Der Router

 

Jahrelang ging ich Abend für Abend eine Runde spazieren. Ich brauchte das, um den Kopf freizubekommen. Dabei hatte ich eine ziemlich blöde Angewohnheit. Ich führte Selbstgespräche. Wenn ich beim Gehen meinen Gedanken nachhing, begann ich zuweilen halblaut vor mich hinzureden. Dabei achtete ich kaum noch auf die Umgebung. Plötzlich tauchte jemand vor mir auf und sagte "Grüezi". Oder glotzte mich einfach nur an. Das war mir dann manchmal etwas peinlich. Irgendwann traf ich jemanden an, der ebenfalls halblaut vor sich hinredete. Ich dachte: endlich! Endlich bin ich nicht mehr der Einzige, der das tut! Es gibt noch andere, die dieses unbezwingbare Bedürfnis haben! Doch die Enttäuschung folgte auf den Fuss. Der Mann (es war ein Mann) hatte etwas am Ohr. Er redete nicht mit sich selbst. Er redete in ein kleines, kaum sichtbares Gerät hinein. Es hatte Knopftasten und eine stumpfe, kurze Antenne. Es lag ziemlich versteckt in der Hand, schon damals waren diese Dinger recht klein. Ich glaube, mich laust der Affe, dachte ich. Was ist denn das? Andauernd und immer öfter traf ich jemanden an, der beim Gehen telefonierte. Meistens sah man das erst auf den zweiten Blick. Auf den ersten Blick sahen diese Leute aus, als ob sie Selbstgespräche führten. Mit einer Hand am Ohr, wie um sich abzuschirmen und tief in sich hineinzuhorchen. Die Hand am Ohr deutete ich instinktiv als Geste der Selbstbezogenheit, der Kontemplation. Dass das genaue Gegenteil dahintersteckte, nämlich eine schrankenlose Kommunikation, empfand ich als kognitive Dissonanz. Ich konnte mich nur schwer daran gewöhnen, an diese Menschen, die sich auf einmal so anders verhielten und in aller Öffentlichkeit die banalsten und intimsten Dinge ausplauderten, ohne dass man den Zusammenhang erfuhr. Das ging weit über meine Selbstgespräche hinaus. Diesen unbeirrbaren und zusammenhanglosen Redefluss kannte ich sonst nur von Leuten, die emotional verwirrt waren. Das Gute daran war, dass meine Selbstgespräche nicht mehr auffielen. Plötzlich galten sie als normal. Kein Mensch scherte sich darum, dass ich nicht in ein mobiles Telefon sprach, ein sogenanntes Handy, sondern einfach nur in die Luft, in den leeren Raum. Aber sprachen denn nicht alle plötzlich in die Luft und den leeren Raum? War das nicht ein Massenphänomen? Ich verschwand in der Masse der vor sich hinschwatzenden Menschen. Wie sagte doch Salvador Dali? Der Unterschied zwischen mir und einem Verrückten besteht darin, dass ich nicht verrückt bin. 

