Das Phänomen Tolkien

Ein Weltenbaumeister zwischen Archaismus und Popularkultur

 

 

Das Archaische und die Moderne

  

Die Moderne hebt damit an, dass man an den Fortschritt glaubt, aber auch in die Vergangenheit blickt und das Unvordenkliche beschwört. Um sich als modern definieren zu können, braucht die Moderne die Entgegensetzung des Archaischen, die Rückversicherung des Vorzeitlichen. Das Archaische ist - gerade weil es im modernen Kontext fremdartig erscheint - etwas spezifisch Modernes. Das Archaische dient der Selbstidentifikation der Moderne, hat daneben aber auch eine kompensatorische Funktion: es gleicht Mängel und Schäden aus, die der Modernisierungsschub mit sich gebracht hat. Durch den Erfolgskurs der modernen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich das Archaische auf breiter Ebene etablieren. In dem Masse, wie es repräsentativ wurde für eine aufgeschlossene moderne Haltung, wurde es gesellschaftsfähig, schliesslich sogar populär. Die Folge davon war eine Verflachung und Entwertung des Archaischen. Als Kontrast zu der als modern verstandenen Rationaliät eignete es sich nicht mehr. Es wurde assimiliert, aufgesogen, der Widerspruch zwischen “modern” und “archaisch” fiel dahin. Dieser Vorgang hat sich auf zwei unterschiedlichen Entwicklungslininen abgespielt: auf der Linie des Primitivismus (vertreten durch Picasso) und auf der Linie des hermetischen Denkens (vertreten durch Beuys). Obwohl dieser Assimilationsprozess abgeschlossen ist, löst sich das Archaische nicht einfach auf. Es wandert von der E-Kultur in die U-Kultur und feiert dort fröhliche Urständ. Das abgesunkene, nach bildungsbürgerlichen Masstäben entwertete Kulturgut bleibt vital. Mehr denn je dient das Archaische dazu, die Mängel und Schäden der Moderne zu kompensieren; nur geschieht dies nicht mehr mit dem Drehbuch einer avantgardistischen Mission, sondern narkotisierend und hypnotisch. Während die E-Kunst, um sich vom Primitivismus des 20. Jahrhunderts abzusetzen, vorwiegend mit Formen operiert, die klar zeitbezogen sind und kaum noch eine negativ-progressive Kraft haben, regeneriert sich das Archaische durch einen Transfer in populäre Medien. Es muss sich mit Reservaten begnügen, in denen es an Marktmechanismen gekoppelt ist, aber als Spielfeld und Faszinosum erhalten bleibt. Unter diesem Gesichtspunkt sind archaisch anmutende Massenphänomene wie “Der Herr der Ringe” oder die “Harry Potter”-Romane nicht einfach nur als Billigunterhaltung für Märchensüchtige zu sehen. Trotz ihrer Suggestivkraft und Eingängigkeit werden in diesen Werken die Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten der Moderne neu verhandelt und hinterfragt.

 

 

Reservate des Archaischen in der Popularkultur

 

In diesem Kontext erscheint das Archaische als Gegenentwurf zum herrschenden System und ist fester Bestandteil einer sich fortlaufend neu herausbildenden Gegenkultur. Dazu schreibt der Medienwissenschaftler John Fiske: “Popularkultur wird von verschiedenen Formationen unterdrückter und entmachteter Menschen aus den sowohl diskursiven wie materiellen Ressourcen hergestellt, die von jenem sozialen System geliefert werden, die sie entmachtet.” Fiske macht deutlich, dass Popularkultur dem gleichen ökonomischen Regelwerk unterworfen ist wie das System, von dem sie sich absetzt. Wer ins Kino geht, um der gewohnten Ordnung zu entfliehen, bezahlt dennoch Eintritt und muss sich ans Rauchverbot halten. Popularkultur öffnet einen Imaginationsraum, der den “Entmachteten” Phantasien erlaubt, in denen das System ohne Regelverstoss ausgeblendet oder relativiert werden kann. In diesem Imaginationsraum hat das Archaische seinen festen Platz. In der Unterhaltungsindustrie bildet es geradezu den Standard. Während die Kunst (vor allem im Gefolge der Pop Art) von diesem Standard abweicht zugunsten einer “heutigen” Bildsprache, in der sich postmoderne Divergenz spiegelt und bestätigt, findet das Archaische in der populären Kultur verschiedene Reservate. Hier darf es, wenn auch in Grenzen, auf seiner Fremdartigkeit beharren. Heavy-Metal ist ein solches Reservat. Subkulturelle Szenen von Gothic bis zur Live-Action-Bewegung bedienen die Sehnsucht nach dem Unzeitgemässen. Dazu gehört auch das ganze Spektrum von Comics und Computer-Games mit magischer Staffage und urweltlichen Szenarien, ganz zu schweigen von der Filmindustrie, die das Archaische seit “Nosferatu” und "King-Kong” mit ungebrochenem Erfolg als Massenphänomen verbreitet. Der Film - die populäre Kunstform schlechthin - bietet sich in besonderem Masse für archaische Projektionen an. Doch das Schwelgen in archaischen Szenarien erstreckt sich auch auf die Literatur, insbesondere die Fantasy-Literatur. Der Name zeigt an, dass das Genre aus dem anglo-amerikanischen Raum kommt. Autoren wie William Morris, E.R. Eddison und J.R.R. Tolkien werden in diesem Bereich als Ahnherren und Klassiker gehandelt, wobei die Abgrenzung gegenüber verwandten Literaturgenres sehr diffus und umstritten ist. Im englischen Sprachraum überschneidet sich der Begriff “Fantasy” mit Horror, Science Fiction und dem ganzen Spektrum der Phantastik von Lewis Carroll bis Michael Ende. Im Grunde wird damit die ganze phantastische Literatur tangiert, was den Begriff zumindest umgangssprachlich beinahe verwischt. Geht es um Fantasy im engeren Sinne, so ist die gültige Definition stark an Tolkiens Werk angelehnt.

