Die Töfflibuben

Die Vandervolks kannte ich von klein auf. Sie wohnten im Doppelhaus nebenan. Herr Vandervolk, ein hünenhafter, weisshaariger Holländer, verbrachte nach einem Schlaganfall die meiste Zeit zuhause. Frau Vandervolk ging arbeiten. Sie hatten drei Kinder: Christina, Oski und Michi. Christina und Oski waren einige Jahre älter als Michi, mit dem ich befreundet war. Mit Michi unternahm ich viel. Wir waren fast gleichaltrig. Auch die andern Kinder des Baumgärtlis, wie unsere Wohnstrasse hiess, waren mehr oder weniger in unserm Alter. Es war eine muntere Meute, die da zusammenkam, bestehend aus zwei Mädchen und drei Buben. Oft spielten wir auf der grossen abschüssigen Wiese, die unten an die Langmattstrasse grenzte, direkt an den Türkenblock. Als wir mit den Kindern vom Türkenblock einen Streit vom Zaun brachen, übernahm Oski die Führung, obwohl er sich sonst selten mit uns abgab. Hier, im Getümmel eines spontanen Banden- oder Territorialkriegs, war er nun wirklich einer von uns, einer vom Baumgärtli. Und als Anführer hatte er selbstverständlich die Nase vorn. Bei den Attacken und Gegenattacken ging er uns allen voran und erledigte die Hauptarbeit. Während uns die Türkenkinder mit Steinchen bewarfen und ihr typisches Gülü-Gülü-Geschrei ausstiessen, heizte Oski mit Ausfallschritten, Grimassen und einem die Türkenkinder und alles Türkische verhöhnenden Gülü-Gülü-Geschrei die Konfrontation immer weiter an. Irgendwann zogen wir uns dann aber zurück. Solche Streitigkeiten verliefen meistens im Sand. Viel Geschrei und nichts dabei, kindisches Imponiergehabe. 

Später, als sich Oski eine AC/DC-Jacke und einen Töff zulegte, verschwand er fast gänzlich aus unserm Gesichtskreis. Wir nahmen ihn nur noch aus der Ferne oder im Vorübergehen wahr. Oder wenn er auf seinem Töff an uns vorüberflitzte. Er war nun ein Halbstarker oder Töfflibub. Er war nun einer von denen. Der Töff, mit dem er alsbald auf jedem Feld- und Spazierweglein zwischen Sissach und Ormalingen wie auch zwischen Tecknau und Rickenbach umherflitzte wie eine sirupsüchtige Wespe im Sirupland, diente nicht nur der Fortbewegung oder Selbstbeschleunigung; man konnte damit auch angeben, bzw. blöffen oder blagieren, wie wir sagten. Ein Mofa war ja noch kein Töff. Ein Töff war das Mofa erst, wenn es frisiert und doppelt so laut war, wie es eigentlich sein durfte. Dann war es eine Rakete, mit der man die normalen Verkehrsteilnehmer, diese behäbigen Schleichfahrer, lachend überholen konnte. Töfflibuben, so nannten wir die Halbstarken mit den langen Haaren, den AC/DC-Jacken (ärmellosen Jeansjacken mit Fransenrändern und AC/DC-Aufnähern) und den laut anspringenden, dilettantisch frisierten Mofas, die dann eben keine Mofas mehr waren, sondern Töffs. Im Grunde genommen verstanden wir unter einem Halbstarken immer einen Töfflibuben, und umgekehrt war ein Töfflibub natürlich nichts anderes als ein Halbstarker, zu dem ein Töff oder Töffli nun einmal gehörte. Es handelte sich also um eine einzige, unteilbare Spezies. Die leichtgängig motorisierten Halbstarken oder Töfflibuben, die in den Quartierstrassen ihr Unwesen trieben, waren ein Phänomen. Sie knatterten überall herum, und es schien sie überhaupt nicht zu stören, dass sie von den Erwachsenen scheel angesehen und beschimpft wurden. Oski machte jedenfalls nicht den Eindruck, als ob es ihn auch nur am Hintern kratzen würde, was die Erwachsenen über ihn sagten oder dachten. Im Gegenteil. Je mehr er zum Töfflibuben und Halbstarken wurde, desto selbstbewusster trat er auf. Desto höher stieg sein Ansehen bei seinesgleichen, den Gleichaltrigen, wenn auch nicht bei den Erwachsenen und bei uns, den Jüngeren. Was die Meinung über Halbstarke und Töfflibuben betraf, so teilten wir die Ansichten der Erwachsenen. Mit ihnen zusammen lebten wir in der