Religion und Wahnsinn

 

Eine Erwiderung auf Richard David Prechts Atheismus-Kritik

 

Wer nicht ganz richtig im Kopf ist, sieht Geister und Dämonen. Er sieht mehr als die Allgemeinheit, und vielleicht sind solche Menschen in frühen Stammeskulturen dazu ausersehen gewesen, die Rolle von Schamanen und geistigen Autoritäten zu übernehmen. Wenn der Blitz einschlug, musste jemand erklären können, was das zu bedeuten hatte. Dieser Jemand war natürlich ein Mensch mit Phantasie, ein Mensch mit Visionen, der womöglich ein bisschen anders tickte als seine Mitmenschen, aber durchaus imstande war, sie mit seinem Anderssein zu begeistern - oder einzuschüchtern. Die Evolution hat den religiösen Wahnsinn zugelassen, weil er sich für das menschliche Kollektiv als nützlich erwiesen hat, zumindest innerhalb der engen Realitätserfahrung von kleinen und einfach strukturierten Gesellschaften. Aber je komplexer sich eine Gesellschaft ausgestaltet und je grösser und vielfältiger ihr Wissen über die Welt wird, desto fragwürdiger wird der religiöse Zusammenhalt.  

 

Richard David Precht, der angesagteste Salonphilosoph in deutschen Landen, Dauergast in Talkshows und als Interviewpartner so begehrt wie sonst nur Politiker, Schauspieler und Popstars, hat Unrecht, wenn er den Polemikern des neuen Atheismus - allen voran Richard Dawkins - maliziös unterstellt, sie seien im Grunde genommen genauso fundamentalistisch wie ihre Gegner: einfach ohne Gott. Kämpferische Atheisten und religiöse Fundamentalisten sind also vom gleichen blinden Glaubenseifer beseelt? Aber lieber Herr Precht, das ist erstens falsch, und zweitens ist das gar nicht der Punkt, auf den es hier ankommt! Sie als Philosoph sollten das eigentlich wissen. Die Tatsache, dass jemand eine Überzeugung hat, verrät noch nichts über die Qualität dieser Überzeugung. Wer hätte nicht irgendeine Überzeugung? Die Frage ist doch: welche Überzeugung? Und die Frage ist auch: was steckt hinter dieser Überzeugung? Argumentiere ich aus einem blinden Glauben heraus oder kann ich meine Argumente rational begründen? Richard Dawkins trifft mit seiner Religionskritik vor allem deshalb ins Schwarze, weil er keinen einzigen Gedanken äussert, der nicht rational nachvollziehbar wäre. Die von Precht unterstellte Symmetrie zwischen dem Chefatheisten und seinen Gegnern existiert nicht. Während nämlich die religiösen Fundamentalisten durch die klare Argumentation von Richard Dawkins zumindest theoretisch in die Lage versetzt werden, die Absurdität ihrer Glaubenssysteme zu durchschauen, ist es dem Wissenschaftler Richard Dakwins unmöglich, irrationale Überzeugungen zu teilen - oder auch nur gutzuheissen. Dies zu tun, würde für ihn (und letztlich uns alle) bedeuten, dass eins plus eins auch drei geben kann. Für die Wissenschaft und unser aller Zusammenleben wäre dies verheerend. Wenn die Hemmung entfällt, jeden Unsinn für bare Münze zu nehmen, öffnet man dem Irrsinn Tür und Tor. So macht man sich erpressbar, weil man den Irren das Recht einräumt, ihren Wahnsinn, den sie natürlich nicht als solchen durchschauen, mit einem unhinterfragbaren Geltungsanspruch auszustatten. Bei dieser Art von Toleranz kann der Schuss gewaltig nach hinten losgehen. Meinungen zu tolerieren oder sogar in Schutz zu nehmen, die logisch, ethisch und wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sind, ist ein Spiel mit dem Feuer. Betrachten wir die Geschichte wie auch die aktuelle Weltlage in Bezug auf den Islam, sehen wir nur zu deutlich, wohin es führt, wenn sich religiöse Überzeugungen gegen logische Argumente immunisieren. Insofern steht Dawkins Haltung auf einer völlig anderen Grundlage als die Haltung seiner Gegner. Während Dawkins eine klare und für jeden nachvollziehbare Logik vertritt, verstricken sich seine Gegner fortwährend in Widersprüche und fallen auf die eigenen falschen (nicht realitätstauglichen) Prämissen herein. Sie stellen unreflektierte Behauptungen in den Raum, plappern ein tradiertes Gedankengut nach, das keiner ernsthaften Überprüfung standhält, und lassen durch eine "kritikimmune" Weltsicht (Hans Albert) jeden Einspruch auflaufen. Mit einem Affen kann man diskutieren, zum Beispiel mittels Zeichensprache, nicht aber mit einem religiösen Fundamentalisten. Wobei das Problem ja schon damit anfängt, dass es unzählige verschiedene Religionen mit unzähligen alleinseligmachenden Wahrheiten gibt. Religionen sind definitiv nicht das, was sie zu sein vorgeben. Sie können die Welt weder erklären noch hinterfragen noch die Bestimmung des Menschen auch nur einigermassen plausibel und allgemeinverbindlich definieren. Sie sind - um es postmodern auszudrücken - nicht diskursfähig. Stattdessen bleiben sie inhaltlich und ideologisch an ihre Ursprünge gebunden. Der Islam bleibt in der Wüste, und das Christentum bleibt im antiken Rom. Und hier haben wir denn auch eines der grössten Probleme, mit denen wir uns im 21. Jahrhundert herumschlagen müssen. Normen und Weltanschauungen vergangener Zeiten und Kulturen als überzeitlich und alleingültig auszugeben, ist ein ziemlich starkes Stück. Wieso lässt man sich das noch gefallen? Wieso darf man nach Newton, Darwin und Einstein noch irgendeinen Schwachsinn für unantastbar erklären, der in einem angeblich heiligen Text steht? Mit welchem Recht darf man Wahnvorstellungen als “göttlich inspiriert” ausgeben? Wieso müssen blind tradierte Denknormen vergangener Epochen als heiliges Frachtgut behandelt werden? Genau dieses Problem bringt Dawkinks schonungslos auf den Punkt. 