 

- Die Geschichte spielt in einer fiktiven Welt, einer Sekundär- oder Alternativwelt.

- Diese Welt ist an eine vormoderne Kulturepoche angelehnt. Deren Eigenschaften werden mythisch überzeichnet und verfremdet. Zwischen historischem Déjà-vu und Phantastik wird eine eigene Realitätsebene installiert, eine Welt hypothetischer Vergangenheit. Fantasy thematisiert keine hypothetische Gegenwart, spekuliert nicht über eine mögliche Zukunft. Trotz aller Phantastik ist ihre Anmutung historisch. (Was Fantasy grundsätzlich von Science Fiction und den vielen Spielarten von Utopien und Dystopien unterscheidet). Eine weitere Einschränkung: die kulturgeschichtlichen Reminiszenzen, die die Fantasy in die Nähe des historischen Romans rücken, sind nicht Bestandteil einer parodistischen oder verfremdeten Geschichtsdarstellung. Wenn historische Elemente in der Fantasy auftauchen, führen sie direkt zum Kern des Mythischen, zum Vor-Zeitlichen. (So gesehen kann auch ein Roman wie "Die Nebel von Avalon" von Marion Zimmer Bradley, der von einem pseudo-historischen König Artus handelt, zur Fantasy gezählt werden). Mythos und Vergangenheit gehören zusammen. Diese Verbindung wird in der Fantasy-Literatur mehr oder weniger deutlich herausgestellt und thematisiert.

- Daraus folgt: das Archaische ist in der Fantasy allgegenwärtig. Fantasy beschreibt eine Welt, die von mythischen Begebenheiten durchwirkt, von Magie beeinflusst und von urtümlichen, phantastisch anmutenden Wesen bevölkert wird. In der Vergangenheit, so statuiert der Fantasy-Autor, waren solche Wesen real. Das Gleiche gilt auch für die Magie.

- Fantasy stellt den Realitätscharakter ihrer Weltkonstruktion niemals in Frage. Die betreffenden Beschreibungen sind so realistisch und kohärent wie möglich. Das Phantastische und Märchenhafte wird nicht als Vision, Traum oder Irregularität im Naturgeschehen beschrieben, sondern als belegbare Tatsache. Das Phantastische und Märchenhafte bedeutet keinen Einbruch in die Realität, es selbst ist Norm und Realität, wird als Selbstverständlichkeit behandelt. (Was Fantasy grundsätzlich von der ihr nah verwandten Phantastik unterscheidet, in der das Archaische ebenfalls eine grosse Rolle spielt. E.T.A Hoffmann, Lewis Carroll, Edgar Allan Poe, H.P. Lovecraft, Franz Kafka, Michael Ende etc. beschreiben etwas Phantastisches oder Unheimliches, das in die Normalität eindringt oder diese auf befremdliche Weise spiegelt. Sie bauen aber keine Phantasiewelt, die normal wirken soll. Wobei es auch Autoren gibt, die eine Mittelposition einnehmen, wie etwa der von mir hochgeschätzte Mervyn Peake. Sein Gormenghast ist eine plausible Alternativwelt und nach Fantasyart sehr vergangenheitslastig - und trotzdem ein Ort voller Irrealität).

- Zentrale Bezugspunkte der Fantasy sind europäische Volksmärchen und Sagen, insbesondere keltische Mythen. Viele Figuren und Fabelwesen sind von dorther übernommen. Gezielter und bewusster als jedes andere literarische Genre operiert Fantasy mit vertrauten Archetypen. Es wäre ein Missverständnis, Fantasy als freies Fabulieren oder Phantasterei zu charakterisieren. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Fantasy-Literatur funktioniert nur, wenn sie ganz bestimmte kulturelle Prägungen anspricht. Ihre Motive sind Allgemeingut. (Zwerge, Zauberer, Drachen, Elfen etc.) Die literarische Qualität von Fantasy bemisst sich nicht zuletzt daran, wie sie mit diesem Allgemeingut umgeht, wie sie es abwandelt und neuformuliert. Fantasy-Autoren müssen über ein grosses kulturelles Wissen verfügen. Es ist kein Zufall, dass die meisten von ihnen Philologen, Altphilologen, Kulturwissenschaftler u.ä. sind oder waren. (Wie schon die bekanntesten Märchenerzähler der Romantik, die Gebrüder Grimm).

