Ein Nachruf

Mein Vater Walter Buess wurde am 20. Februar 1934 in Basel geboren. Seine Mutter erzählte ihm oft, dass sie während seiner Geburt die Klänge der Basler Fasnacht im Ohr gehabt habe. Ein Fasnächtler wurde er zwar nicht, aber die Musik sollte ihn sein Lebenlang begleiten. Mit zwei Geschwistern - einem jüngeren Bruder und einer älteren Schwester - wuchs er in der Bäckerei seines Vaters in Binningen auf. Die ersten Jahre betreute die Grossmutter die Kinder, da die Mutter viel im Laden zu tun hatte. Gleichwohl war es eine unbeschwerte Kindheit. Die Kriegsjahre verbrachte die Familie in relativem Wohlstand, die Bäckerei lief gut. 1948 musste der Vater aus gesundheitlichen Gründen die Bäckerei aufgeben, und die Familie zog nach Basel ins Gundeli. Die weiteren Schujahre verbrachte mein Vater im Gundelischulhaus. Schon in jungen Jahren war er sehr kreativ, er zeichnete leidenschaftlich gerne, liebte die Musik und lernte verschiedene Musikinstrumente. Sein Wunsch, nach Schulabschluss Grafiker zu werden, fand bei seinen Eltern keinen Anklang. Er fügte sich und absolvierte eine kaufmännische Lehre. Gleichzeitig spielte er in verschiedenen Bands Mundharmonika und Saxophon. Als junger Kaufmann sammelte er in verschiedenen Firmen berufliche Erfahrungen, unter anderem bei der Elektra Birseck in Münchenstein. Einer ersten Ehe entspross der Sohn Roland, der 1961 geboren wurde. Im November 1968 heiratete er seine zweite Frau Ursi, die meine Mutter wurde. Mit ihr nahm er Wohnsitz in Pratteln. Im gleichen Jahr trat er eine Stelle als Revisor bei der Manor AG in Basel an. Von da an war er häufig auf Reisen, weil er in den verschiedenen Manor-Filialen von Basel bis Locarno die Rechnungsprüfung vornehmen musste. 1970, als ich auf die Welt kam, wohnten meine Eltern noch in Pratteln. Zwei Jahre später, nach der Geburt meiner Schwester Sabine, bezog die Familie in Gelterkinden ein Eigenheim. Inzwischen war mein Vater des Umherreisens müde. Es kam ihm sehr entgegen, dass er Leiter der Pensionskasse der Manor AG werden konnte. Diese Tätigkeit gefiel ihm auch deshalb, weil sie eine soziale Komponente hatte. Er stand mit vielen Pensionierten in Kontakt und leitete Seminare, die sich mit dem dritten Lebensabschnitt befassten. Neben der Arbeit fand er immer reichlich Zeit für seine Familie, er spielte und bastelte mit uns Kindern und pflegte mit Hingabe seine Hobbys. Er war ein passionierter Amateurfilmer. 20 Jahre lang stand er dem Filmclub Rheinfelden als Präsident vor und erlebte dabei die ganze filmtechnische Entwicklung von Normal8 über Super8 bis hin zu den diversen Videofilmformaten hautnah mit. Daneben spielte er elektronische Orgel und engagierte sich als Klarinettist und Saxophonist im Musikverein Gelterkinden. 

Als er 1995 in Pension ging, fing für ihn der grosse "Unruhestand" an. Obwohl er schon seit Jahren im Musikverein Gelterkinden aktiv war, begann er als Keyboarder seine eigenen musikalischen Projekte zu verwirklichen. Er gründete die "Hotlines", eine Swing-Formation, in der vor allem Jugendliche mitspielten. Zwischendurch musizierte er auch mit der Schlagersängerin Isabelle Plattner und der Panflötistin Andrea Keller. Mit diesen zwei Solistinnen wie auch mit den "Hotlines" und als Solo-Keyboarder spielte er an Stadt- und Dorffesten, an Matinees, Hochzeiten und Gewerbeschauen. Immer wieder gastierte er in Altersheimen, wo er den rüstigen und auch weniger rüstigen Senioren zum Tanz aufspielte. Dem Altersheim Gelterkinden fühlte er sich besonders verbunden, einige Jahre lang war er dort Präsident der Altersheimkommission.