 

Was Precht und viele andere Leute an Dawkins nicht ausstehen können, ist seine Unzimperlichkeit. Er lässt kein Hintertürchen offen, schiesst mit Kanonen auf Spatzen. Nicht einmal die an sich begrüssenswerte Sonntagsschul-Religiosität ("Es ist alles nur symbolisch gemeint") kommt bei ihm ungeschoren davon; ihr unterstellt Dawkins Naivität und Blindheit. Aufgeklärte Christen, sogenannte Sonntagsschul-Christen, tendieren laut Dawkins dazu, das Wesen und den Charakter von Religionen auf unzulässige Weise zu idealisieren. Sie verkennen die Gefahren, weil sie mit ihrer selektiven Glaubensauffassung alles weginterpretieren, was dem modernen Welt- und Menschenverständnis zuwiderläuft. Dawkins sieht diese Problematik realistisch. Moderne Gläubigkeit ist nicht per se die "richtige" Form von Gläubigkeit. Sie ist genauso problematisch wie der Fundamentalismus. Die liberalen Christen pflegen ein humanistisches Kultur-Christentum, ein "Christentum-Light", das sie als Massstab für Religiosität nehmen, wobei sie alle Diskrepanzen ausblenden oder elegant weginterpretieren. Den logischen Schritt in den Atheismus vollziehen sie nicht. Hier kneifen sie. Im Zweifelsfall spannen sie dann doch lieber mit den Fundamentalisten zusammen. Und nehmen sie gegen Religionskritik in Schutz.

 

Mit dieser Einschätzung düpiert Dawkins auch die Gemässigten unter den Religiösen und zieht sich den Vorwurf zu, ein Fanatiker zu sein, “mit dem man nicht reden kann”. Doch genau solche Reaktionen zeigen, wie berechtigt Dawkins Angriffe sind. Was Dawkins kritisiert und entlarvt, ist ja nicht das Ethos eines Gläubigen, der sich für die Armen und Schwachen einsetzt, ein Ethos, das man übrigens auch bei den härtesten Atheisten findet, es ist vielmehr die Anmassung, unbewiesene und völlig irrationale Überzeugungen für sakrosankt zu erklären. Was natürlich auch an die Grundüberzeugungen mancher Normalgläubigen rührt, die, obwohl äusserlich mit dem Säkularismus versöhnt, "im Grunde ihres Herzens" das Welterklärungsmonopol der Naturwissenschaften ablehnen. Mit seiner Kritik erwischt Dawkins, was für die ganze Auseinandersetzung bezeichnend ist, nicht nur die Fundamentalisten, sondern auch die Gemässigten. Es gelingt ihm, schlafende Hunde zu wecken. Wer noch der Meinung ist, die "Normalgläubigen" könnten etwas gegen den Fundamentalismus ausrichten, ist im Gegensatz zu Dawkins weit davon entfernt, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Zwischen Gemässigten und Radikalen werden Bündnisse geschlossen, heilige und unheilige Allianzen.