- Die Story handelt häufig von einer “Quest”, einer Abenteuerreise. In diesem Punkt orientiert sich Fantasy an grossen weltliterarischen Vorbildern wie dem Gilgamesch-Epos, der Odyssee, Dantes “Divina Commedia” oder den Gralslegenden um König Artus. Fantasy versucht eine Weiterführung archaischer Erzählmuster, indem sie diese in einen Erzählraum hypothetischer Vergangenheit versetzt und gleichzeitig dem modernen Verständnishorizont angleicht.

 

Ohne die modernen Massenmedien wäre die Popularisierung des Archaischen undenkbar gewesen. Schon lange vor der Herausbildung einer eigentlichen Fantasy-Literatur haben amerikanische Pulp-Magazine phantastische Literatur mit archaischen Gegenwelten publikumswirksam verbreitet. (Z.B. Edgar Rice Burroughs “Tarzan” und Robert E. Howards “Conan der Barbar”). Dieser Trend hält bis heute an, hat sich aber verfeinert und in eine Vielzahl von Genres und Sub-Genres aufgesplittet, die mehr oder weniger lose mit dem Begriff “Fantasy” verknüpft sind. Das verbreitete Bedürfnis, aus der überzivilisierten Welt in eine ursprüngliche, magische, von technischen und bürokratischen Zwängen befreite Phantasiewelt zu entfliehen, sorgt für eine ungebrochene Nachfrage und hat eine grosse Bandbreite literarischer Spielarten entstehen lassen. Neue Möglichkeiten der Bildwiedergabe - vom Kinofilm bis zum Computer-Game - haben diese Entwicklung aufgegriffen, begleitet und beschleunigt. Dies hat dazu geführt, dass auch in der Literatur die Wahllosigkeit und Schnellebigkeit phantastischer Konzepte zugenommen hat. Dadurch, dass Literatur in Konkurrenz zu neuen Medien treten und/oder mit ihnen kooperieren muss, nimmt sie beim Erfinden und Entwerfen von archaischen Gegenwelten sogar eine Vorreiterrolle ein. Nach dem Motto “In der Phantasie ist alles möglich” können hier die verschiedensten Spielarten des Archaischen erprobt und ausgeschlachtet werden. Dabei wechseln sich die Moden ebenso schnell ab wie die Phantasiewelten. Diesem oberflächlichen Zeitgeist verpflichtet sind auch Rowlings “Harry-Potter”-Romane, die zwar packend geschrieben sind, aber den Vorwurf der Beliebigkeit nicht ganz abschütteln können. Allzu wahllos mischt die Autorin archaische Versatzstücke durcheinander, die zur Staffage einer magischen Welt gehören, den Handlungskern jedoch unberührt lassen. Das Coming of Age-Drama von Harry Potter könnte auch in der ganz normalen Realität spielen.

  

 

Tolkiens Position zwischen archaischer und moderner Literatur

 

