Der Grossvater

 

Hinter dem Viadukt, das mit seinen Bögen den Taleinschnitt zwischen Homberg und Kirchhübel überspannte, lag die Ormalingerstrasse. Hier, an der Ormalingerstrasse 17, fünf Gehminuten von unserer Wohnstrasse entfernt, befand sich Mutters Elternhaus, und ihr Vater war noch da, der Grossvati, wie wir ihn nannten. Im Untergeschoss des stattlichen Hauses, in dem Mutter mit ihren vier Geschwistern aufgewachsen war, betrieb der pensionierte Schreiner eine kleine Bude, wo er hie und da noch ein bisschen werkelte, an der Hobelbank und im Geruch von Beize, Talg und Spänen. Er machte Restaurierungen, polierte alte Möbel auf, schliff und lackierte sie und befreite sie von Holzwürmern, wobei er die Holzwurmlöcher drin liess. Wie er als Fachmann wusste, waren sie ein Qualitätsmerkmal, wertvoller als das Holz, das sie umgab. Ansonsten war Grossvati viel und gern unterwegs, mit riesigen Schritten und schwingenden Armen und einer lauten, schneidenden Stimme, die immer sofort im Mittelpunkt war und alles an sich zog, um es mit Hüst und Hott in die richtigen Bahnen zu lenken. Damals erschien mir die ganze nähere und weitere Umgebung und vor allem das Dorf als eine Sache, die sich ausschliesslich um diesen Grossvater drehte. Er war so allgegenwärtig und ortstypisch wie der reformierte Kirchturm. Aber im Gegensatz zum Kirchturm war Grossvati ständig in Bewegung. Er war der speuzfidele Riese, der immer irgendwo umherschritt, mit lauter Stimme Anweisungen gab und alles kommentierte, was er sah oder hörte. Wenn er etwas lustig fand, lachte er laut heraus. Wenn ihm etwas nicht passte, machte er das wild gestikulierend kund, mit Ausrufen, die an die gutartigen Wutausbrüche der Grossväter von früher erinnerten, an Figuren wie Heinrich Gretler oder Emil Hergetschwiler. Dieses Schimpfen nannten wir Futtere. Es war eher ein Schimpfen als ein Fluchen. Ein Herummaulen, mit dem man Dampf abliess, ohne etwas kaputt machen zu wollen. Grossvati stammte aus einer anderen Zeit. Einer lang vergangenen, sagenhaft entrückten Zeit, wie mir schien. Ich konnte mir diese Zeit nur in Schwarzweiss oder als verwaschenen Kodak-Farbfilm vorstellen. Und trotzdem war sie noch überall gegenwärtig und abrufbar, in alten Filmen und Fotographien, in dem, was Vater und Mutter aus ihrer Schulzeit erzählten, und vor allem auch in dem, was Grossvati erzählte, wenn er mit Altersgenossen zusammenkam, um in gemeinsamen Erinnerungen zu schwelgen. Nicht immer waren es nur schöne Erinnerungen, aber sobald man etwas getrunken hatte und in Stimmung kam, gewann auch das weniger Schöne einen verklärten Glanz. Es seien harte, aber auch gute Zeiten gewesen, hiess es. Sällizyt (damals) war ein Zauberwort. Das war vielleicht anno 64 gewesen, als man mit dem Extra-Bus nach Lausanne an die Landi gefahren war. Oder anno 39, als die Landi in Zürich stattgefunden hatte. "Weisch no?" ("Weisst du noch?") sagten die Alten oft, zu denen auch Grossvati gehörte, und ebenso oft gebrauchten sie das Zauberwort Sällizyt, und jedesmal, wenn das geschah, sah man als Ohrenzeuge die ganze alte Zeit vor sich, grobkörnige Bilder mit vielen Details, die gar nicht direkt erwähnt wurden, aber sehr leicht abrufbar waren. Kein Mann ging ohne Hut aus dem Haus, die Mädchen trugen Zöpfe und Flechtfrisuren, jeder Bub hatte ein sauberes Nastuch im Hosensack, und die Frauen schufteten unablässig im Haushalt, wo es noch keinen Staubsauger und keine Waschmaschine gab. Da wurde Wäsche gewalkt, Böden wurden gebohnert und Bohnen geputzt. Und die Schulkinder schrieben auf Schiefertafeln und mühten sich mit Stahlfedern und Tintenfässchen ab, und im Sommer gingen sie barfuss. Und vor einer Abstimmung trafen sich die Männer im Ochsen oder im Rössli, klopften auf die Tische und redeten sich die Köpfe heiss, wobei sie Wörter wie "Herrgottstärnesiech" ausstiessen, bis sie bei einem Zweierli Roten oder Riesling die gute Laune wiederfanden und "O mein Heimatland" sangen. Überhaupt wurde früher allerorten gesungen: bei der Arbeit, beim Wandern, beim Zugfahren, im Festzelt, wo auch immer. Grossvati war ein Grossvater, der singen und jodeln konnte. Ob nüchtern oder nicht, unter seinesgleichen im Männerchor, auf gemeinsamen Wanderungen oder alleine für sich: er war gut bei Stimme. Und liess seine Stimme auch gerne hören. Er juchheite von den Bergen herab, judihuite in die Wälder hinein, jodelte die Felswände hinauf und benutzte jede Höhle als Echokammer. Mal hineinrufen - und dann lauschen. Die Verzögerung, mit der das Echo herauskam, zeigte an, wie tief die Höhle war. Und wenn das Echo stark zersplittert war, musste die Höhle entsprechend verwinkelt oder gewunden sein. Grossvatis Stimme suchte immerfort nach einem Raum, wo sie sich ausbreiten, wo sie schallend und zurückschallend die landschaftliche Weite ausmessen konnte. Die "grüne Flur" war sein Solistenpodium. Die "grüne Flur" war die liedmässig verklärte Landschaft im Gesang und zugleich auch das Gesangspodium und der Schallraum für diesen Gesang. Grossvati probierte beim Wandern aus, wie weit seine Stimme trug. Er kombinierte sie mit Bergen, Tälern, Wäldern und Höhlen, mit Wasserfallrauschen, Donnergrollen