persilduftenden Welt einer Vorabend- Werbesendung, in der Welt der Kinderschokoladen-Eier und der SKA- Mützen, einer Welt, die streng geschieden war von der teils wuchtig wummernden, teils ätzend jaulenden Krachmusik, mit der sich die Halbstarken und Töfflibuben umgaben, wenn sie unter sich waren. In den Wohnstuben unserer Eltern lief nur anständige Musik. Elvis wurde dort knapp noch toleriert, wegen seiner Schnulzenlieder ("Love my Tumbler"). Weniger oder gar nicht toleriert wurde alles, was lärmend und basstönig stampfend über Elvis hinausging. Zum Beispiel AC/DC. Von AC/DC hielten die Erwachsenen nichts. Und wir schlossen uns diesem Urteil an weil es auch unsere Normalität war, die wir gegen AC/DC verteidigen mussten. "AC/DC ghört in d'Schyssi," sagten wir, wenn wir über die Krach- und Grölmusik der Halbstarken und Töfflibuben redeten. Uns war es unbegreiflich, dass man so etwas geniessen konnte, eine Musik, die aus lauter Krach bestand. Wer einen halbwegs akzeptablen Musikgeschmack hatte und nicht völlig taub war, stellte den auf Maximallautstärke aufgedrehten Heavy Metal, wie man diese Krach- und Grölmusik im allgemeinen nannte, auf die gleiche Stufe wie Vandalismus und Tierquälerei. Auch Ruhestörung, Rauchen, Ladendiebstahl, Sex, Alkohol, Flipperkästen, Leimschnüffeln und Drogen gehörten auf diese Stufe, die im Grunde genommen immer nur abwärts führte. Das alles war die direkte Folge des Hörens von Heavy Metal und des Haareschüttelns zu dieser Musik. Das überlaute Abspielen von AC/DC genügte, um einen moralischen Defekt zu bekommen. Neben dem Hörschaden bekam man nämlich auch einen Hirnschaden. Und war das Hirn einmal beschädigt, schreckte man nicht davor zurück, dumme Sachen anzustellen, kleinere Delikte zu begehen, die für sich gesehen harmlos waren, aber einem jungen, sich noch in der Entwicklung befindlichen Menschen schonungslos angerechnet wurden, was ihm das ganze zukünftige Leben versauen konnte. "Niemand will einen Lehrling beschäftigen, der Kaugummis klaut," sagten die Erwachsenen. "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Die Halbstarken und Töfflibuben befanden sich auf der abschüssigen Bahn, und wohin das führte, wenn man nicht Gegensteuer gab, war jedem klar. Sie hatten die Welt der schönen Tonalität und des guten Geschmacks verlassen, und sie schissen auf alles, was diese Welt an sicheren Werten zu bieten hatte. Sie schissen auf Anstand, Wohlklang und Ordnung. Und sie schissen überhaupt auf alles. Oskis neue Welt hiess nun AC/DC, und seine Freizeit verbrachte er mit anderen Halbstarken oder Töfflibuben, während er sich im Baumgärtli nur noch blicken liess, wenn er auf seiner Knatterkiste von einem Motocross-Rennen oder einem Tuning-Treffen mit anderen Halbstarken oder Töfflibuben zurückkam oder in Richtung Farnsbergweg wieder davonknatterte, wobei ihm die anderen Halbstarken oder Töfflibuben häufig das Geleit gaben. Mit fräsenden Motoren fielen sie ins Baumgärtli ein, um Oski nach Hause zu begleiten oder von zu Hause abzuholen. Das war wie ein Hunnensturm aus dem Nichts. Von jetzt auf gleich war auf der Strasse die Hölle los und vor dem Haus der Vandervolks ein Ansturm von langhaarigen Halbstarken oder Töfflibuben, die nach Oski riefen. Da Oski nicht in Gelterkinden zur Schule ging - wie seine Geschwister besuchte er auswärts die Rudolf Steiner-Schule - konnte es vorkommen, dass er noch nicht zu Hause war, wenn seine Kollegen bei ihm vorfuhren. Aus Frust oder Langeweile lärmten sie dann die längste Zeit auf der Strasse herum und vollführten dabei langwierige An- und Abfahrmanöver, fahrtechnische Kunststücke mit hochdrehenden Motoren, schrammenden Pneus und sich aufbäumenden Vorderrädern. Jeder Halbstarke oder Töfflibube hatte sein eigenes, ganz spezielles An- und Abfahrmanöver, das er den andern ständig vorführen