Etwas komplizierter liegen die Dinge bei J.R.R. Tolkiens “Lord of the Rings”. Zeitlebens hat Tolkien an einer sprachwissenschaftlich fundierten, von nordischen, keltischen und germanischen Vorlagen ausgehenden künstlichen Mythologie gearbeitet. Im “Herrn der Ringe” (3 Bände, erschienen 1954/55) fand der Professor für Altlinguistik fast beiläufig zu einer Erzählform, die es ihm erlaubte, sein linguistisches Laboratorium zu erweitern und zu perfektionieren. Anfänglich nur ein Simulationsraum für die von Tolkien entwickelten Sprachen und Mythen, entwickelte sich dieser Roman mit all seinen Begleitschriften und Anhängen zu einer Weltkonstruktion, für die Tolkien das Wort “subcreation” prägte, also “Unterschöpfung”. In seiner altphilologischen Geschlossenheit ist “Der Herr der Ringe” ein demonstrativ antimodernes Werk. Tolkien imaginiert eine Welt, die auf mythischen Voraussetzungen beruht, eine monumentale Sagenwelt mit Göttern, Halbgöttern, Helden, Schlachten und Dynastien. Gleichzeitig übernimmt er viele Konventionen des herkömmlichen Romans und bietet dem Leser "alltagstaugliche" Identifikationsmöglichkeiten. Die zentralen Figuren im "Herrn der Ringe" sind die Hobbits. Im Kontext der frühmittelalterlichen Sagenwelt haben die Hobbits etwas Anachronistisches. Sie scheinen einem Dickens-Roman oder einem Spitzweg-Gemälde entsprungen zu sein. Doch die Sache ist stimmig. Zwischen dem Alltagsbewusstsein des Lesers und dem Heldenepos erfüllen die Hobbits eine wichtige Vermittlungsfunktion. Sie sind das Scharnier zwischen Normalität und Phantasie, Modernität und Archaismus, Alltag und Heldentum. Tolkien gelingt es, den Typus des harmlosen und vielleicht sogar etwas dümmlichen Biedermanns, der nichts Besonderes darstellt und am liebsten seine Ruhe hat, ins Zentrum eines Abenteuerepos zu stellen und zum Helden wider Willen und Sympathieträger zu machen. Dieser Dreh ist wahrlich genial. Damit unterläuft Tolkien die Wachsamkeit des modernen Lesers, der geschult darin ist, dem Mythischen und Heroischen zu misstrauen, und vermenschlicht die archaische Heldenerzählung, ohne das Heldentum ironisieren zu müssen. Dass “Der Herr der Ringe”, der ohne jede kommerzielle Absicht und fernab vom eigentlichen Literaturbetrieb geschrieben wurde, zum erfolgreichsten Roman des 20. Jahrhunderts avanciert ist, hat nicht zuletzt mit der "positiven" Ambivalenz zu tun, die von Tolkiens Texten ausgeht. Durch ihre archaische Ferne verlocken sie zur Flucht aus der modernen Welt, und trotzdem behaupten sie sich als modern, das heisst: sie sind für moderne Leser lesbar und geniessbar. Dies gelingt auch dank der Akribie, die Tolkien aufwendet, um seine Welt realistisch erscheinen zu lassen. Dadurch, dass er das Phantastische und Märchenhafte mit einer Art Hyperrealismus versieht, weicht er vom Schema des blossen Fabulierens ab und stellt die Aufnahmefrequenz des Empfängers auf “Faktenbericht” um. Der bei Romanen übliche Fiktionalitätsvertrag wird durch eine rigorose Anhäufung von Zusatzinformationen derart erweitert, dass das Romanhafte in den Hintergrund tritt. Dazu schreibt der Fantasy-Autor Lin Carter: “Der Herr der Ringe wird als wahre historische Begebenheit präsentiert, und der Autor untermauert seinen Darstellungsanspruch dadurch, dass er die Geschichte... mit einem ausgeklügelten Zusatzwerk von Anhängen versieht, die Fakten über eine Welt enthalten, welche in der Erzählung selbst nicht genannt werden.” Und Wolfgang Krege, wahrscheinlich der grösste Tolkien-Kenner im deutschen Sprachraum, weist darauf hin, dass Tolkien eine neue, nahezu revolutionäre Form der Fiktionalität geschaffen habe. “Die Fiktion bleibt Fiktion. Aber sie wird vorangetrieben bis in einen Grenzbereich, wo sie die opake, widerständige Form der Wirklichkeit annimmt.” Nach Tolkiens Auffassung darf sich das Märchen, die fairy story, nicht als Trugbild, Traum oder blosse Allegorie entlarven. Es sollte eine hieb- und stichfeste Realität bezeugen, auf die sich der Leser einlassen kann, ohne seine Intelligenz und die Wahl einer eigenen Deutung preisgeben zu müssen. Nicht nur Kindermärchen, auch Allegorien lehnt Tolkien ab. In Kindermärchen sieht er Geschichten, die moralisch belehren und deshalb weder Kinder noch Erwachsene ernst nehmen, und das Allegorische steht seiner Ansicht nach der “vielfältigen Anwendbarkeit” einer Story entgegen, es schränkt den Leser ein. Eine Story sollte nicht mit dem allegorischen Zaunpfahl winken, sie sollte einfach nur erzählen. Soweit Tolkien diese Forderung in die erzählerische Praxis umsetzt, gelingt es ihm, archaisches Bewusstsein, das den Unterschied zwischen "real" und "nicht-real" noch gar nicht kennt, in das moderne Bewusstsein von Faktizität und Glaubwürdigkeit zu integrieren. Märchen werden zwar nur noch selten mit einer moralisierenden Absicht erzählt. Dennoch haben es Märchenerzähler heutzutage schwer. Märchen werden sofort psychologisiert, allegorisiert, in irgendeinen Kontext gestellt, der mit der Märchenwelt an sich überhaupt nichts zu tun hat. Genau dies wollte Tolkien vermeiden. Er wollte die Schönheit und Unergründlichkeit des Märchens modernen Menschen zugänglich machen, was nur gelingen kann, wenn der Autor/Märchenerzähler davon ausgeht, dass sich seine Leser nicht mit naiven Phantastereien abspeisen lassen. Faktizität und Phantasie dürfen sich nach Tolkiens Verständnis nicht ausschliessen. Unter Bezugnahme auf archaische Literaturformen hat er deshalb eine neue Kategorie von Fiktionalität eingeführt: die Erschaffung einer Sekundärwelt, die so realistisch und plausibel erscheint wie eine Fiktion von Faulkner oder Hemingway. Aber im Gegensatz zu dem, was in realistischen Romanen als Wirklichkeit geschildert wird, ist Tolkiens "Mittelerde" eben doch eine Märchenwelt, ausgestattet mit dem Reiz des Archaischen und der Verführungskraft des Phantastischen. In bewusster Opposition zur modernen Literatur hat Tolkien einen Weg gefunden, die Tradition des “grossen” Erzählens und besonders des Erzählens von Mythen und Märchen mit modernen Mitteln fortzusetzen.