und Vogelgezwitscher. Eine Ruhestörung war das nicht. Selbst im stillsten Wald hörte man noch etwas, und sei es auch nur das Klopfen eines Spechts, das Rascheln einer Maus, das vorwitzige Trip-trap eines Eichhörnchens. Wirklich still war es nirgends. An manchen Orten, die man aufsuchte, weil man deren Ruhe und Abgeschiedenheit geniessen wollte, wurde sogar lautstark musiziert. Grossvati nahm das in sich auf und reagierte darauf. In der Natur um ihn herum sang und pfiff es andauernd von irgendwoher. Besonders im Frühling und im Sommer. Da tönte es aus Baumkronen und Gebüschen. Aus Wiesen und Bächen. Aus Schlüpfen und Tobeln. Aus Gärten und Teichen. Da war immer etwas los, und wer da wie ein Stadtmensch nur die Ruhe suchte und das alles ausblendete, dem entging die ganze tönende Naturfülle. Auf die musste man achtgeben, für die musste man ein Gehör haben, eine gewisse Aufnahmefähigkeit, für die es einen gewissen Sachverstand brauchte. Ein umfassendes Verständnis, damit man die Wahrnehmung überhaupt auf das alles ausrichten konnte. Was da tönte, hatte ein Leben, das sich oftmals im Kleinen und Verborgenen abspielte. Und da galt es nicht nur hinzuhören, sondern auch hinzusehen. Wenn sich Grossvati in der Natur aufhielt, beschäftigte er sich mit Sachen, mit denen er sich auskannte. Und die er nur deswegen überhaupt wahrnahm. Bei ihm war das besonders die Vogelwelt. Er war im Natur- und Vogelschutzverein Gelterkinden, und er war dort lange im Vorstand, zusammen mit Lehrer Vögeli (er hiess tatsächlich Vögeli) und dem alten Schaffner, der ein Imkerhäuschen hatte. Der dreiköpfige Vorstand traf sich regelmässig in Grossvatis Küche zu einem Umtrunk, zu einer halbinformellen Vorstandssitzung. Die Vogelwelt lag ihm am Herzen. Sie war seine Leidenschaft. Und auf seinen Wanderungen ging er dieser Leidenschaft denn auch entsprechend leidenschaftlich nach. Von Zeit zu Zeit duckte er sich zum Wegrand hinab, weil da etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Für eine Vogelfeder, den Splitter einer Eierschale, ein Dunghäufchen oder ein verlassenes und halb verschimmeltes Amselnest liess er das schönste Postkartenpanorama links liegen. Eine Naturbesinnlichkeit gab es bei ihm nicht. Auf Wanderungen und Ausflügen wurde er alle paar Schritte auf einen schnalzenden, zirpenden oder tirilierenden Vogel aufmerksam, dem er schnalzend, zirpend oder tirilierend Antwort geben musste. Oft imitierte er einen aufgeschnappten Vogelruf, etwa den eines Rotkehlchens, das seinerseits einen Vogelruf imitierte, sodass man nie ganz sicher war, ob das Schnalzen, Zirpen oder Tirilieren von einem Rotkehlchen, irgendeinem anderen Vogel oder von Grossvati herrührte. Und manchmal war das Rotkehlchen besonders gewitzt und fing an, Grossvati zu imitieren, sodass überhaupt niemand mehr draus kam. 

Grossvati war auch ein Grossvater, der tatsächlich wie ein Grossvater aussah: schlohhaarig, mit Kittel und Dachkäppi, aber ohne Krückstock. Eine Gehhilfe brauchte Grossvati nicht. Er lief wie ein Windhund, und Laufen konnte alles Mögliche heissen. Der mundartliche Sprachgebrauch fasst das sehr weit. Er legt sich ungern fest. In der Deutschschweiz braucht man nicht unbedingt eine Traininungshose, wenn man laufen geht. "Gosch go laufe?" ("Gehst du laufen?") Ein Ausdruck, den ich liebe, weil er so reichhaltig ist. Was kann "laufen" doch nicht alles bedeuten! Und was bedeutet es, wenn jemand sagt: "Ich gang go laufe"? Es bedeutet nicht bloss, dass man laufen geht, sondern (ich übersetze, so gut ich kann) laufen gehen geht. Eine genaue Übersetzung ist fast nicht möglich. Gleich drei Sachen aufs Mal, und alle haben mit Gehen oder Laufen zu tun. Und alle sind aufeinander bezogen, unterstützen einander: einmal laufen und zweimal gehen. Da gibt es eine lange Anlaufzeit, eine Inkubationsphase des Laufens oder Gehens. Diese Wortanhäufung könnte man für sinnlos oder schnörkelhaft halten. In Wirklichkeit ist sie sehr beredt. Weil da die Möglichkeitsform mitschwingt, die helvetische Umständlichkeit, das Ummechnüble (Herumfingern) im Vagen und Indirekten. Man trägt sich mit der Absicht, zu gehen oder zu laufen, während man gleichzeitig dorthin unterwegs ist, wo man gehen oder laufen kann, resp. können wird. Wo es dann mit dem Gehen oder Laufen erst so richtig losgeht. Aber zuvor muss man noch in die Gänge kommen. Man geht darauf zu, ist auf dem Weg zum Gehweg, zur Rennbahn, zum Vitaparcours, zum Gehen oder Laufen im Hauptmodus. Man steht im Begriff, es zu tun, ist quasi drauf und dran, in die Sache einzusteigen, und bereitet sich darauf vor, indem man zum Beispiel die Beine schüttelt oder auf der Stelle tritt. Oder überhaupt mal die richtigen Schuhe anzieht. Das Gehen oder Laufen als etwas, das man angeht. Da schwingt eine grundsätzliche Offenheit mit, die Bereitschaft, sich auf das Gehen und Laufen einzulassen, indem man sich schon mal in Bewegung setzt. Laufend oder gehend. Prophylaktisches Gehen, Laufen im Vorlaufmodus. Man läuft sich ein. Man geht es an. In diesem aufs Gehen oder Laufen Zugehen, das stockend, zögerlich, umsichtig oder zielstrebig sein kann, deutet sich auch schon die Unklarheit des