Irgendwann kam ich dann zu einem Nokia-Handy. Da konnte ich schwerlich abseits stehen: das übliche Wettrüsten. Allerdings gebrauchte ich es eher selten, fast nie eigentlich. Oder nur, wenn ich unbedingt musste. Manchmal lag es wochenlang in meinem Keller. Ich legte es dort irgendwohin, wenn ich etwas versorgen musste, und vergass es dann, und erst ein paar Wochen später, wenn mir jemand sagte, er hätte mich vergeblich zu erreichen versucht, holte ich es aus dem Keller und lud es auf. "Schick mir das nächste Mal eine Brieftaube", sagte ich, "das funktioniert besser." Wofür brauchte ich eigentlich mein Handy? Gute Frage. Hin und wieder brauchte ich es, um die Uhrzeit nachzuschauen. Ich trug nämlich keine Armbanduhr. Und ja, ich brauchte es für alle Fälle. Man wusste ja nie. Ein Leben ohne Handy konnte sich niemand mehr vorstellen. Auch ich gewöhnte mich daran, an diese neue Normalität, diese neue Kommunikationsform. Im Laufe der Jahre wuchs mir mein Nokia-Handy ans Herz. Ich mochte es, weil es unverwüstlich war, bruch- und wetterfest begleitete es mich auf Bergwanderungen und Höhlenexkursionen. Ausserdem gab es mir ein gutes Gefühl. Ich war ein Mensch mit Handy. Ein Mensch des 21. Jahrhunderts! Von mir aus hätte die Zeit jetzt stehenbleiben können. Ich weigerte mich jahrelang, ein neueres Modell zu kaufen. Damit entstand ein neues Problem: ich wurde zum Exoten. Noch im Jahr 2020, als alle Welt schon längst mit Smartphones telefonierte, benutzte ich noch mein altes Nokia-Handy, den "Knochen", wie ich es liebevoll nannte. Es lief noch auf der alten 2G-Frequenz, die wegen ihrer niedrigen Datenmenge nur für Sprachtelefonie und SMS taugte. Für mich war das vollkommen ausreichend. Ich war wunschlos glücklich. Doch wunschlos glücklich zu sein in einer fortschrittsdynamischen Marktwirtschaft: das ist eine Todsünde. Plötzlich hiess es, man würde die 2G-Frequenz abschalten. Demnächst oder irgendwann, definitiv oder nicht: ich wusste, dass die Zeit meines Nokia-Handys ablief. Die 5G-Abdeckung wurde eifrig vorangetrieben. Und so kaufte ich mir ein Smartphone. Zähneknirschend. Alles andere als freiwillig.

Ich mag Dinge, die sich nicht ändern, auf die man sich dauerhaft verlassen kann, weil sie immer auf dieselbe Weise gehandhabt werden. Sie vereinfachen mir das Leben. Sie vereinfachen mir die Arbeit. Ich mag zum Beispiel die Farben, mit denen ich male. Acrylfarben gibt es seit ungefähr siebzig Jahren, seit es Plastikprodukte gibt. Und Ölfarben gibt es seit ungefähr 600 Jahren, in Tuben seit ungefähr 200 Jahren. Da hat sich wenig geändert - und wird sich auch in Zukunft wenig ändern. Beim Malen kann ich mich voll aufs Malen konzentrieren. Ich muss keine Angst haben, die Öl- und Acryltechniken, die ich irgendwann erlernt habe und auf denen ich meine ganze Malerei aufbaue, könnten bald einmal veraltet und nicht mehr anwendbar sein. Oder ich mag mein rot glasiertes Geschirr. Seit zwanzig Jahren steht es in meinem Geschirrschrank, nachdem es etwa dreissig Jahre lang jemand anderem gehört hat. Ein Occasion-Geschirr. Seit zwanzig Jahren esse und trinke ich daraus. Zwanzig Jahre, das ist eine lange Zeit, da kann viel passieren. In diesem Zeitraum habe ich meinen Computer ungefähr siebenmal durch ein neueres Modell ersetzen müssen. Diese Rasanz, die einen riesigen Berg an Elektroschrott erzeugt, grenzt an Wahnwitz. Während man ein Gemälde aus der Renaissance relativ einfach restaurieren kann, erweist sich die Reparatur eines beschädigten Laptops mit Baujahr 2017 als unmöglich, weil die dazu erforderlichen Ersatzteile nicht mehr vorhanden sind. Während ein Ägyptologe zumindest theoretisch aus einem Gefäss trinken kann, aus dem schon Kleopatra getrunken hat, ist es einem Computernutzer unmöglich, einen Computer zu benutzen, den er vor fünf oder zehn Jahren benutzt hat. Nach dieser Frist läuft nichts mehr rund, man braucht einen Adapter, man braucht ein Upgrade, man braucht eine Reparatur, und das alles ist im Endeffekt zu mühsam. Dann lieber einen neuen Computer kaufen.