 

Ein gutes Beispiel für diesen Trend ist “Die Nacht des Glaubens” in Basel, eine christliche Propaganda-Veranstaltung der Extraklasse. Das Spezielle und Anstössige daran: die protestantische Landeskirche schliesst sich mit den Freikirchen zusammen. Der wohl wichtigste Grund für diesen Zusammenschluss liegt in der abnehmenden Akzeptanz gegenüber der offiziellen protestantischen Kirche, die eine liberale und vernünftige Theologie vertritt. Eine Theologie mit Hirn, aber wenig Unterhaltungswert, wenig Erlebnischarakter. Vernunft lässt sich schlecht vermarkten, in einer kapitalistisch dynamisierten und spassorientierten Gesellschaft verliert eine Kopfreligion früher oder später ihren Sockel. Der moderne Protestantismus siecht vor sich hin. Da ihm die Kirchgänger scharenweise davonlaufen, gerät er unter Zugzwang und spannt bereitwillig mit den rasant wachsenden Freikirchen zusammen. Deren Schattenseiten ignoriert er nach dem Motto: Hauptsache christlich. Hauptsache nicht katholisch. Dass die wortwörtliche Bibelauslegung, die Brandmarkung der Homosexualität als Krankheit oder die Verteufelung des Darwinismus dem Leitbild einer aufgeklärten Theologie widersprechen, scheint den Wendehals-Protestanten egal zu sein. Von dem Schulterschluss mit den Evangelikalen erhoffen sie sich einen Verjüngungseffekt: jung, bunt und dynamisch soll die offizielle Kirche sein, ganz nach dem Vorbild der fundamentalistischen Freikirchen. Die Freikirchen ihrerseits sehen es natürlich als Ritterschlag, wenn sie von der offiziellen Kirche in gemeinsame Projekte eingebunden werden. Endlich kommen sie aus der Sekten-Ecke heraus und dürfen sich als vollwertige Repräsentanten des Christentums fühlen! Was bei diesem Deal auf der Strecke bleibt, ist die aufgeklärte Theologie von Bultmann bis Sölle, ein Protestantismus, der sich von der Leichtgläubigkeit früherer Zeiten verabschiedet hat. Ähnliche Allianzen zwischen Radikalen und Gemässigten gibt es auch im Islam. Ein Religionskritiker bekommt das heutzutage sehr schnell zu spüren. Sobald er ein bisschen am Glaubensfundament rüttelt, hat er nicht nur die Fundamentalisten gegen sich, sondern auch die Gemässigten, die ihn eigentlich unterstützen sollten. Während die Gemässigten ihre Kooperation mit dem Fundamentalismus als völlig unbedenklich abtun, verlästern sie Richard Dawkins als “fundamentalistischen Atheisten”. Kein Vorwurf könnte weiter daneben treffen. Ins gleiche Horn stösst nun auch Precht, der es eigentlich besser wissen müsste. Irgendwie seltsam und doch auch erhellend. Indem die gemässigten Religionsvertreter - und auch manche Humanisten wie Precht - den Spiess umdrehen und einen bedeutenden Religionskritiker zum Fundamentalisten stempeln, outen sie sich als religiös verwundbar. Den Respekt vor Religionen stellen sie über den gesunden Menschenverstand. Dawkins behauptet nämlich etwas, das auch für viele Mainstream-Gläubige und Humanisten eine Zumutung darstellt. Insofern sich Religionen ins Leben einmischen (und das tun sie fast immer) müssen sie gewissen logischen, ethischen und wissenschaftlichen Fragen standhalten. Tun sie das nicht, (und das tun sie fast nie), darf man das öffentlich aussprechen und anprangern. Dass Dawkins in seiner Wut manchmal etwas zu weit geht und mit einem Holzhammer auf rohe Eier einschlägt, halte ich angesichts des weltweit grassierenden religiösen Fanatismus für zulässig. Ja, Dawkins zeigt Emotionen, er zeigt, dass