Laufens an. Man geht laufen. Aber Laufen kann eben auch Gehen heissen. Man lässt offen, ob man wandern oder dauerlaufen geht. Es kann buchstäblich jede Fortbewegungsart damit gemeint sein, sofern es eine ist, bei der die Beine mit dem Boden in Berührung kommen. Gehen, Marschieren, Traben, Rennen, Sprinten und noch viel mehr kann unter Laufen laufen. Entsprechend weit war das Feld, das ich von früh auf durchlief. Meine halbe Kindheit hindurch war ich am Laufen oder Mitlaufen. Manchmal war das fast zum Davonlaufen. Manchmal lief ich voraus - und manchmal hinterher. Es kam vor, dass ich vorübergehend das Schlusslicht machte, weil meine Schuhbändel wieder einmal aufgegangen waren. Das taten sie ziemlich oft. Wie fast alles an mir hatten sie ein Eigenleben, einen eigenen Willen. Sie störten mich mehr, als dass sie mir nützten. Mitten im freien Lauf brachten sie mich ins Stolpern, brachten mich aus dem Tritt. Oft gingen sie nicht nur auf, sondern waren in ihrem offenen und losen Zustand auch noch irgendwie verknotet, sodass ich beharrlich daran ummechnüble (herumfingern) musste. Die Verknotung zu lösen, beanspruchte meine ganze Aufmerksamkeit. Ein Kampf, der nur mich selbst etwas anging, respektive mich und mein Schuhwerk, nicht die andern Läufer, eine Sache zwischen mir und meinen Schuhbändeln, eine alte Fehde, die immer wieder ausbrach und immer wieder beglichen werden musste. Wenn ich beim Entknoten und Schuhebinden etwas zurückblieb, so holte ich das jeweils schnell wieder auf. Hauptsache, ich blieb dran. Nur nicht schlapp machen! Die Konkurrenz schlief nicht. Sie lief. Und wenn ich nicht aufpasste, lief sie mir davon, und ich war dann der Dumme, auf den man warten musste. Wer nicht richtig mitkam, fiel in eine Gangart, die man als tschumpeln bezeichnete. Jemand, der tschumpelte, setzte plump und mechanisch einen Fuss vor den andern, hoffte nur noch darauf, baldmöglichst ans Ziel zu gelangen. Soweit kam es bei uns selten. Alle Menschen um mich herum waren irgendwie lauffreudig. Das fing schon bei Vater und Mutter an. Vater lief morgens auf den Zug, und in der Stadt lief er dann weiter. Anstatt wie die meisten andern Pendler aufs Tram umzusteigen, lief er gut zwanzig Minuten den Tramgleisen entlang, bis er in seinem Büro ankam, wo er dann noch durch das halbe Gebäude lief, weil das Büro ein Grossraumbüro war, und abends machte er dasselbe in umgekehrter Richtung. Und Mutter lief täglich ins Dorf hinab, um ihre Kommissionen zu machen. Oder sie lief einfach nur dem eindringlich tickenden Sekundenzeiger hinterher. Sonntags, wenn es einigermassen schön war, schlüpften wir in die imprägnierten Wanderschuhe und tippelten drauflos. Das Tippeln, wie wir das Wandern nannten, war eine weitere Form des Laufens, irgendwo zwischen Marschieren, Klettern, Rutschen und Spazieren, eine erstklassige Erholung, auch wenn man dabei etliche Höhenmeter zu überwinden hatte. Von einem ordentlichen Tippel geschlaucht zu sein, war die beste Schlafgarantie. Und auch die Leute, die wir kannten, zumindest auf dem Land, liefen wie wild in der Gegend herum, die eine Wandergegend war mit vielen Rastplätzen, Wegweisern und Burgruinen. Da konnte man auf ausgesuchten Strecken von einem Aussichtspunkt zum andern laufen. Und der grösste aller Läufer war Grossvati. Er preschte immer voran. Bei ihm war das Laufen schon fast ein Rennen. Um mit ihm Schritt halten zu können, musste man gut in Form sein, sonst blieb man auf der Strecke und musste von der Müllabfuhr zusammengelesen werden. Doch meistens war mit Laufen nur das allergewöhnlichste Gehen gemeint. "Chasch nümm laufe?" ("Kannst du nicht mehr laufen?") fragte man jemanden, der fusslahm oder erschöpft war und keinen Schritt mehr tat. Laufen konnte aber auch marschieren heissen. Man konnte im Militär nach Laufen laufen, und es war kein Rennen und auch kein Wandern, sondern ein tüchtiges Marschieren. Man konnte aber auch ein Läufer sein: dann rannte man los, wenn der Startschuss fiel, und am Ende rannte man über die Ziellinie. Und wenn man eine längere Strecke lief, zum Beispiel von Läufelfingen nach Laufen oder von Laufen nach Laufenburg, lief man einen Marathon. Und wer nicht gut lief, war ein lausiger Läufer und kam nur bis Lausen. Oder man konnte wie Grossvati in einem Affenzahn dahin und dorthin laufen und es trotzdem gemütlich nennen. Wo Grossvati etwas machte oder anstiess, herrschte meistens ein Geläuf, und meistens war Grossvati zuvorderst und liess alle im Windschatten hinter sich herlaufen. Auch ohne Rückenwind war er fantastisch schnell und bergauf nicht weniger schnell als bergab. In jüngeren Jahren hatte er Sport getrieben, und die Sportlichkeit war ihm durch sämtliche Lebensalter hindurch erhalten geblieben. Er war ein Federgewicht, dabei grossgewachsen, zäh und sehnig, der geborene Leichtathlet. Als Leichtathlet hatte er jahrelang trainiert. Alle, die den auf Aschenbahnen dahindüsenden Grossvati von früher noch gekannt hatten, sagten, er sei sehr gut gewesen. Hätte er nicht frühzeitig ans Geldverdienen denken müssen, wer weiss, vielleicht wäre er zusammen mit Jesse Owens im Berliner Olympiastadion an Hitler vorbeigerannt. 