Ab Ende der Neunziger Jahre widmete er sich vermehrt dem Videofilmen. Durch seine Pensionierung und die Einführung des Mini-DV-Formats fand er die Möglichkeit, das Filmen auf eine quasi-professionelle Grundlage zu stellen. Er wurde Auftrags- und Dokumentarfilmer, ein Metier, in dem er sich als sehr produktiv und erfolgreich erwies. An Amateurfilmwettbewerben im In- und Ausland gewann er zahlreiche Preise. Die rund 200 Filme, die er in den 17 Jahren seit seiner Pensionierung gedreht hat, im Auftrag von Firmen, Institutionen, Vereinen und Privatleuten, aber auch in eigener Regie, lassen sich unmöglich auf einen knappen Nenner bringen. Er produzierte Image- und Werbefilme, etwa für die Maschinenfabrik SSM in Horgen oder das Hotel Hilton in Basel. Der ergiebigste Filmstoff bot ihm jedoch seine nächste Umgebung im Baselbiet. Er legte sich auf die Lauer, um eine Fuchsfamilie zu filmen, die neben dem Maloya-Gelände einen Bau bewohnte. Er war mit der Kamera zur Stelle, wenn die Ergolz über die Ufer trat oder ein Feuer ausbrach. Er filmte Festivitäten, Turnerabende und Schüleraufführungen, dokumentierte eine Operation in der Kindertagesklinik Liestal, drehte ein Porträt über den Holzschnitzer Hanspeter Klaus und begleitete den Forstwart Ulrich Schaffner, wenn dieser im Wald von Ormalingen Steinkäuze beringte. Die eindrücklichsten Filmmomente gelangen ihm in Altersheimen und Behindertenwerkstätten. Mit betagten und behinderten Menschen verstand er sich besonders gut. Berührungsängste kannte er nicht, und obwohl er eher zurückhaltend und vorsichtig war, nahm er für seine Filmerei die ungewöhnlichsten Umstände in Kauf. Dazu gehörten etwa die wagemutigen Rumänien-Reisen mit der Hilfsorganisation Nikodemus oder das Filmen und Fotographieren auf der Grossbaustelle eines Logistikzentrums in Dagmarsellen, wo er mit der Kamera auf die höchsten Baugerüste geklettert ist. Sein grösstes Abenteuer war wohl der Konzertfilm, den er in Wien mit dem Mozart-Spezialisten Konrad Rich gedreht hat, ein ziemlich ehrgeiziges Projekt, in das auch eine russische Dirigentin involviert war und das beinahe am Widerstand der Konzertveranstalter gescheitert wäre. Wienerluft gab es auch in Gelterkinden zu schnuppern. Gemeinsam mit Konrad Rich organisierte und gestaltete er eine multimediale Veranstaltung zum Gedenken an Mozart und Johann Strauss. Neben dem Filmen hat Vater immer auch fotografiert, und im Laufe der Jahre hat er daraus ein zusätzliches Standbein gemacht. Die meisten Fotoaufträge erhielt er von regionalen Bau- und Ingenieurfirmen. Überhaupt entwickelte er sich immer mehr zu einem Einmann-Dienstleister: er machte Tonaufnahmen, produzierte CDs für Chöre und Musikensembles und gestaltete Photoshows und Werbeprospekte. Besonders gefragt war sein multimediales Know-How, wenn es darum ging, private Normal8- und Super8-Filme wie auch private Diasammlungen in das digitale Zeitalter hinüberzuretten. 

Die meisten Leute, die meinen Vater kannten, werden ihn wahrscheinlich als umtriebigen Dokumentarfilmer in Erinnerung behalten. Was sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Filmschaffen zieht, ist die Fähigkeit, mit wenig Aufwand und wenig Aufregung, aber mit viel Liebe zum Detail und präziser Beobachtung aus einfachen Gelegenheiten und alltäglichen Sujets das Optimum herauszuholen. Er hatte einen untrüglichen Blick für das Schöne im Unspektakulären, das Bewegende im Alltag und für die Menschen, wie sie sind. Hin und wieder hat er einen Ausflug in den Werbefilm gemacht, wo er sich gewissen ästhetischen Kriterien beugen musste, aber das war nicht unbedingt seine Linie. Er war kein Freund von gestellten Szenen oder geschönten Eindrücken. Er wollte die Realität einfangen. Dabei stand für ihn immer das Soziale im Vordergrund, das Miteinander der Menschen, die er als Beobachter und Chronist begleiten durfte. Er wurde überall schnell akzeptiert. Mit seiner ruhigen, umgänglichen und unaufdringlichen Art konnte er die Menschen für sich gewinnen und ihnen die Scheu vor der Kamera nehmen. Seine Geduld beim Filmen, die im entscheidenden Moment ein schnelles Agieren erlaubte, habe ich immer bewundert. Am liebsten hat er in Altersheimen und Behindertenwerkstätten gefilmt, wo seine einfühlsame Beobachtungsgabe besonders zum Tragen kam. Neben Menschen hat er auch gerne Tiere gefilmt, vor allem in freier Wildbahn. Auch dort gereichte ihm seine Geduld zum Vorteil.