musste. Dass dabei so viel Krach gemacht wurde, lag nicht nur an den fahrtechnischen Kunststücken, den frisierten Motoren und dem ständigen Laufenlassen dieser Motoren. Jeder Halbstarke oder Töfflibube benahm sich demonstrativ wie die anderen Halbstarken oder Töfflibuben, das heisst: jeder Halbstarke oder Töfflibube brauchte anscheinend die lautstarke Zustimmung der andern Halbstarken oder Töfflibuben, um sich als Halbstarken oder Töfflibuben zu fühlen und etwas von sich herzumachen. Dieses Gefühl musste ein grosses und mächtiges sein. Es war ein Gemeinschaftsgefühl. In der Gruppe waren sie stark, wenn es auch nach Meinung der Erwachsenen nur eine halbe Stärke war: die typische Halbstärke des Halbstarken. Für sich gesehen war ein Halbstarker nicht einmal die Hälfte von dem, was er eigentlich sein wollte. Ohne die andern Halbstarken, die ihn vervollständigten, indem sie sein Selbstbewusstsein stärkten, war seine Halbstärke nur eine Drittel- oder Viertelstärke. 

Das wurde deutlich, wenn einer von ihnen, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Halbstarken- und Töffliwesen herausgeschleudert wurde. Wenn er seine Rolle nicht mehr spielen konnte. Ein Fünzehnjähriger vom oberen Handschinweg war von zu Hause abgehauen. Man hörte solche Geschichten immer wieder, und immer kam man dabei auf die sogenannte Jugendverwahrlosung zu sprechen. Eigentlich fing das nicht einmal mit AC/DC an. Es fing schon viel früher an. Mit etwas, das ganz leise und unauffällig war. Am Anfang stand immer die Zigarette. Hier hatte das Übel seinen Ursprung. Mit der ersten Zigarettenschachtel, dem schnell gezückten Zigarettli, schlitterte man viel zu früh in etwas hinein, dem man sich nicht mehr entziehen konnte. Mit dem Zigarettli fing es an, heimlich geraucht auf dem Pausenhof oder dem Schul-WC. Und weil hier schon die Sucht einsetzte, folgte bald danach die zweite Zigarette, und nach der zweiten und dritten begann der langsame Abstieg in die Verwahrlosung und schliesslich in die Totalverwahrlosung, wo die Jugendlichen nur noch an den Flipperkästen hingen und überhaupt nichts mehr Gescheites aus ihrem Leben machten. Am Anfang, beim ersten oder zweiten Schritt in die falsche Richtung, sei es noch ganz harmlos, ja vielleicht sogar lässig, warnten uns die Erwachsenen, aber dann werde es immer schlimmer, gerate ausser Kontrolle und ende ziemlich unschön. Vermutlich wäre auch der Jugendliche vom oberen Handschinweg in der Jugendverwahrlosung versunken, wenn ihn nicht die Polizei zu seinen besorgten Eltern zurückgebracht hätte. Wie immer in solchen Fällen brachte sie einen Jämmerling zurück. Die berüchtigte Halbstärke des Halbstarken fiel in sich zusammen wie ein Wackeltürmchen, wenn er seinem Umfeld entrissen wurde, wenn er vor seinen Kumpels nicht mehr blöffen oder blagieren konnte. "Die werden das Leben schon noch kennenlernen," sagten die Erwachsenen. "Erfahrung ist eine harte Schule." Die Halbstarken und Töfflibuben überschätzten sich gerne. Sie hielten sich für ausgefuchst. Sie glaubten, Sie könnten sich alles erlauben. Doch die Welt war ein Abgrund voller Versuchungen und Gefahren, und die Jugendlichen, die sich kopflos dahinein stürzten, waren zwangsläufig dem Verderben geweiht. Wenn man kein sicheres Zuhause hatte, war man verloren, ausgestossen wie die Kinder vom Bahnhof Zoo, diese Strassen- und Bahnhofskinder, die man in den verschiedensten erzieherischen Zusammenhängen heranzog, um die traurige Realität zu zeigen. Niemand konnte die Augen davor verschliessen. An jeder Strassenecke lungerten sie herum, die Vergammelten, die Verwahrlosten und Langhaarigen, die sich angezogen fühlten von Orten, wo man laute Musik hörte, Drogen nahm, sich Knutschflecken holte und das letzte zusammengekratzte Kleingeld in die Flipperkästen oder Zigarettenautomaten schob. 