 

 

Die Verfilmung eines unverfilmbaren Buches

 

So gut im Roman die Balance zwischen “modern” und “archaisch” funktioniert, im Film wird sie fraglich. Peter Jacksons Verfilmung hebt die Multilinearität des Textes auf und reduziert ihn auf den archaischen Hauptstrang. Der Film kann nur als archaische Halluzination verstanden werden. Er narkotisiert und überwältigt durch schiere Bildgewalt. Dabei erliegt er der filmischen Versuchung, Handlung und Dramaturgie einem emotionalen "Tuning" zu unterziehen. Stellenweise trägt er ein Pathos auf, das jeden Tolkien-Leser vergrault. In Tolkiens Werken herrscht eine wohltuende Gefühlskargheit, man könnte sagen: eine typisch britische Distanz voller Feinheiten und Evokationen. Einmal mehr zeigt sich, dass Wort und Bild getrennte, strikt selbstbezogene Welten sind und nicht gegeneinander ausgetauscht werden können. Literaturverfilmungen sind grundsätzlich schon problematisch: erst recht aber, wenn es sich um einen Roman von solcher Fülle und Komplexität handelt wie "Den Herrn der Ringe”. “Die Abstraktheit des Wortes erlaubt die Beschreibung vieler Motive, die vor dem Auge, in der Konkretheit des optischen Bildes unerträglich werden,” stellt der Medientheoretiker Rudolf Arnheim fest. Arnheims Wertung lässt sich aber ebensogut umdrehen: das Bild zeigt eine Fülle, die in der Beschreibung unerträglich weitschweifig wird. Das Bild konkretisiert auf Anhieb, während die Sprache zu mühsamen Annäherungen gezwungen ist. Das Bild vereinfacht, verknappt und spitzt zu. Das Wort hingegen schafft Andeutungen, Abschweifungen und Vieldeutigkeiten. Die Diskrepanz zwischen Wort und Bild wird gerne verdrängt, da wir in einer Kultur leben, die den Transfer zwischen den Medien als weitgehend unproblematisch legitimieren möchte. Der Zwang zur kommerziellen Verwertung formatiert Kulturgüter, stutzt sie auf ein markt- und medienkompatibles Format zurecht. Bei geistiger Leichtkost klappt das in der Regel recht gut. Schwierig wird es, wenn man es mit Werken zu tun hat, die einer komplexen (sprachlichen) Codierung unterliegen. Das beste Beispiel hierfür sind Bibelverfilmungen. Ein Moses, der sich im Bart kratzt, kommt nicht gegen den Bibeltext an, die Fallhöhe ist beträchtlich. Als der neuseeländische Regisseur Peter Jackson bekannt gab, er wolle die Bibel der Tolkien-Fangemeinde verfilmen, standen genau solche Befürchtungen im Raum. Die Adaption des “Herrn der Ringe” ist wahrscheinlich das ehrgeizigste und riskanteste Projekt der Filmgeschichte, zumindest was Literaturverfilmungen angeht. Wie gut oder schlecht ist der Film nun wirklich? Darf man das Buch überhaupt als Messlatte nehmen und eine adäquate Umsetzung verlangen? Trotz allen Vorbehalten muss man doch zugeben, dass es Peter Jackson erstaunlich gut gelingt, das Wesentliche an Tolkiens Phantasiewelt (Stimmung, Atmosphäre, Eigenheit, “Tolkiens Geist”) ästhetisch einzufangen. In diesem Punkt geht der Film sogar über das Buch hinaus: durch seine eindringliche und eigenwillig gegen Hollywood-Manier gerichtete Ästhetik spiegelt und verstärkt er die latente, auch im “Celtic Revival” wirksame Sehnsucht nach einer Rückverbindung mit den Ursprüngen westlicher Kultur. Das Buch hat diese Wirkkraft nicht. Es funktioniert viel indirekter, weniger kollektiv als individuell. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass das Buch viele Details (Kleider, Möbel, Utensilien) im Unbestimmten lässt, obwohl man es hier eigentlich mit lauter fremdartigen Dingen zu tun hat, die sich nicht von selbst verstehen. Auf visueller Ebene öffnet sich ein Spielraum, der in einer Verfilmung nicht verscherzt werden darf. Peter Jackson nutzt diesen Spielraum als Dreh- und Angelpunkt der ganzen Verfilmung. Dabei kommt dem Regisseur zugute, dass er kein Sprachmensch ist. Zu Tolkien hält er eine respektvolle Distanz ein. Man könnte sogar sagen: er umgeht Tolkien, indem er ein Analogieverfahren anwendet. Anstatt am Buch zu kleben und dieses bloss zu illustrieren, versucht er eine Bildsprache zu entwickeln, die der linguistischen Methode Tolkiens entspricht. Diese besteht darin, dass Tolkien unter Verwendung vorhandener literarischer Fragmente ein fiktives Werk der Vorzeit schreibt, also reale Texte alter Literatur auf fiktive Quelltexte zurückführt. Diese Quelltexte nimmt er als Basis für weitere Texte, die er fortspinnt zu einer fiktiven Überlieferungstradition. Die Nahtstellen und Verschiebungen, die sich daraus ergeben, interessieren Tolkien. Er schreibt ein Werk, das er als Altphilologe gerne untersuchen und übersetzen würde. Wenn man so will, zäumte er das Pferd beim Schwanz auf. Tolkien konstruiert Sprachen und Sprachwandlungen, Etymologien in der Möglichkeitsform. Er trifft Annahmen über eine mögliche archaische Welt und ihre sprachliche Selbstvermittlung. Peter Jackson geht nun ganz ähnlich vor. Er überträgt Tolkiens Verfahren auf die Visualisierung einer archaischen Welt.