Im Umgang mit Menschen - Grossvati war immerhin im Ruhestand - musste er sich manchmal etwas zügeln, sich zurücknehmen. Das fiel ihm schwer. Wenigstens konnte er darüber lachen, über sich selbst und die andern und dass er trotz seiner ganzen Sturköpfigkeit seinen Kopf nicht immer durchsetzen konnte. Es war ein Lachen voller Trotz oder Spott, und wenn ihm das Lachen verging, weil der Ärger zu gross wurde, machte er die Faust im Hosensack und fluchte wie ein richtiger Grossvater. Sich klein machen konnte er nicht. Er war ein Adler im Hühnerstall. Er ragte aus allen heraus. Nicht nur beim Laufen. Oder beim Kirschenpflücken. Dort allerdings am deutlichsten. Auf der Holzleiter, drei bis fünf Meter über dem Erdboden, rauschte er mit windmühlenartigen Armbewegungen durch die Blätter hindurch, wie wenn er im Gewirr der Baumkrone eine Menge widriger Äste wegschlagen müsste, um Ordnung zu schaffen. Niemand stieg höher hinauf. Und niemand verhielt sich beim Hinaufsteigen so selbstsicher. Er besass ein paar hochstämmige Kirschbäume auf Ormalinger Boden, und beim gemeinschaftlichen Günne (Pflücken) war Grossvati meistens zuoberst und rupfte mit weit ausgreifenden Armen die Reste ab, weil sich die Höhe nicht jeder zutraute. Und wenn er auf der schwankenden, aber gut verpflockten Leiter über die obersten Zweige hinausguckte und einen Juchzer ausstiess, war das vermutlich bis nach Rothenfluh zu hören. Gut möglich, dass man ihn selbst dort noch kannte. Gut möglich, dass die Rothenflüher, wenn sie den Juchzer hörten, auf ihren eigenen Kirschbäumen innehielten und einander anschauten. "Ah, der Mohler-Gusti!" Beim Kirschenpflücken, beim Wandern, Feuermachen und Picknicken in Wald und Feld, beim vereinsmässigen Vogelstimmenlauschen und Nistkastenbegutachten mit anschliessendem Frühschoppen und im "O mein Heimatland" singenden Männerchor war Grossvati der Grossvati, den wir kannten und den alle ringsherum genauso gut kannten wie wir, wenn nicht sogar noch besser. Für die einen war er der Vati oder Grosssvati, und für die anderen war er der Mohler-Gusti oder Gusti. Doch ganz gleich, wie man ihn nannte: er war immer der Gleiche. Für uns war er natürlich das Familienoberhaupt mütterlicherseits. Mutter war, wie ich schon früh lernte, eine Mohler, und ihr Vater war der Mohler im Quadrat, der Sonnenkönig, der ebenso herrisch wie gravitätisch über die weit verstreute Mohler-Verwandtschaft gebot und in seinem Haus an der Ormalingerstrasse zuweilen Hof hielt. Mit einem königlichen Fingerschnippen komplimentierte er die Mohlers mitsamt ihren Kindern und Angeheirateten an den gemeinsamen Ess- und Trinktisch. Oder jagte sie auf seine Kirschbäume. Ob man wollte oder nicht, wenn die Reifezeit heran war, fasste man Gürtel und Kratten, und Grossvati stellte die Leitern in die stärksten Astgabeln hinein, damit der Aufstieg, wie er sagte, dubelisicher (idiotensicher) war. Niemand durfte sich zu fein sein, noch schnell einen Kratten zu füllen, bevor das Unwetter oder die Fäule kam, da konnte er unduldsam sein bis zur Sturheit. Doch andererseits war er immer auch der Grosszügige und Grossmütige, in dessen Gunst man sich sonnen konnte. Der Sonnenkönig eben. Egal, aus welchem Anlass: in Grossvatis Gartenlaube stand die Königstafel, an welcher sich männiglich einfand zu Speis und Trank. Da wurde aus grossen, blauweiss glasierten Steinkrügen Most ausgeschenkt und aus einem Körbchen angelte man die selber gepflückten Stielkirschen, die Basler Adler oder Schauenburger, und wenn das satte Fruchtfleisch zwischen den Zähnen zerplatzte, war das ein Genuss, den man sich durch eigener Hände Arbeit verdient hatte. Manchmal gab es eine fein duftende Kirschwähe, deren Kirschen nicht entsteint waren. Was ein richtiger Mohler war, wollte immer nur die unbehandelten Kirschen in der Kirschwähe haben und verzog beim Hineinbeissen keine Miene. Und selbstverständlich schluckte man die Steine anstandlos hinunter, nicht wie Pillen, mit angewidertem Gesicht, sondern ohne sich etwas anmerken zu lassen. Und allen lief der schwarze Saft aus dem Maul, und alle schwatzten durcheinander, wie das bei den Mohlers üblich war. 