Ich weiss nicht mehr genau, wann das angefangen hat. Aber irgendwann hat sich die Entwicklung überschlagen. Sie hat mich überrollt. Innerhalb weniger Jahre bekam ich dreimal einen neuen Router zugeschickt. Damit wurde sichergestellt, dass mein Telefon und mein Internetbrowser auf dem jeweils neusten Stand der Datenübertragung und des Networkings die optimale Leistung erbrachten. Vollends optimiert wurde die Sache, als das Internet-Fernsehen dazukam, das ich eigentlich gar nicht brauchte. Ich hatte keine Ahnung, wie man es benutzte, oder warum man es überhaupt benutzen sollte. Ich mache mir nichts aus Fernsehen. Ich schaue DVDs oder YouTube. Aber bezahlen musste ich es trotzdem. Und ich meine damit nicht einmal die Radio- und Fernsehgebühren, die ja an sich schon eine Unverschämtheit sind. Ich meine die TV-Internetkosten meines Anbieters: versteckte Kosten, die mich ärgerten. Vor allem weil sie nicht wirklich versteckt waren. Ich war nur zu blöd oder zu bequem, um mich mit dem Kleingedruckten zu befassen. Theoretisch wäre es möglich gewesen, diese Kosten aufzuschlüsseln. Das eigentliche Problem war aber viel umfassender. Letztlich war ich zu blöd, um den unumgänglichen Fortschritt zu akzeptieren. Was? Sie wollen kein Internet-Fernsehen? Sind Sie eigentlich ein Alpöhi? Was für ein komischer Mensch sind Sie überhaupt? So etwas hörte ich überall heraus. Wer nicht mitzog, geriet unter Rechtfertigungsdruck. Das Internet-Fernsehen wurde mir als Selbstverständlichkeit angedreht. Dieses Insistieren auf dem jeweils Neusten und Fortschrittlichsten, diese Dauerhatz, dieses Hecheln nach immer neuen Geräten und Errungenschaften grenzte an Nötigung. Eine wirkliche Entscheidungsfreiheit gab es kaum noch. Woher diese Bevormundung? Ich begann zu grübeln. Ich kam auf folgenden Gedanken: bestimmt gibt es gut organisierte Gruppen, die davon profitieren, Aktionäre, Manager, Consulter und Entwickler. Bestimmt gibt es eine Mafia, die das alles einfädelt, eine dunkle Macht, die uns für dumm verkaufen, die uns drankriegen will. Ich witterte eine Verschwörung. Plötzlich gehörte ich auch zu denen, die in Bill Gates den Inbegriff des Bösen sahen. Der hatte ja schliesslich mit diesem Blödsinn angefangen. (Steve Jobs kam bei mir besser weg, ohne Apple hätte ich keine Filme machen können). Mir selber brachte der jeweils neuste Router nichts. Ich bekam ihn unverlangt zugeschickt, und ich wusste, dass es eine Dienstleistung war, die ich hätte würdigen sollen. Man meinte es gut mit mir. Der neueste Router war gratis. Ich profitierte doppelt und dreifach davon. Dank der unverlangten Zusendung war ich automatisch wieder auf dem neusten Stand der kommunikationstechnischen Übertragung. Up to date, eine Redewendung, die hier wortwörtlich zutrifft. Auf der Höhe der Daten. Doch seltsam: ich merkte keinen Unterschied. Ein Router war für mich wie der andere. Und ich wusste, ich war kein Spezialist, ich hatte das nötige Unterscheidungsvermögen nicht. Ein Spezialist hätte mich mit gutem Recht auslachen können. Und ich hätte sogar mitgelacht. Weil ich zu blöd war, um die Vorteile des neusten - des allerneusten! - Routers zu erkennen und zu nutzen. Ich durchschaute es nicht. Und ich durchschaue es immer noch nicht. Ich habe kein bisschen dazugelernt. Ich bin von gestern, nein, von vorgestern. Hoffnungslos zurückgeblieben in einer Zeit technologischer Unbedarftheit. Entwicklungsunfähig. Ich habe noch die analoge Eierschale auf dem Kopf. Als ich geboren wurde, flogen die Amerikaner mit der Rechenkapazität eines Taschenrechners auf den Mond. Und als meine Mutter geboren wurde, war soeben der erste Computer gebaut worden. Er war so gross wie ein