Wie die meisten Videofilmer hatte er Freude an technischen Spielereien und probierte gerne neue Geräte aus. Dennoch behielt er in Sachen Filmtechnik immer das Augenmass. Er hatte sein Equipment im Griff, war aber weit davon entfernt, mit technischem Schnickschnack zu protzen. Für ihn war die inhaltliche Substanz wichtiger als der technische Aufwand, das Handwerkliche wichtiger als Hightech um jeden Preis. Viele seiner Film-Kollegen haben das Filmen in erster Linie als technische Herausforderung betrachtet, und da ist die Versuchung natürlich gross, sich mit den neusten Kameras und Zusatzgeräten profilieren zu wollen. Dieser Versuchung ist mein Vater nie erlegen. Er machte nicht jede Neuerung mit. Er hat sich zum Beispiel geweigert, vom alten DV-Format auf das neuere HD-Format (High Definition) umzusteigen. Er vertrat die Ansicht, dass die filmische Qualität nicht von der Bildauflösung, sondern von einer soliden Kamera (gutes Objektiv) und vor allem von der Fähigkeit des Filmers abhänge, mit dieser Kamera das Richtige im richtigen Moment einzufangen. Der Presse gegenüber bezeichnete er sich einmal als "Bilderjäger". Das war er tatsächlich: er war ständig auf der Jagd, und als Jäger muss man flexibel sein und eine ruhige Hand und ein gutes Auge haben. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dem Filmschnitt. Als jemand, der jahrzehntelang mit Normal8 und Super8 gefilmt hatte und geübt darin war, ein manuelles Schnittgerät zu bedienen, legte er bei der digitalen Filmbearbeitung Wert auf ein sorgfältiges und sauberes Handwerk. Mit dieser pragmatischen Einstellung liess er seine Konkurrenten oftmals weit hinter sich. "Was nützt die raffinierteste Kamera, wenn sie von einem Trottel bedient wird?" pflegte er zu sagen. Seine Stärke bestand darin, dass er die richtigen Prioritäten zu setzen wusste. Ausserdem hatte er das grosse Glück, dass er mit seiner relativ einfachen, aber durchaus ambitionierten Filmerei in einem Zeitraum aktiv war, als die technischen Voraussetzungen ideal waren, um sich neben Hobbyfilmern und hochqualifizierten Videofilmproduzenten auf semiprofessioneller Basis behaupten zu können. Inzwischen gibt es Handys mit integrierter HD-Kamera, und auf YouTube kann man sehr leicht sein eigenes, schnell produziertes Eventfilmchen hochladen. Andererseits sind viele Filmaufträge nur noch darauf berechnet, im Internet eine möglichst rasche Wirkung zu erzielen, etwa durch ausgefallene Effekte oder eine glattgeschmirgelte Ästhetik. Die Nachfrage nach filmischen Dokumentationen nimmt seit Jahren kontinuierlich ab. Mein Vater hat diese Entwicklung misstrauisch beobachtet. Er wusste, dass sie gegen ihn arbeitete. Dass er selbst noch haufenweise Dokumentationen drehen konnte, lag an seinem grossen Netzwerk, das er sich über die Jahre hinweg aufgebaut hatte. Für ihn war es wichtig und zentral, dass er seine Filme öffentlich vorführen oder als DVDs verkaufen konnte. Ein Film war für ihn ein valides Werk und ein soziales Ereignis - und nicht bloss ein Fastfood-Clip, den man im Internet ein paar Sekunden lang anschaut. Um Aufträge zu bekommen und im Gespräch zu bleiben, war er in besonderem Masse auf persönliche Kontakte und eine "analoge" Öffentlichkeit angewiesen.