Wo ein Grossvater war, hätte (theoretisch und praktisch) auch eine Grossmutter sein müssen. Sie hätte mit der gleichen Selbstverständlichkeit da sein müssen wie die andere Grossmutter, die Grossmutter väterlicherseits, die wir Grossmammi nannten und zu der wir fast jeden zweiten Sonntag hinfuhren, um ihr unser Sunntigsbsüechli abzustatten. Bei ihr war es das Umgekehrte: hier fehlte der Grossvater, der Grosspapi, wie wir ihn nannten. Er war gestorben, als ich noch klein war, ich kannte ihn nur von Fotografien. Sie wohnte in Basel, an einer stillen Strasse am Abhang des Bruderholzhügels, und bei jedem Besuch tischte sie uns Rindszüngli mit Kartoffelstock und Sauerkraut auf. Die Grossmutter, die zu Grossvati gehörte und die wir Grossmutti nannten, konnten wir nicht mehr besuchen. Sie konnte uns nicht mehr zu sich einladen, konnte uns nicht mehr bekochen. Wir hörten sie nicht mehr sprechen, sie kam zu keiner Tür herein, und am Esstisch war nicht für sie gedeckt. Dabei wussten wir, dass sie es gewesen war, die das Gedeck ausgesucht hatte. Viele Sachen, die noch im Haushalt vorhanden waren, die man gebrauchte und anschaute, entsprachen Grossmuttis Eigenart, ihrem Sinn fürs Wohlabgewogene und Aparte, ihrem Geschmack. Wenn das Grossmutti noch da war, dann nur als Erinnerung und in Sachen, die mit ihr zu tun hatten. Kam bei Grossvati die schöne Suppenterrine auf den Tisch, hiess es sofort: "Ah, das ist doch Muttis Suppenterrine!" Für ihre Töchter und ihren Sohn war sie immer noch das Mutti. Und für uns Enkel immer noch das Grossmutti. Sie war eine geborene Baumann (Boumä), Klara hiess sie, und sie war Hauswirtschaftslehrerin gewesen. Was man über sie erzählte, war immer ungefähr das Gleiche. Besonders spannend war es nicht. Aber es ergab ein schönes, abgerundetes Bild. Ein Bild, das zur Suppenterrine passte. Als junge Frau habe sie in England als Wirtschafterin gearbeitet, nicht bei Adligen, aber immerhin bei einer Doktorsfamilie. Sie sei sehr weltgewandt gewesen. Obwohl sie Hauswirtschaft unterrichtet habe, sei sie kein Heimchen am Herd gewesen. Sie sei eine Homemakerin gewesen. Wer habe damals schon fliessend Englisch sprechen können! Später, mit schon über sechzig und knapp zwei Jahre vor ihrem Tod, sei sie abermals für einen längeren Aufenthalt nach England gereist. Sie habe ihr Englisch auffrischen wollen. Und wieder sei sie bei einer vornehmen Familie zu Gast gewesen. Sie selbst sei ja auch nicht von schlechten Eltern gewesen. Ein bisschen vornehm, für hiesige Begriffe eine gute Partie, eine Tochter aus respektablem Haus. Über dieses Haus wurde denn auch häufig gesprochen. Wenn ich mit Mutter zusammen im Dorf war und wir den Coop besuchten, sagte sie jedes Mal: "Das ist der Laden deines Urgrossvaters. Hier ist er Chef gewesen." Klara, ihre Mutter, war die älteste von fünf Töchtern gewesen, und der Vater, der alte Baumann (Boumä), mit Vornamen Emil, war der Konsumgenossenschaftsverwalter von Gelterkinden gewesen, Chef von zwei Konsumgenossenschaftsfilialen, in denen er als Prinzipal, Grosseinkäufer und Regaldisponent zum Rechten geschaut hatte, eine respektable Persönlichkeit, buchstäblich respektheischend, und ich stellte ihn mir immer als einen Mann vor, der nach dem Essen seine Taschenuhr hervornahm, daran lauschte, sie schüttelte und gewissenhaft aufzog. Und sonntags spazierte er mit seiner Familie - alle im schönsten Sunntigsgwändli - durch den Dorfpark, um die Eibach-Enten zu füttern. Als gesichert gilt: alle fünf Töchter hatten eine gute Ausbildung genossen. Es war ihnen nichts verwehrt worden. Die Töchter vo s'Boumä (der Familie Baumann) waren keine Scheuermägde, die sich herumschubsen lassen mussten. Eine habe sogar Klavierunterricht nehmen dürfen! In einer Zeit, als man den Mädchen das Lesen nur deswegen beibrachte, weil man verhindern wollte, dass sie den Tafelessig mit dem Putzessig verwechselten, war das schon allerhand. 

Grossvati hatte es wesentlich schwerer gehabt. Aus ärmlichen Verhältnissen hatte er sich zum Auftragsschreiner, Fabrikschreiner, Hausbesitzer, Familienvater und Gewerkschaftskassier hochgeschuftet. Seine Kindheit war mehrfach überschattet gewesen. Alles immer nur kärglich und auf Kante genäht und früh den Vater verloren, eine Kindheit als Halbwaise. Besonders belastend muss für ihn die Herkunft der Eltern gewesen sein. Die Mutter Marie, meine Urgrossmutter, war eine geborene Matter aus Wittinsburg. Ihr Vater Adolf war in Wittinsburg Lehrer gewesen, wie auch schon sein Vater Samuel, der aus dem aargauischen Muhen ins Baselbiet eingewandert war. Hier, bei den Matters aus Muhen, gibt es einen ziemlich krummen Nebenast. Samuels Bruder, Maries Grossonkel, also mein Ur-Ur-Urgrossonkel, ist kein Geringerer als Bernhard Matter gewesen, der Meisterdieb, Ausbrecherkönig und "Staatsfeind Nummer eins". Mani Matter, der ironischerweise einer anderen Matter-Linie entstammte, hat ihm ein Lied gewidmet. Durch diese sozialkritische Moritat, aber auch durch das Theaterstück "Matterköpfen" von Kurt Hutterli und eine Comic-Bearbeitung ist der berühmteste Outlaw der Schweiz in neuerer Zeit wieder sehr populär geworden. Er war ein Kleinkrimineller, der zum Volkshelden wurde, weil er die Reichen bestahl, die Staatsmacht foppte und das ergaunerte Geld verprasste. Er gab es für rauschende Feste aus. Bei den Matters aus Muhen und Wittinsburg galt er allerdings als Schandfleck. Nach mehreren Gefängnisausbrüchen - darunter einer spektakulären Flucht aus dem Hochsicherheitstrakt der Festung Aarburg - wurde er 1854 in Lenzburg öffentlich hingerichtet. Für die Familie ein hartes Los. Selbst noch zwei Generationen später war Matter kein Name wie Müller oder Meier. In gewissen Gegenden der Nordwestschweiz gebrauchte man immer noch den Ausdruck mattern, wenn man davon sprach, dass jemand krumme Dinger drehe, betrüge, stehle und die Polizei zum Narren halte. Das muss die brave Marie wohl sehr beschämt haben. Auf der Vaterseite sah es nicht viel besser aus. Als Grossvati sechs Jahre alt war, starb sein Vater Adolf, der ebenfalls früh seinen Vater verloren hatte. Jener Adolf, mein Urgrossvater, war bei einer Pflegefamilie aufgewachsen, nachdem sein Vater Alois, Landwirt auf dem Röserenhof bei Liestal, im Jähzorn seinen Bruder und Mitpächter erschossen hatte. Und sich selbst mit dazu. Die Motive und Begleitumstände habe ich nie in Erfahrung gebracht. Vielleicht würde man sie in alten Polizeiakten aufstöbern können: Erbschaftsstreit, Geldnot, Föhnwetter, Suff oder was auch immer. Dass sein Vater nach dieser Untat zum Waisen geworden war, muss Grossvati von klein auf als soziale Deklassierung empfunden haben. Und die Mutter konnte dem nur wenig entgegenhalten. Als geborene Matter trug sie einen ähnlichen Schandfleck mit sich herum. Mit Hilfe der Posamenterei und eines kleinen Obst- und Gemüsegartens, eines sogenannten Pflanzplätzes, brachte sie sich und ihren Sohn mehr schlecht als recht durch. Grossvati wuchs in Itingen auf. Die Berufslehre machte er in der Schreinerei Hemmig in Gelterkinden, bei der er denn auch blieb. Die Schreinerei Hemmig war die grösste Schreinerei im Dorf, fast schon eine Fabrik. Hier war man Arbeiter, nicht Handwerker. Man stand in Lohn und Brot, und wer die Arbeitsbedingungen verbessern wollte, trat in eine Gewerkschaft ein. Für Grossvati eine Selbstverständlichkeit. Er wurde Kassier einer Gewerkschaft, die im Oberbaselbiet eine lokale Zweigstelle unterhielt. Er ging von Haustür zu Haustür, um die Mitgliederbeiträge einzuziehen. Die Arbeiter, die er "Genossen" nannte, mussten überzeugt werden. "Wollt ihr unbedingt die Zitronen in der Zitronenpresse sein? Nicht? Also, dann unterstützt uns!" Beim Grossmutti wurde der Klassenkampf dann allerdings ausgesetzt, sonst hätte Grossvati sie gar nicht heiraten können. 

