nichts mit der Bewertung, und wenn die Bewertung fehlt, ist die Arbeit sinnlos. Eine Arbeit muss ja schliesslich für etwas gut sein! Demzufolge ist das Arbeiten blockiert, und ich muss über die Bücher gehen, weil da nämlich etwas nicht in Ordnung ist mit mir, mit meiner Arbeitsmotivation. Daran siehst du, dass meine Arbeit nichts Vorfabriziertes ist. Wüsste ich jederzeit, wie ich vorzugehen hätte, so wäre ich nicht Künstler, sondern Hosenverkäufer. Oder eben Logistikassistent. Jemand wie du, der von früh bis spät in einem vollklimatisierten Büro sitzt und in seinen Computer starrt - und einmal im Monat einen Evaluationsbogen ausfüllen muss. Ich sei arbeitsunwillig, sagst du. Eine kühne Behauptung! Dir entgeht eben, dass ich schon längst zu arbeiten begonnen habe. Wo du mich noch jammern hörst, bin ich schon mitten in der Arbeit drin. 

 

Solche Komplikationen, hat Seppli am Telefon gesagt, sind in einem Künstlerleben nichts Ungewöhnliches. Sie haben eine einfache Ursache. Man malt ein bisschen vor sich hin, und irgendwann sagt man sich: das ist ja wunderbar, was ich da mache. Ich möchte Künstler sein. Ich möchte Kunst machen, so wie der Bäcker Brot bäckt oder der Logistiker Logistik betreibt. Und so wie der Bäcker die ganze Zeit nur noch an Brot und der Logistiker die ganze Zeit nur noch an Logistik denkt, denkt man die ganze Zeit nur noch an das, was man als Maler ins Werk setzen möchte. Man denkt an die Malerei, die Form von Kunst, die man beim Malen erwählt hat. Und plötzlich denkt man: scheisse, ich denke ja nur noch an die Kunst! Plötzlich kann man an nichts anderes mehr denken als an die Kunst! Gedanklich ist man auf einmal ganz und gar von der Kunst gefangen genommen, ganz und gar von ihr besetzt. Man steht am Morgen auf und denkt an die Kunst. Man geht einkaufen und denkt die Kunst. Man geht aufs Postamt und denkt an die Kunst. Man geht ein Bier trinken und denkt an die Kunst. Man geht abends ins Bett und denkt an die Kunst. So ist es bei mir bis heute. Irgendwann hat es angefangen, und dann ist es einfach immer weitergegangen, und so hat es sich bei mir eingebürgert, dass ich immerfort nur noch an die Kunst denke. Mein Alltag ist weitgehend bestimmt durch das, was ich An die Kunst denken nenne. Ich denke an die Kunst, also denke ich an die Kunst. Ich denke, also bin ich Künstler. Jetzt geht nur noch darum, die Kunst auch zu machen. Meine Kunst, die sich gedanklich vorformt, ehe sie zum Gegenstand einer Handlung wird, kann es kaum erwarten, dass meine Schädeldecke knackend aufspringt und ein fertiges Bild in die Welt entlässt. Ich brenne darauf, dass sich meine Kunst, die so lange im Verborgenen geschlummert hat, explosionsartig enthüllt. Aber das tut sie natürlich nicht, nicht so ohne weiteres. Noch nicht. In diesem Stadium entsteht nichts Fertiges, nicht Abgeschlossenes, sondern lediglich eine Stimmung, aus der sich eine gewisse innere Empfänglichkeit ergibt, die das Kunstmachen zwar nicht immer begünstigt, aber doch auch nicht verunmöglicht. Man könnte dieses Stadium als ein Schweben zwischen verschiedenen Möglichkeiten beschreiben. Die Gedanken schweifen, sie erproben, inwieweit sie der Kunst, die ich vorhabe, gewachsen sind, aber diese Gedankenarbeit ist noch keine Arbeit im eigentlich Sinn, die Arbeit im eigentlichen Sinn entsteht erst bei völliger innerer Freiheit des Denkens, die in diesem Stadium erst angedeutet, aber noch weit davon entfernt ist, eine tatsächliche Form anzunehmen. Die eigentliche Arbeit kommt aus der Musse. Dem Schweifen der Gedanken, den täglichen Handhabungen. Beim Einkaufen, Salatrüsten und Raviolikochen denke ich immerzu an die Kunst, ohne an etwas Bestimmtes zu denken, ich denke ans Machen, ohne daran zu denken, dass ich mir unter dem Machen schon irgendetwas vorstellen könnte, etwas Machbares zum Beispiel, ja, die Vorstellung an sich ist mir noch völlig fern, das Machen schwebt mir lediglich als Hohlform vor, als etwas Unbestimmtes, und dann - dann kommt mir plötzlich eine Eingebung, ich stosse durch, ich renne zu meinem Notizbuch und schreibe auf, was mir durch den Kopf geschossen ist, und meistens ist es ein Gedanke, aus dem ich nicht schlau werde. Aber wer wird schon schlau aus sich selber?

 

Ein Ruck befördert mich aus meinen Gedanken. Ich sehe das Stationsschild. Da bin ich also. Ich wälze mich aus dem Sitz, nehme meine Tasche aus der Gepäckablage und binde mir den Schal um. Draussen muss es klirrend kalt sein. Vor den Zugtüren drängen sich Skifahrer, und hinter den weissen Dächern ragt ein Berg in die Höhe, der mit seinen blau durchfurchten Hängen wie gemalt aussieht. Ich steige aus und schaue mich um. Wo ist Seppli? Ich hoffe, es ist ihm nichts dazwischengekommen.

 

2008