Ich bin dankbar, dass ich ihn bei vielen seiner Tätigkeiten unterstützen durfte und dass er mir mit Rat und Tat zur Seite stand, wenn ich seine Hilfe brauchte. Es war ein ständiges Geben und Nehmen zwischen uns. Während meines Kunststudiums habe ich selber zu filmen angefangen. Ich durfte bei einem Spielfilm Regie führen und spezialisierte mich auf slapstickartige und experimentelle Kurzfilme. Daneben realisierte ich das eine oder andere Trickfilmprojekt. Dass ich mich nicht als Dokumentarfilmer betätigte, war für uns beide ein Vorteil. Aus den unterschiedlichen Auffassungen und Herangehensweisen ergaben sich wertvolle Synergien. Während ich von seinem technischen Know-how und seinem Equipment profitieren konnte, profitierte er von meinen im Studium gewonnenen Erfahrungen mit Bildbearbeitung, Storytelling und Dramaturgie. Ich habe viel von ihm gelernt, wenn auch nicht alles. Er war zum Beispiel sehr geschickt darin, Kabel korrekt aufzuwickeln: etwas, das ich bis heute nicht richtig hinbekomme. Für das Filmen von Menschen in Alltagssituationen (seine grosse Spezialität) hat er mir ein paar nützliche Tipps gegeben. Er hat immer darauf geachtet, dass sich die Gefilmten unbeobachtet fühlen und die Kamera vergessen. Deshalb hat er häufig mit Zoom und Stativ gearbeitet. Meine künstlerischen Aktivitäten verfolgte er mit grossem Interesse, auch wenn er nicht immer verstand, worum es dabei ging. Ich selbst sah mich nie als Auftragsfilmer, und ich hatte auch nie das Bedürfnis, mit Filmen Geld zu verdienen. Als Video-Dienstleister muss man gängige Erwartungen erfüllen können, und das lag mir weniger. Ausserdem hatte ich schon einen Job, und ich fragte mich manchmal, weshalb sich mein Vater das antat. Er brauchte das Geld ja gar nicht. Das Arbeiten über die Pensionierung hinaus war für ihn ein zweites Berufsleben, in dem er sich voll und ganz verwirklichen konnte. Er war jetzt sein eigener Chef, und er liebte es, keine Krawatte tragen zu müssen und auf Kaffeepausen, Lohnvereinbarungen und feste Arbeitszeiten pfeifen zu können.  

Dass er dank seiner Filmerei eine gewisse lokale Reputation genoss und haufenweise Aufträge an Land zog, war gewiss erfreulich. Andererseits fand ich es schade, dass er mit der Kamera kaum noch eigenen Interessen nachging. Anfänglich hatte er das weitaus häufiger gemacht und vorzugsweise Filme nach eigenem Gusto gedreht, zum Beispiel Tierfilme, bei denen er sich auf sein Jagdglück und seine Intuition verlassen hatte. Bei vielen Aufträgen bestand überdies das Problem, dass die Auftraggeber äusserst subjektive Vorstellungen davon hatten, was ein guter (oder optimal realisierbarer) Film ist, und mit sehr viel Diplomatie zu ihrem Glück gezwungen werden mussten. Die Balance zwischen Goodwill und Geld war nicht immer einfach. Allzu oft erlebte ich, dass mein Vater es allen irgendwie recht machen und die Quadratur des Zirkels vollbringen musste. Gelang ihm das nicht, war er meistens am kürzeren Hebel, weil es keine geregelte Vertragssituation gab. Auch die Tarife liessen sich nie so klar fixieren, ein Film ist eben kein Möbelstück. Alles beruhte auf Absprachen und situativen Beurteilungen. Gelegentlich hat mein Vater ein bisschen mit den Zähnen geknirscht, aber im grossen und ganzen hat er das alles im Griff gehabt, er war sehr diplomatisch.