Als das Grossmutti gestorben war, war ich noch zu klein gewesen, um eine bewusste Erinnerung an sie zu haben. Ich erinnere mich nur noch an die Friedhofsbesuche und dass ich den Verdacht hegte, man habe das Grossmutti im Kirchturm eingesperrt, direkt über dem Glockenraum, wo im Schrägdach ein verdächtig unscheinbares Klappfensterchen eingelassen war. Dort, hinter diesem Fensterchen, sah ich sie an einem Spinnrocken sitzen und Flachs spinnen. Es war ein Bild, das ich aus einem Märchenbuch kannte. Zu diesem Zeitpunkt - ich war noch im Vorschulalter - konnte ich mir das Totsein nicht anders vorstellen. Das Grossmutti war nicht mehr unter uns, und trotzdem war sie dem Vernehmen nach nicht völlig aus der Welt gefallen. Die plausibelste Erklärung dafür war, dass man sie fortgebracht und in den Kirchturm gesperrt hatte. Auf diese Weise war sie abwesend, strikt von uns getrennt, ohne jede Kontaktmöglichkeit nach aussen, und trotzdem konnten wir sie besuchen. Wir besuchten sie auf dem Friedhof, der ja zur Kirche gehörte wie der Garten zu einem Haus. Und so gesehen war der Friedhof das Nächstliegende, wenn wir das Grossmutti nicht im Kirchturm besuchen konnten. Die Tür zum Kirchturm war verschlossen, fest verriegelt, und der Kirchenraum war kein Ort, wo man jemanden besuchte, die Kirchenbänke waren kalt und hart, alles hier drin war ungemütlich. Also mussten wir das Grossmutti auf dem Friedhof besuchen. Das mit dem "Grossmutti besuchen" nahm ich eben wörtlich. Der Friedhofsbesuch war für mich das Gleiche wie ein Besuch im Spital oder im Altersheim. Oder ein Besuch bei der Bäsi, einer steinalten, verhutzelten Grosstante des Vaters, die in ihrem Bauernstübchen auf der Ofencouch sass und uns Kindern den Kopf tätschelte. Das Bäsi war noch da, das Grossmutti nicht. Und trotzdem sagte Mutter bei jedem Friedhofsbesuch: "Jetzt besuchen wir das Grossmutti." Doch wo war das Grossmutti? Irgendwann begriff ich, dass das Grossmutti nicht mehr lebte. Und ich begriff etwas, das für die Erwachsenen ganz selbstverständlich war: dass die Menschen dahingehen. Dass es in dieser Hinsicht also zweierlei Menschen gibt: die Lebenden (mehr oder weniger Lebendigen) und die anderen, derer man auf dem Friedhof gedenkt - und über die man hie und da noch redet, wenn auch nur in der Vergangenheitsform. Als ich älter wurde, erfuhr ich mehr über das Grossmutti, nicht nur das Baumann-Grossmutti, sondern auch das verheiratete Grossmutti, und mein Bild von Grossvati wurde vollständiger. Und gleichzeitig wurde es etwas komplizierter, weil hinter dem Grossvati, wie ich ihn kannte, noch ein anderer Grossvati zum Vorschein kam. Nachdem das Grossmutti tot umgefallen sei, ein Riss in der Aorta, habe sich Grossvati aus allem zurückgezogen. Wochen- und sogar monatelang sei er kaum noch aus dem Haus gegangen. Er sei nicht mehr der Gleiche gewesen. Er habe seine Arbeit aufgeben müssen. Er, der stolze Arbeiter und Gewerkschaftskassier, habe schlagartig nicht mehr arbeiten können und sei mit einer Krankschreibung vorzeitig in Pension gegangen. Das konnte ich mir allerdings kaum vorstellen. Es war ein anderer Grossvati, über den man sich das erzählte, ein Grossvati in der Vergangenheitsform. 