Wenn die Halbstarken oder Töfflibuben Oski ihre Aufwartung machten, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass sie überhaupt ein Zuhause hatten. Sie schienen auf der Strasse zu leben, in völliger Freiheit, jeder für sich und doch auch als eingeschworene Gemeinschaft. Man sah sie überall, auch weil sie überall zusammenklebten, instinktiv scharten sie sich zusammen wie Gruppentiere, und ihre Treffpunkte waren immer ungefähr die gleichen: neben der Schule, vor dem Denner, unter den Linden bei der Allmend, vor dem Bahnhofskiosk, im Park, vor der Post, vor der Mehrzweckhalle, vor der Badi und manchmal auch in einem Aussenquartier, zwischen Wohnblocks und Privatgaragen. Es war ein ziemlich allgemeines Phänomen. Es gab da auch die normalen Jugendlichen, Schüler und Schülerinnen der Real- und Sekundarstufe, die zu Fuss oder mit Velos unterwegs waren und vielleicht eher Kim Wilde als AC/DC hörten. Doch abseits der Schulzeiten und Schulwege änderte sich die Gruppenzusammensetzung ein bisschen. Hier boten die Jugendlichen fast durchgängig ein Bild, das von Halbstarken und Töfflibuben dominiert wurde. Man sah sie da mit ihren Töffs und brennenden Zigaretten - und natürlich auch den entsprechenden AC/DC-Klamotten. Einzeln wirkten sie immer ein bisschen lethargisch und gehemmt, Erwachsenen drehten sie demonstrativ den Rücken zu, aber in ihrer Gruppe, wo man einander von gleich zu gleich behandelte, fiel jede Hemmung von ihnen ab und sie verhielten sich mindestens so natürlich wie die Affen auf dem Affenfelsen. Sie rülpsten ungeniert, sie lachten und grölten und zogen ihren Nasenchoder (Nasenschleim) die Nase hoch und via Stirnhöhle in den Mund hinab, um möglichst geräuschvoll auszuspucken. Sie kratzten sich die Hälse, steckten die Köpfe zusammen und knufften sich gegenseitig in die Rippen, meistens wegen einer Blödelei. Dabei rauchten sie eine Zigarette nach der andern, manchmal ging ein Feuerzeug herum, was die Burschen (und seltener auch Mädchen) dazu brachte, das Zigarettenanzünden zu koordinieren. Einer streckte sein Feuerzeug hin, und die anderen schoben sich ihre Zigaretten lässig und flapsig, wie man das aus der Werbung kannte, in den schief gezogenen Mund. Dabei schwatzten und ulkten sie einfach weiter. Das gehörte offensichtlich zur Coolness. Wie auch das Mummeln ("Hmmungnnn") während des Anzündens und Raucheinsaugens. Beim Anzünden machten sie einen Schildkrötenhals, damit sie an das Flämmchen herankamen, und nachher, beim Raucheinsaugen, inhalierten sie mit einem Gesichtsausdruck, als wäre die Welt jetzt ein bisschen schöner als vorher. Und manchmal konsumierten sie auch Alkohol, tranken aus Bierflaschen. Das alles konnte man beobachten. Es spielte sich in aller Öffentlichkeit ab. Aber da war noch mehr. Anders als die meisten anderen Jugendlichen waren die Halbstarken und Töfflibuben weit darüber hinaus, bloss ein bisschen herumzustehen und mit Glimmstängeln auf cool zu machen. Das war etwas für Anfänger. Bei den Halbstarken und Töfflibuben beruhte das Zusammensein auf einer Bruderschaft, in der das Zigarettenanzünden und Zigarettenrauchen gar nicht die Hauptsache war. Damit wurde lediglich ein Ritual vollzogen. Durch das wiederholte Zigarettenanzünden und Zigarettenrauchen wurde etwas Höheres in den Mittelpunkt genommen und gemeinsam beschworen. Letztlich drehte sich alles um die Kunst des Töfflifrisierens. Und um die Frage, wie man es schaffte, an der Polizei vorbeizukommen. Man hörte den Krach schon von weitem, und die Polizei hatte für eine "leistungssteigernde Abänderung", wie sie das nannte, ein überaus feines Gehör. Wer mit einem zu lauten Töff Richtung Dorfplatz und Polizeiposten fuhr, tat gut daran, das Tempo ein bisschen