 

 

Die Visualisierung einer archaischen Welt

 

Der Schlüsselbegriff, den Peter Jackson bei der Beschreibung seiner Arbeit immer wieder ins Spiel bringt, heisst “Authentizität”. “Ich wollte nicht dieses typische Film-Design im üblichen Hollywood-Fantasy-Stil,” erklärte er nach Fertigstellung des ersten Teils in einem Interview. “Alles sollte authentisch wirken. Ich habe vor der kompletten Designcrew am Anfang eine Rede gehalten... Ich sagte: Leute es ist unser Job, den Herrn der Ringe zu machen. Ihr müsst so tun, als sei alles echt, als hätte es das alles wirklich einmal gegeben. Und mehr als das. Stellt euch vor, wir hätten das Glück, dorthin reise zu können, wo damals alles passiert ist. Die Figuren gab’s wirklich, und ihre Kleidung muss der Wahrheit entsprechen. Hobbingen existiert noch heute. Es wurde 400 Jahre vernachlässigt, aber wir werden es in Stand setzen. Wir haben das Glück, dort drehen zu können, wo alles stattfand... Damit wollte ich deutlich machen, was ich in Bezug auf die Authentizität wollte.” Schon während der Vorbereitungsarbeiten wuchs die filminterne Designabteilung WETA WORKS zu einer Produktionsstätte an, die alles übertraf, was jemals einem Monumentalfilm zur Verfügung gestanden hatte. Fast das ganze kreative Potential Neuseelands wurde unter Vertrag genommen. Etwa 1000 Künstler, Kunsthandwerker, Handwerker, Techniker, Modedesigner, Designer, Gärtner, Innenarchitekten und Architekten waren während der ganzen Produktionszeit mit der Gestaltung und Herstellung von Relikten und des Szenariums einer fiktiven Kunst- und Kulturgeschichte beschäftigt. Die Ausstattung, die nötig war, um Tolkiens Welt zu visualisieren, umfasste Kleider, Rüstungen, Waffen, Bauten, Maschinen, Gärten, Statuen, Verzierungen und Möbel. Um den Eindruck von Kulturschichten zu erwecken, die Jahrtausende zurückreichen, wurden auch Dinge hergestellt, die im Film gar nicht zu sehen, aber indirekt doch präsent sind. In ständiger Absprache mit dem Regisseur und einem federführenden Team von Tolkien-Experten und Tolkien-Illustratoren versuchte man, Stilentwicklungen und kulturelle Schichten glaubhaft zu imitieren. Selbstverständlich auch dort, wo das Buch keine oder nur sehr unspezifische Beschreibungen liefert. Die bildliche und gegenständliche Konkretisierung der fiktiven historischen Realität, die im "Herrn der Ringe" als überlieferte Wahrheit dargestellt wird, verband man mit grossem handwerklichem Geschick, einer manischen Liebe zum Detail und einem riesigen materiellen Aufwand. Im Film gibt es so gut wie keine Plastikrequisiten. Fast alles, was materiell in Erscheinung tritt, ist echt, das heisst: bis auf die kleinste Haarnadel handgearbeitet und aus dem authentischen Material. Diese programmatische Authentizität erstreckt sich auch auf das landschaftilche Setting sowie die digitalen Visual Effects. Dies ist kein Widerspruch. Handwerk und Digitalisierung ergänzen sich im Filmdesign des “Herrn der Ringe” vollkommen. Zwischen der am Computer erzeugten Virtualität und dem Handwerklichen ist kaum zu unterscheiden, weil die meisten Computervisualisierungen auf handgearbeiteten und mit einem dreidimensionalen Scanner digitalisierten Modellen beruhen. Die materielle Vorarbeit ist in jeder Digitalisierung sichtbar und spürbar. Zum Beispiel bei der Visualisierung von Bauwerken in der Totalen, aber auch beim Motion-Capture-Verfahren, in dem sensorisch erfasste Bewegungsabläufe auf digitale Modelle übertragen werden. Hier sind Figuren entstanden, die mit der grössten Natürlichkeit neben den realen Schauspielern agieren. Die Effekte - auch dort, wo sie ins Phantastische gehen - dienen durchwegs der Geschichte und ihrer Glaubwürdigkeit. Sie werden nie zum Selbstzweck. Sie sind lediglich der verlängerte Arm des Authentischen und stehen keineswegs im Widerspruch zu Jacksons Absicht, eine “wirkliche Welt" zum Leben zu erwecken. Dies unterscheidet Jacksons Filmprojekt von den meisten Hollywood-Filmen des Fantasy-Genres. Dort hält der tricktechnische Illusionismus stets ein Augenzwinkern bereit: wir Zuschauer glauben, was wir sehen, weil es klischiert ist und eine bestimmte ästhetische Erwartung erfüllt - und nicht weil es realistisch ist. Diesbezüglich überrumpelt Peter Jackson die Zuschauer. Seine Filmmonster riechen nach Schweiss und Scheisse, es könnten Tiere aus dem Zoo sein. Anstatt vorrangig dem Klischee des Gruseligen zu entsprechen, sind sie zuerst einmal realistisch. Hollywood kennt diesen phantastischen Realismus nicht, eher lässt er sich auf das europäische Kino zurückführen, Fellini zum Beispiel. Doch im Grunde genommen bleibt Jacksons “Herr der Ringe” ohne Vergleich - wie das Buch ja auch. Jacksons “Betriebsgeheimnis” liegt darin, dass er Tolkiens Welt nicht einfach nachbaut, sondern sie in einem organischen Prozess entstehen und teilweise auch wieder zerfallen lässt, sie sozusagen brüchig macht, die Szenerien mit Spuren und Trümmern übersät, die auf Tieferliegendes schliessen lassen. Im Film wimmelt es von Ruinen, die keineswegs als Ruinen gebaut wurden, sondern als intakte Architektur, die man mit Hammer und Meissel “authentisch” zerstört hat. Gary Russell, Mitglied des Produktionsteams, beschreibt die Atmosphäre, die durch diese Zerstörungsarbeit entstanden ist, als “ein Gefühl, als wäre diese Welt angeschlagen, zerbrochen und wieder aufgebaut worden. Die Wahrheit dieser Welt liegt nicht darin, dass sie einfach abgebildet wird, sondern dass sie von Krieg und Zeit versehrt ist.”