Seit ich denken konnte, hatte ich es mit einem Grossvater zu tun, der mit seiner Riesengrösse, seinen Rübezahl-Schritten, seinen blitzenden Augen, seiner Habichtsnase, seiner lauten, schneidenden Stimme, seinen schlohweissen Haaren und seiner Dächlimütze immer irgendwo zugegen war und etwas unternahm, eine alltägliche Erscheinung wie der Pöstler oder der Milchmann. Oder Vater und Mutter. Oder die Schwester. Oder die Nachbarn. Jemand, der zu meiner uranfänglichen Welt gehörte wie die Wolken, die Bäume, die Wohnstrasse und das vertraute Dorf. Seit ich denken konnte, lief er mit der Ungebundenheit eines Junggesellen durch die hiesige Gegend und hatte ein grosses Haus für sich alleine. Er hatte sogar eine Freundin, das Anneli aus Rümlingen, mit der er hin und wieder wandern ging. Oder "Ausflügli machte", wie man das nannte. Das Anneli hatte einen grossen, etwas patschigen Sennenhund und drei bis vier Hühner. Ein paarmal durfte ich bei Grossvati zu Mittag essen. Sein Haus lag ja nicht weit vom Schulweg entfernt, etwa zweihundert Meter hinter dem Viadukt, unter dem wir hindurchgehen mussten, um via Dorfzentrum auf die andere Talseite und zum Schulhaus Hofmatt zu gelangen. Gedeckt war in der Küche, und auf den Tisch kam eine typische Altvätersuppe mit Flädli, Gersten, Lauch oder Steinpilzen. Was es dazu gab, ob da noch irgendein Hauptgericht dabei war, weiss ich nicht mehr, vielleicht gab es Wienerli, vielleicht auch nur ein Stück Brot. Eigentlich war die Suppe das Hauptgericht. Das Wichtigste bei Grossvati war die Suppe, seine aus Maggi-Würfeln und dem Inhalt von Knorr-Suppenbeuteln zusammengerührte Grossvati-Suppe. Obwohl er sie mit hausmännischem Schmiss auf den Tisch brachte, ohne viel Extraarbeit, war sie alles andere als ein Verlegenheitsgericht. Sie war sein Leibgericht. Auch auf seinen Wanderungen verköstigte er sich am liebsten mit Suppe, egal, ob er etwas zum Bräteln dabei hatte oder nicht. Am Rastplatz, kaum hatte er den Rucksack abgestellt, machte er die Verschlussriemen auf und packte die Suppengamelle und den Suppenlöffel aus. Noch heute sehe ich das vor mir: den Rastplatz mit der Feuerstelle und wie Grossvati die Suppengamelle und den Suppenlöffel auspackt und fein säuberlich parat legt, obwohl noch gar kein Feuer entfacht ist - und sowieso zuerst das Feuerholz gesammelt werden muss. Die Suppengamelle und der Suppenlöffel waren sein wichtigstes Wanderzubehör. Und das Feuermachen war für ihn kein Rastplatzritual wie für die andern Männer, die sich oft mehr mit dem Feuer als mit dem Essen beschäftigten. Vor lauter Holznachlegen, In-die-Flammen-Pusten und Rauch-Wegwedeln kamen sie kaum noch zum Bräteln, das Feuer absorbierte sie, als wären sie bei der Feuerwehr. Grossvati war da ein bisschen anders. Das Feuermachen war für ihn lediglich die Vorstufe zum Suppenkochen. So wie das Holzsammeln die Vorstufe zum Feuermachen war. Ohne Holz kein Feuer, ohne Feuer keine Suppe, ohne Suppe kein Grossvati. Bei Grossvati lief alles auf Suppe hinaus. Freilich kam Grossmuttis Suppenterrine nur sonntags oder bei feierlichen Anlässen auf den Tisch. Für mich, den Enkel, war eine einfache Suppenschüssel gut genug. "Schmeckt's?" fragte Grossvati. "So eine feine Suppe macht deine Mutter nicht, gell." Nachdem wir also zusammen die Suppe gelöffelt und die dazugehörigen Wienerli oder was auch immer gegessen hatten, räumte er das Geschirr ab und legte sich im Schlafzimmer ein bisschen hin: eine feste Gewohnheit. Ab einem gewissen Alter, so dachte ich damals, müssen die Männer ein Mittagsschläfchen machen, sonst verlieren sie an Frische. Grossvati zog sich zurück, und ich war dann eine Weile mir selbst überlassen. Nach draussen gehen durfte ich nicht. Zuerst waren die Hausaufgaben dran, zumindest musste ich mal einen Blick drauf werfen. Ich ging in die Stube und setzte mich an den altmodischen Sekretär, wo ich die Hefte und das Etui aus dem Schulsack nahm. Die Stube war geschmackvoll möbliert, und es fehlte darin auch nicht der typische Grossvaterstuhl, ein Schaukelstuhl mit einer Rückenlehne aus geflochtenem Peddigrohr, den Grossvati allerdings kaum je benutzt haben dürfte. Seine Zeitungen - er hatte die Nationalzeitung und den Nebelspalter abonniert - las er am Küchentisch, wo er auch die Post aufmachte. Bevor er die Post durchsah oder in den Zeitungen blätterte, drückte er sich eine klobige schwarze Hornbrille ins Gesicht, die so gar nicht zu ihm passte. Aber sie passte natürlich zum Küchentisch, zu den Häufchen aus Briefen und Rechnungen, die Grossvati beim Sortieren der Post zurechtlegte, zum täglichen Kleinkram. Für die Erledigung meiner Hausaufgaben wäre der Küchentisch geeigneter gewesen. Der von Grossvati eigenhändig restaurierte Sekretär war für eine solche Erledigung fast zu schön. Er war wie ein Bühnenrequisit. Er verleitete zum Theaterspielen. Man schlug da seine Schulhefte auf, wühlte in seinem Etui, kratzte sich am Kinn, blickte gedankenschwer in die Ferne, mit gerunzelter Stirn, versteht sich, und kam sich weiss Gott wie wichtig vor. Aber man tat dann doch nichts. Man fand nicht in die Sache hinein, und die Gedanken schweiften ab. Da sass ich also mit meinen Schulheften, während Grossvati nebenan döste. Die Stubenuhr gab ein knackendes Ticken von sich, das ich überhaupt nicht mochte. Ich hatte von diesem Ticken geträumt, und im gleichen Traum war ein wilder, schwarzer Stier in Grossvatis Garten eingedrungen und hatte die Blumenbeete zertrampelt. Während ich am Sekretär sass, hörte ich das Ticken nur dann und wann. Wenn ich wieder bei mir war. Die meiste Zeit war ich woanders. Zum Beispiel bei dem Bild, das über dem Sekretär hing. Es war eine Reproduktion eines Gemäldes von Canaletto mit dem Markusplatz von Venedig. Wenn ich das Bild lange genug anschaute, glaubte ich das Brackwasser zu riechen, die Meeresbrise im Gesicht zu spüren und die Möven kreischen zu hören. In der gemalten Stadtansicht bewegten sich die Menschen geschäftig durcheinander, und die Barken und Gondeln zogen ihre sanft gekräuselten Spuren hinter sich her. Schönheit, Weite, Abenteuer: was sah ich da nicht alles vor mir aufleuchten! Eine tiefe Sehnsucht erfasste mich. Ich war dann tatsächlich in Venedig, in einem Venedig von früher. 