Wohnblock und brauchte täglich 10 Liter Kühlflüssigkeit, damit der Motor nicht explodierte. Und als mein Grossvater geboren wurde, arbeitete dessen Mutter noch an einem mechanischen Webstuhl, an einem Möbel von der Grösse eines Steinway-Flügels, 12 Stunden am Tag und für einen Lohn, den man heute als Hungerlohn bezeichnen würde. Zwei bis drei Generationen später stand ich nun also vor dem neusten Router, und ich fragte mich, was daran so neu sein sollte. Ich verstand es nicht. Was ich hingegen auf Anhieb verstand und durchschaute, war die missliche Lage, in die man mich brachte. Ich musste mitmachen, ob ich wollte oder nicht, damit ich den kommunikationstechnologischen Anschluss nicht verlor. Das heisst: den Anschluss ans Leben. Und so war ich - nicht nur einmal, sondern zwei- und schliesslich sogar dreimal - der Depp, der einen neuen Router installieren und jedes Mal feststellen musste, dass der neue Router so gut oder schlecht war wie der vorige, abgesehen vielleicht vom sichtbar verbesserten Design. Immerhin, da konnte ich mitreden. Schöne Sachen machen, das können sie. Mit dem verbesserten Design konnte ich mich anfreunden. Was mich allerdings ein bisschen störte, war die Technik, die sich darin verbarg. Das Design war ein Trojanisches Pferd. In der Makellosigkeit des Gehäuses keimte schon mein zukünftiges Verderben. Irgendwann würde die angeblich ultimativ beste Technik veraltet sein, zu niedrige Übertragungsrate oder sowas, sie bekäme Kompatibilitätsprobleme und müsste ersetzt werden, und man würde mir (abermals) den ultimativ neusten Router zustellen, "mit den besten Empfehlungen". Darauf musste ich gefasst sein. Alles nur gut gemeint! Man darf sich nicht aufregen. Doch es kam anders. Wie durch ein Wunder verschwand der Router aus meinem Alltag. Irgendein Techniker kam vorbei und richtete das Internet neu ein. Da ich meinen Merkzettel mit den persönlichen Internet-Daten nicht mehr finden konnte, musste er zuerst die Passwörter neu erstellen, musste meinen Internetzugang neu konfigurieren. Das Wort "konfigurieren" ist ein Computerwort, das nicht nur ausserordentlich schön klingt, es hat auch den Vorteil, dass man es leichthin einfliessen lassen kann, wenn jemand am Computer etwas Unerklärliches anstellt, irgendetwas neu einstellt oder neu aufsetzt. Obwohl man keinen Dunst hat, wovon man da redet, wirkt man sofort kompetent, wenn man eine Konfiguration erwähnt. Solche Wörter kenne ich noch aus meinem Kunststudium. In fachlichen Diskussionen sagte man dort oft, man "interpoliere" etwas oder mache eine "Interpolation". Kein Mensch wusste, was damit gemeint war, aber es klang cool - und passte in jedes Kunstgespräch. Als der Techniker fertig konfiguriert hatte, ging alles wie am Schnürchen. Mein Internet lief besser als je zuvor. Weitere Behelligungen blieben aus, man liess mich plötzlich in Ruhe. Grosses Aufatmen. Wie ich heute mein Internet empfange, weiss ich nicht. Es funktioniert irgendwie anders, der Empfang läuft nicht mehr über den Router. Stattdessen vermutlich über die Wasserleitung. Und was ist ein Router überhaupt? Mal abgesehen davon, dass er irgendwas mit Internet zu tun hat? Mit WLAN? Wie funktioniert er genau? Wieso heisst er Router und nicht Mensch-ärgere-dich-nicht? Ich habe es nie herausgefunden. Und im nachhinein ist es mir auch egal. Ich habe andere Probleme. Zum Beispiel das Smartphone. Ich habe mir endlich eines gekauft. Mit Ach und Krach habe ich es in Betrieb genommen. Zweimal schon habe ich aus Versehen jemanden angerufen. "Nein, ich will nichts von dir. Ich bin einfach zu blöd, um dieses Gerät zu bedienen." Ja, der Spass fängt jetzt erst so richtig an. 

 

 

2022