 

 

Tolkien als Projektionsfläche

 

Tolkiens Geschichte bezieht sich nicht auf unsere moderne Welt. Aber gerade dadurch erzeugt sie eine Projektionsfläche, die grösser und mächtiger kaum sein könnte. Im Phantasieraum des Archaischen, des Anti-Modernen und Märchenhaften, entwickelt der Autor eine tiefenpsychologische Raffinesse, die uns gegenwartsnah und existentiell berührt. Das betrifft vor allem auch die moralische Substanz. Wie kaum ein anderer Autor des 20. Jahrhunderts spricht Tolkien ein ethisches Dilemma an, das für die Moderne charakteristisch ist. Eine der zentralen Aussagen des "Herrn der Ringe" lautet: nicht die grossen und bedeutenden Menschen retten die Welt, sondern die kleinen und unbedeutenden. Macht ist in jedem Fall ein Verhängnis. Sie korrumpiert auch diejenigen, die sie zum Guten gebrauchen wollen. In diesem Resümee steckt das ganze ethische Dilemma der Moderne. "Der Herr der Ringe" beleuchtet erstaunlich scharfsichtig die Mechanismen von Machtmissbrauch und automatisierten Machtsystemen. Das Böse wurzelt bei Tolkien nicht in üblen Charakteren, sondern in einer gesichtslosen Präsenz, die wie eine ansteckende Krankheit alles und jeden befallen kann. Ob man das nun auf die "Banalität des Bösen" totalitärer Systeme bezieht, also auf jene weltpolitischen Verhältnisse, die Tolkiens Schaffen möglicherweise beeinflusst haben, oder eher auf die heutige Zeit, in der "Saurons Auge" auf jedem Computer installiert ist, bleibt dem individuellen Empfinden überlassen. Irgendwie scheint das Buch für jede Problemlage der Moderne die passende Projektionsfläche herstellen zu können. Obwohl oder gerade weil es keine moderne Lesart explizit aufdrängt oder anbietet. Das Archaische ist eine freie Projektionsfläche. Tolkien war das sehr wohl bewusst. Zeitlebens hat er sich gegen eine politische oder allegorische Lesart seines Werks verwahrt, und bis heute spricht es die unterschiedlichsten kollektiven Befindlichkeiten an, wodurch mitunter Betrachtungsweisen in die Tolkien-Rezeption einfliessen, die wenig mit den Absichten des Autors zu tun haben. Während des Kalten Kriegs wurde der "Ring der Macht" gerne mit der Atombombe assoziiert. Zugleich hat man Bezüge zu Tolkiens traumatischen Erfahrungen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs hergestellt. Tatsächlich beschreibt "Der Herr der Ringe" das Zerstörungspotential und die Massenpsychose bewaffneter Konflikte mit einer Wucht, die jede dokumentarische Kriegsschilderung in den Schatten stellt. Auf der anderen Seite ist der Roman auch gesellschaftsutopisch gedeutet worden, etwa im Zuge der Hippie-Bewegung, die ihn als quasi-esoterisches "Öko-Werk" entdeckt hat. Die Geografie von "Mittelerde" ist nicht nur Schauplatz, sondern zentrales Handlungselement. Die Natur ist märchenhaft belebt, Wälder, Flüsse und Gebirge sind nicht bloss Kulissen, sondern Labyrinthe, Initiationsorte, Kraftorte u.ä. Ausserdem entwirft Tolkien das Ideal einer intakten vorindustriellen Gemeinschaft (das Auenland) und thematisiert damit indirekt jene Umweltzerstörung, die er in seiner Kindheit und Jugend durch die zunehmende Industrialisierung erlebt hat. Gegenwärtig ist es vor allem der fiktionale Weltentwurf, was an Tolkien besonders zeitgemäss oder attraktiv erscheint. Mit seiner fiktiven Geografie und seinen enzyklopädischen Erweiterungen (Natur- und Sprachkunde, Mythologie, Historiographie, Kulturgeschichte etc. etc.) erweist sich "Der Herr der Ringe" als Vorläufer jener simulierten Realitäten, die für Computer-Games entwickelt werden. Die Tolkien-Faszination, die man heute vorfindet, hat viel mit dem "Weltenbaumeister" zu tun. Bei all diesen Zugängen ist der Leser immer auch mit der Multilinearität des Textes konfrontiert und kann die jeweils vorherrschende Projektion auf individuelle Bedürfnisse abstimmen.