In der fünften Primarschulklasse, das war schon 1982, musste ich einen Vortrag über heimische Vögel halten, Grossvatis Spezialgebiet. Er war ja im Vogelschutzverein und kannte jeden Vogelpfiff wie ein Briefmarkensammler seine Briefmarken oder ein Märklin-Eisenbahner seine Eisenbahnen. Es war naheliegend, dass ich ihn konsultierte, um seinen Rat einzuholen und ein Fachbuch von ihm auszuleihen. In seinem Bücherschrank standen etliche ornithologische Bestimmungsbücher, dazu Schuber mit Broschüren, die vom Zaunkönig bis zum Grauweiher so ziemlich jede hiesige Vogelart behandelten, und auch sehr schwierige Bücher gab es da, über Vogelzählung, die Routen der Zugvögel, über Nistkastenbau und Falknerei, alles, was ein Vogelkundler wissen musste, war hier auf wenigen Regalmetern versammelt, griffbereit und ausleihbar. Als ich dann aber auf Grossvatis Türschwelle stand, war die Situation recht merkwürdig und mir damals noch unerklärlich. Anders als sonst machte er die Tür nur einen Spalt weit auf. Er wirkte nervös und abweisend. Irgendwie unwirsch. Als wären wir uns noch nie begegnet. Nachdem ich meinen Wunsch geäussert hatte, machte er die Tür rasch wieder zu, nur um sie kurz darauf wieder aufzumachen und mir ein dickes Vogelbuch in die Hand zu drücken. Es war schön eingebunden und reich illustriert. Er sagte noch: "Ich will es dann aber wieder zurück." Und schon ging die Tür wieder zu. Kein Adieu, nichts. Bald darauf musste er in die Psychiatrische Klinik nach Liestal. Wenn wir ihn dort besuchten, ging er auf den Gängen und dem Anstaltsgelände mit versteinerter Miene neben uns her, und manchmal befiel ihn eine rätselhafte, störrische Unruhe, und er wollte auf einmal zurück in sein Zimmer oder sonstwohin, sodass wir ihm hinterherrennen mussten. Er wirkte wie einer, der im falschen Film war. Oder auf dem falschen Planeten. Es betreffe nicht den Verstand, sondern das Gemüt, sagten die Fachleute, sagten alle, die mit ihm zu tun hatten. Es sei eine Depression, und man nannte sie "endogen", was so viel heissen sollte wie körperlich oder anlagebedingt. Er absolvierte Therapiesitzungen, bekam Medikamente. Man tat das Menschenmögliche, um ihm zu helfen. Auch seine Freundin, das Anneli aus Rümlingen, die eine Zeitlang noch dachte, sie könne Grossvatis Leiden mit heissen Wickeln, frischer Landluft und gutem Essen in den Griff kriegen. Doch in seinem Zustand war er nicht mehr der Gusti, zu dem sie einen direkten Draht gehabt hatte. Er entglitt ihr. Nach ein paar Monaten wurde er aus der Psychiatrie entlassen. Er verkroch sich in sein Bett, wollte nicht mehr aufstehen. Als Mutter in der Klinik anfragte, ob das eine gute Idee gewesen sei, ob eine Entlassung wirklich das Richtige gewesen sei, sagte man, er sei eben "austherapiert". Die Möglichkeiten seien ausgeschöpft. Daraufhin organisierte man ein Zimmer im Altersheim, wo man gut zu ihm schaute, und eine Zeitlang schien es ihm etwas besser zu gehen. Nicht gut, aber besser. Und eines Tages kam dann die Mitteilung. Mutter hatte es beim Einkaufen im Dorf erfahren, und als sie nach Hause kam, fragte sie mich: "Weisst du es schon?" Es kam nicht unerwartet, war aber trotzdem ein Schock. Grossvati war unter den Zug gesprungen. Die genauen Umstände blieben unklar, darüber wurde kein Wort verloren. Man schonte uns, verschonte uns mit Einzelheiten. Wir, die Angehörigen, die Zurückgebliebenen, hatten kein Bild von dem, was geschehen war. Es war ein Tod der unvorstellbaren Sorte: noch jahrelang hatte ich daran zu beissen. Nicht am Tod an sich, sondern daran, dass man ihn sich nicht vorstellen konnte. Dass die genauen Umstände im Verborgenen blieben. Was nun folgte, waren die üblichen Pflichten und Erledigungen bis zur Beerdigung und Testamentseröffnung. Mutter ging noch zum Schuhmacher und holte Grossvatis Sonntagsschuhe ab. Er hatte sie neu besohlen lassen. In der Schule - ich war jetzt in der ersten Sekundarschulklasse - rief mich Lehrer Vögeli nach dem Unterricht zu sich ans Lehrerpult. Bei ihm hatte ich Mathe und Zeichnen. Er war ein alter Freund von Grossvati. Er packte meine Hand und sprach eine kurzatmige Kondolation aus. Seine Hand war stark verschwitzt und trotzdem eiskalt. Da ich das Wort "Kondolieren" noch nicht kannte und es als eine Art Gratulation missverstand, dachte ich zuerst, er würde mir am falschen Tag zum Geburtstag gratulieren, und reagierte etwas verwirrt. Es war das erste Mal, dass mir jemand kondolieren musste. Dieses neue Wort markierte einen Abschied, nicht nur von Grossvati, sondern von allem, was die alte Grossvati-Welt ausgemacht hatte. Alles Bisherige war nun vorüber, eine neue Zeitrechnung begann. An der Trauerfeier sagte der Pfarrer, Grossvati sei eine "markante Persönlichkeit" gewesen, und nachher, im Gasthof Rössli, hob jemand tapfer das Glas und sagte, ja, wahrhaftig, der Mohler-Gusti sei eine markante Persönlichkeit gewesen. Das Haus an der Ormalingerstrasse wurde verkauft, Grossvatis Sachen unter die Erben aufgeteilt. Was ich von ihm erbte, war etwas, das ich ihm eigentlich hätte zurückgeben sollen. Das ausgeliehene Vogelbuch blieb in meinem Besitz. Noch heute steht es in meinem Bücherschrank: "Brehms heimische Vögel" oder "Der farbige Vogel-Brehm". 

 

2019

 

Grossvater und Mutter, ca. 1975