zu drosseln oder eine andere Route zu wählen. Oder einfach abzusteigen und den Töff ein Stückweit zu schieben. Wie eine alte Dame ihr Damenvelo. Dafür schämten sich die Halbstarken oder Töfflibuben, das Töfflischieben war eine Schmach, aber es liess sich nicht immer vermeiden. Wer frisiert unterwegs war, musste immer um die nächste Strassenecke herumdenken. Schon dort konnte die Polizei lauern. Nur zu gerne packte sie einen Halbstarken oder Töfflibuben am Schlafittchen. Sie winkte ihn heraus, und während sie sich den Töff besah, eine minutiöse Inaugenscheinnahme durchführte, bei der der Halbstarke oder Töfflibube verlegen danebenstand und nicht wusste, ob er seine Hände in die Hosentaschen stecken oder kreuzbrav hinter dem Rücken verschränken sollte, bekundete sie ein überaus grosses Interesse am aufgebohrten Vergaser oder am neu eingepassten Tuning-Zylinder, und es war dann jedes Mal klar, dass die Abmahnung ein teurer Spass werden würde. Das Töfflifrisieren war denn auch der Grund, weshalb die Töffli-Gemeinschaft fast ausschliesslich aus Buben bestand. Töfflifriseusen gab es weniger. Mädchen mit Töffs waren generell in der Unterzahl, weil sie im Töfflifrisieren nicht so geschickt waren, das war Bubensache. Bei den Halbstarken und Töfflibuben tauchte sie meistens nur als Begleitung auf. Als schmückendes Beiwerk. Manche setzten sich auf den Gepäckträger, den sogenannten "Maitlisitz", und liessen sich ein bisschen herumkutschieren. Andere wiederum hatten einen eigenen Töff, der aber wie parfümiert aussah (Stoffbommel oder Monchichi-Äffchen am Lenker und ähnliche Peinlichkeiten) und gar nicht so richtig dazupasste. Das betraf aber nur die Mädchentöffs, nicht die Mädchen selbst. Neben den Buben waren sie wie die andere Hälfte des Reissverschlusses. Wo sich ein paar Buben einfanden, fanden sich früher oder später immer auch ein paar Mädchen ein. Aus irgendeinem Grund fassten sie jede Bubengruppe als Einladung auf. Sie flatterten um die Buben herum und liessen sich bei ihnen nieder wie die Seemöven auf einem Inselfelsen. Und da es Mädchen waren, spielte es fast gar keine Rolle, ob sie erwünscht waren oder nicht. In jedem Fall taten sie eifrig, als gehörten sie dazu. Mit viel Geschwätz und Getue drängten sie sich in die Gruppe hinein, was für die Buben sicherlich eine Bereicherung war. Die Mädchen sorgten für Abwechslung. Wie die Seemöven liessen sie sich irgendwo nieder, wo der Fischgrund gerade günstig war, und wenn es ihnen nicht mehr gefiel, suchten sie sich einen andern Inselfelsen, einen anderen Fischgrund, einen andern Standplatz, eine andere Schwatzgelegenheit, eine andere Flirtecke, eine andere Clique, eine andere Bubengruppe. Sie wechselten dauernd, schwärmten mal hierhin, mal dorthin, umflatterten mal dieses, mal jenes Grüppchen. Heute hier, morgen dort. Bei den Mädchen herrschte immer eine gewisse Unbeständigkeit. Da waren mal zwei oder drei Mädchen mit grosser Begeisterung dabei, und plötzlich blieben sie weg, und man sah und hörte nichts mehr von ihnen, und die Buben waren wieder unter sich. Und bald danach kamen dann vielleicht ein paar andere Mädchen. An Mädchen fehlte es nicht. Kam ein Mädchen mit einem Buben ins Gespräch, gesellten sich immer ein paar andere Mädchen hinzu, die miteinbezogen werden wollten. Die Mädchen suchten Anschluss, sie suchten permanent eine Verbindung. Für die Buben galt das weniger. In der Gruppe waren sie immer schon miteinander verbunden. Da gab es überhaupt nichts mehr zu suchen oder zu verbinden. Die Halbstarken und Töfflibuben waren wie zusammengeleimt, und dieser Leim konnte kilometerweite Fäden ziehen. Auch wenn sie ausserhalb ihrer Gruppe unterwegs waren, blieb die Verbindung erhalten und die