 

Im Film entfällt diese Vieldeutigkeit. Oder sie wird zumindest stark zurückgenommen. Indem Peter Jackson seine ästhetischen Mittel aus dem Fundus europäischer Ur-Kulturen schöpft, appelliert er an die mächtigsten kulturellen Prägungen und steigert beim Einzelnen die Bereitschaft, sich dem Sog einer kollektiven Projektion zu überlassen. Während man das Buch im stillen Kämmerchen rezipiert, ist der Film eine Angelegenheit, die man mit vielen Menschen teilt. Das gemeinsame Erleben im Kino - alle sehen die gleichen Bilder, aber nicht alle imaginieren den gleichen Text auf die gleiche Weise - verstärkt den Eindruck einer rauschhaften archaischen Zugehörigkeit, wie sie gegenwärtig auch in den Spielritualen, Festen und Modetrends des "Celtic Revival" zelebriert wird. Diese kollektive Bezugnahme auf archaische Äusserlichkeiten macht den "Herrn der Ringe" anfällig für Fehleinschätzungen und eine Form von Kritik, die weder Tolkien noch dem Film gerecht wird. Unter dem Eindruck der Massenwirksamkeit des Films tendiert man in neuster Zeit dazu, Tolkien als "altmodisch", "reaktionär" oder "konservativ" hinzustellen. Zugegeben: moderne Problemstellungen bezüglich Psychologie, Sexualität, Geschlechterverhältnis, ethnischer Zugehörigkeit, Ökonomie etc. interessieren ihn herzlich wenig. Was ihn interessiert, ist das Archaische, respektive die Frage, wie man es modern vermitteln oder aufbereiten kann. Seine Relevanz für die Gegenwart liegt eben nicht darin, dass er moderne Sichtweisen archaisiert, wie das viele Fantasy-Autoren (und vor allem auch Fantasy-Autorinnen) nach ihm gemacht haben. Er geht eher den umgekehrten Weg. Er stellt das Unzeitgemässe konsequent heraus und benutzt dazu erzählerische Mittel, die äusserst modern sind.  

 

Von daher rührt die Verführungskraft des "Herrn der Ringe", der von der Literaturkritik häufig als trivial abgestempelt wird. Man kann ihn nicht als modernen Roman würdigen, weil darin keine modernen Themen verhandelt werden. Aber genau das ist das Moderne daran. Was am "Herrn der Ringe" seit jeher kritisiert wird, ist seine eskapistische Wirkung. Ein Vorwurf, der im Zusammenhang mit dem Film erneut aufs Tapet kommt. In diesem Vorwurf geht es um etwas typisch Modernes: nämlich die Popularisierung und Trivialisierung des Archaischen, die massenwirksame Projektion unzeitgemässer Phantasien. Diese Realitätsflucht ist durch das Kino perfektioniert worden. Darin einen Realitätsverlust zu sehen, wäre jedoch falsch. Ein Filmkritiker, der die Faszination für phantastische Gegenwelten pauschal als geistige Narkotisierung abtut, verkennt nicht nur das Wesen des Films, sondern auch das Wesen der Phantasie. Gerade im Film erweist sich das Phantastische oft als extrem antizipierend. Kino ist nicht nur “Traumfabrik”, es ist auch “Wachfabrik”. Filme, die uns faszinieren, weil sie uns den Schrecken und die Verlockung einer anderen Realität anbieten, haben viel mehr mit unserer Lebenswirklichkeit zu tun, als wir uns eingestehen wollen. Oft sind sie aussagekräftiger als realistische Filme. Phantastische Welten bestätigen die Freiheit des Abstrahierens von der Realität, die Freiheit etwas anderes zu sein, als man ist. In dieser Freiheit liegt auch die Konfrontation mit dem, was man ist. Das Phantastische reflektiert, wenn auch indirekt, die Realität. Es schafft Distanz zur Realität, macht sie aber gerade dadurch umso sichtbarer. In dieser Indirektheit liegt sowohl das Risiko oberflächlicher Phantasterei als auch die Chance zu einer kulturellen und geistigen Selbstverortung.

 

 

 

 

Semesterarbeit HGK Basel, 2005

 

 

 

Verwendete Literatur:

 

Fiske, John: Lesarten des Populären/Cultural Studies Bd1/Turia und Kant, Wien, 2000

 

Lin Carter: Tolkiens Universum/Ullstein Heyne List GmbH & Co KG, München, 2002

 

Elbisches Wörterbuch/Nach J.R.R. Tolkien/Hrsg. Wolfgang Krege, Klett-Cotta, Stuttgarte, 2002

 

J.R.R. Tolkien: Über Märchen, Ullstein, Frankfurt a.M., Berlin, Wien, 1982

 

Rudolf Arnheim: Die Seele in der Silberschicht/Medientheoretische Texte/Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1654/2004, 1951, Seite 301

 

Peter Jacksons Statement über die Filmproduktion entstammt dem Anhang der Special Extended DVD Edition “Der Herr der Ringe - Die Gefährten”/New Line Home Entertainment, 2002

 

Gary Russell: Der Herr der Ringe/Die Rückkehr des Königs/Die Erschaffung eines Filmkunstwerks/JG. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart, 2004

 

Filmgenres - Fantasy- und Märchenfilm/Hrsg Andreas Friedrich/Universal-Bibliothek Nr. 18403/Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 2003