Allerdings verstand ich, dass für ihn das Geld nur ein Nebenaspekt war. Er war und blieb (im besten Wortsinn) ein Amateur, er betrieb seine Tätigkeit aus Liebhaberei, und deshalb hat er auch nie eine Firma gegründet, um ganz offiziell den Schritt in die "richtige" Professionalität zu wagen. Die meisten Filme machte er für wohltätige oder gemeinnützige Institutionen und Vereine, von denen er kein Geld annahm. Er liebte es, Filme am Fliessband zu produzieren, egal, ob für Geld oder nicht, ein Film pro Monat lag ohne weiteres drin, und oft hat er auch an mehreren Filmprojekten gleichzeitig gearbeitet, und immer öfter habe ich ihm ausgeholfen, bin eingesprungen, wenn es nötig war, zum Beispiel bei Terminüberschneidungen. Jedenfalls haben wir uns regelmässig ausgetauscht, und etliche Filme haben wir zusammen gedreht, etwa eine grossangelegte Dokumentation über regionale Brauchtümer oder einen aufwändigen Imagefilm für die Maschinenfabrik SSM, mit dem sich die Firma auf einer chinesischen Fachmesse präsentierte. Unter den Auftraggebern war die Firma SSM eine löbliche Ausnahme. Wann immer sie uns (oder meinen Vater) mit einem Projekt betraut hat, war alles top organisiert und hochprofessionell, und die Wünsche der Marketingabteilung waren realistisch und kompetent. Es war die ideale Kooperation. Als wir am Imagefilm gearbeitet haben, wurden wir sozusagen auf Händen getragen. Für die dreitägigen Dreharbeiten besorgte uns die Firma in Horgen eine Hotelunterkunft, und ich habe bereitwillig meine Sommerferien geopfert, um die kniffligen Spezialeffekte zu designen, die für diesen Film vonnöten waren. Das Beste war natürlich, dass der Film nach seiner Fertigstellung nicht einfach im Nirwana verschwand. Um ein Haar hätten wir nach China an die Fachmesse reisen können, mit einer offiziellen Schweizer Delegation, in der höchstwahrscheinlich auch ein National- oder Bundesrat mitgereist wäre, aber dann kam 2008 die Wirtschaftskrise, und die Reise wurde abgesagt. Oft haben wir Pläne geschmiedet, die wir nie verwirklichen konnten, weil keine Zeit dazu blieb. So wollten wir zum Beispiel in den polnischen Bialowieza-Urwald reisen, um Bären zu filmen. (Meine Mutter wäre wahrscheinlich dagegen gewesen). Auch eine gemeinsame Ballonfahrt haben wir geplant. Mein Vater, der unter Höhenangst litt, überwand diese augenblicklich, sobald er eine Kamera in der Hand hielt. Über alle Verschiedenheiten hinweg haben wir uns in der Filmbegeisterung und in der gemeinsamen Macher- und Tüftler-Mentalität immer wieder gefunden. Eine grosse Gemeinsamkeit war auch die Liebe zur Musik. Beide verwandten wir sehr viel Mühe und Sorgfalt darauf, unsere Filme gut zu vertonen. 

Mein Vater hatte viele Talente, aber er hatte nicht das Talent zum Altwerden. Seine grösste Angst war, dass  ihn das Alter irgendwann zwingen könnte, die Kamera aus der Hand zu legen. Er hatte viel mit älteren Menschen zu tun, vor allem in Altersheimen, und es bewegte ihn, wenn der eine oder andere Senior, den er vor wenigen Monaten oder Wochen noch gefilmt hatte, plötzlich nicht mehr da war. Häufig waren das Leute, die nur wenig älter als er selbst waren. Sich selbst zählte er nie dazu, wenn er von den "Alten" sprach. Alt waren immer nur die andern. Er war ständig unterwegs, ständig am Arbeiten, und es war ihm wichtig, in der Öffentlichkeit zu wirken. Bis zu seinem letzten Atemzug, den er mit 79 Jahren tat, blieb er lernbereit und neugierig und plante wie eh und je sein nächstes Projekt. Noch in seinem letzten Lebensjahr meldete er sich für die nächste Rumänienreise der Hilfsorganisation Nikodemus an. Er freute sich, wieder einen Reisefilm drehen zu können. Ausserdem kaufte er sich einen Quadcopter, eine hubschrauberähnliche Drohne, die ihn total begeisterte. Damit erfüllte er sich einen langgehegten Wunschtraum: er hatte schon immer aus der Luft filmen wollen. Und als er nach seinem ersten Herzstillstand aus dem Koma erwachte und wieder Prospekte und Fachzeitschriften lesen konnte, befasste er sich als erstes mit den soeben erschienenen digitalen Wanderkarten der Eidgenössischen Landestopographie. Weil er noch im Spital lag, beauftragte er mich, das ganze Kartenwerk auf CD-ROM zu besorgen. Er studierte es auf dem Laptop. Im Geist war er schon wieder mit der Filmkamera unterwegs, irgendwo in den Bergen vermutlich. Und nur wenige Tage vor seinem zweiten Herzstillstand, an dem er dann verstarb, habe ich ihm noch ein Schnittprogramm erklärt, das neu für ihn war und das er unbedingt kennenlernen wollte.  

 

 

Januar 2013