Bruderschaft intakt. Irgendeine unsichtbare Kraft schien dafür zu sorgen, dass sie immer wieder zusammenfanden. Denn jede Solofahrt endete damit, dass der Einzelne genau dort ankam, wo die auch die andern ankamen. Wohin der Einzelne seinen Töff auch lenkte, er konnte sich drauf verlassen, dass die andern dasselbe taten. Dass sie, wie von einem inneren Navigationssystem geleitet, unbeirrbar dem gleichen Punkt zustrebten. Wenn sie nicht aufpassten, fuhren sie aus den verschiedensten Richtungen absolut zeitgleich auf die gleiche Strassenkreuzung hinaus, sodass alle Töffs punktgenau ineinander hineinkrachten, mit einem gewaltigen Geschmetter, mit davonfliegenden Blechteilen, davonhüpfenden Rädern und einem sich auf der Strasse windenden Knäuel von hilflos ineinander verhedderten Halbstarken und Töfflibuben. Das hatte eine gewisse Logik. Jeder fuhr für sich und doch auch einem gemeinsamen Zentrum entgegen. Jeder fuhr auf seinen eigenen, abenteuerlichen Wegen und Strassen, war aber innerlich darauf programmiert, mit den andern zusammenzutreffen. Man wollte dazugehören und doch auch der einsame Wolf sein. Man wollte in der Gruppe etwas gelten, aber gleichzeitig aus der Gruppe herausragen, um derjenige zu sein, der in der Gruppe die vollumfängliche Achtung genoss. Von jemandem, der diese Achtung genoss, sagte man: Är isch en. (Er ist ein Held). Was den Einzelnen auszeichnete, war die Achtung in der Gruppe. Und was ihm diese Achtung verschaffte, war dann andererseits seine Vereinzelung, sein Eigenwillen. Wer hin und wieder eine Solofahrt machte, bewies damit, dass er der Gruppe würdig war. Dass er dazugehörte mit seiner ganzen Eigentümlichkeit, seinem Eigensinn, seinem verpickelten Sturkopf, seinen fettigen, langen AC/DC-Haaren, die er im Takt der AC/DC-Krachmusik schüttelte, bis er nicht mehr wusste, was unten und oben war. Das alles war ein Ausweis von Stärke, der berüchtigten Halbstärke des Halbstarken. 

Es gab Tage, an denen die Halbstarken oder Töfflibuben, als hätten sie das verabredet, als einsame Wölfe anrückten, einer nach dem andern, wie aus einer Pole- Position heraus, in die jeder startbereit hineinsprang, sobald der Vordermann ausser Sicht war. Jeder schien darauf zu achten, dass er genügend Abstand zu den andern hatte, damit der Töfflikrach seine weitestmögliche Verbreitung fand. Das Töffliwesen sollte sich möglichst weit ausdehnen, die frohe Kunde des frisierten Unterwegsseins sollte niemandem vorenthalten werden. Dann war der Lärm zwar nicht weniger lästig, aber besser verteilt. Anstatt dass man sich eine Stunde lang furchtbar aufregte, regte man sich vier oder fünf Stunden lang mit gewissen Unterbrechungen immer wieder ein bisschen darüber auf, dass jetzt schon wieder ein Halbstarker oder Töfflibube mit seinem Zweitakt-Geknatter in das Baumgärtli hineinfuhr und ein paar Runden drehte, womit er zwar keinen Riesenlärm veranstaltete, aber doch laut genug war, um eine gewisse Unruhe zu verbreiten, eine gewisse Nervosität. Und jedes Mal war es ein anderer Halbstarker oder Töfflibube. Es war fast unmöglich, über jeden jeden einzelnen zu schimpfen. Das eigentliche Ärgernis waren sie alle zusammen. 

Irgendwann war das alles vorüber. Zumindest in unserm Quartier, wo plötzlich wieder die alte Ruhe und Normalität einkehrte. Der Töfflilärm fand ein jähes Ende, als Oski ein Stoppsignal überfuhr und in die Motorhaube eines Autos krachte. Beim Eibach-Brüggli neben der Badi schoss er frühmorgens auf die Tecknauerstrasse hinaus, nachdem er mit seiner Clique im Waldhaus Kipp übernachtet hatte. Er kam schwer verletzt davon. Als er aus dem Spital zurück war, entsorgte er die AC/DC-Jacke und machte eine Lehre. Allerdings nicht als Töff-Mechaniker. 

 

2019