ein Plädoyer für die Vernunft sowohl scharfsinnig als auch phantasievoll und leidenschaftlich sein kann. Auch damit setzt er seine Gegner schachmatt. Mit ihrer Behauptung, wissenschaftliche Rationalität sei leidenschaftslos, kalt und eindimensional, liegen sie nämlich definitiv falsch. Gut, dass Dawkins diesen Irrtum berichtigt hat. Und was Richard David Precht betrifft, so könnte er von Dawkins lernen, dass Philosophie nicht nur im luftleeren Raum schöngeistiger Eloquenz stattfindet, sondern mitunter von harten Notwendigkeiten getrieben sein kann. Beschämend genug, dass man dreihundert Jahre nach Voltaire immer noch gegen religiösen Stumpfsinn ankämpfen muss. Dawkins tut nur, was getan werden muss. Er plädiert für die Vernunft, und wenn er dabei zum Fanatiker wird, so tut dies seiner Sache keinen Abbruch. Nicht der Fanatismus an und für sich ist hier das Problem, sondern der religiöse Fanatismus. Anstatt also die neuen Atheisten (die so neu gar nicht sind) als verbohrte Rationalismusfanatiker zu brandmarken, täten wir gut daran, hinter der scheinbaren Paradoxie ihres gottlosen Glaubenseifers die Dringlichkeit zu beachten, mit der man sich in der modernen Welt gegen schädliche Irrationalismen zur Wehr setzen muss. Selbstveständlich tut dies Dawkins als Biologe, und seine Polemik richtet sich denn auch vornehmlich gegen den Kreationismus. Insofern ist er in seinem kritischen Furor keineswegs so fundamental, wie ihm häufig unterstellt wird. Sein Ansatzpunkt ist naturwissenschaftlich, obwohl er in seinem allseits bekannten Bestseller "The God Delusion" ("Der Gotteswahn") die problematische mentale Verfassung religiöser Fundamentalisten in den Vordergrund stellt. Dawkins möchte der naturwissenschaftlichen Logik und Evidenz die nötige Nachachtung verschaffen. Das Problem dabei ist, dass nicht jeder Gläubige das naturwissenschaftliche Weltbild ablehnt, weshalb sich Dawkins seinerseits dem Vorwurf ausgesetzt sieht, ein Fundamentalist zu sein. Was er vertritt, ist ein wissenschaftlicher Fakten-Dogmatismus. Dawkins hat in der Sache zwar Recht - Fakten sind nun mal Fakten, die Welt ist keine Scheibe, und religiöse Behauptungen sind Blödsinn - aber der naturwissenschaftliche Ansatz ist gleichwohl problematisch, weil er die Kernelemente des Glaubens zu wenig berührt. Den eigentlichen Knackpunkt nicht erfasst. Und insofern ist die Kritik an Dawkins ein Stückweit berechtigt. Allerdings kann man Dawkins nicht vorwerfen, er sei zu radikal. Das Problem ist eher andersherum aufgewickelt. Dawkins ist viel zu nett. Sein Atheismus nimmt den Gegner nicht mit der angemessenen Radikalität auseinander.

 

Sigmund Freud ist da wesentlich radikaler gewesen. Was er zur Religionskritik beigetragen hat, ob direkt oder indirekt, bleibt unüberbietbar. Und auch unwiderlegbar. Und vor allem: sie betrifft auch die Normalgläubigen. Beziehungsweise die psychische Struktur, die dem Glauben zugrunde liegt. Nach dem Giftgasanschlag der Aum-Sekte in der Tokioter U-Bahn und den Aktivitäten von Al-Kaida rund um 9/11 ist Freud derjenige, der Recht behält. Der religiöse Terrorismus ist in der Tat ein religiöses Phänomen! Wer hätte das gedacht! Wenn immer noch krampfhaft behauptet wird, solche Gräueltaten hätten nichts mit Religion zu tun, so könnte man unter Berufung auf Freud darauf hinweisen, dass das eine Schutzbehauptung ist. Und dass die üblichen, von Talkshow zu Talkshow weibelnden Islam-Apologeten, die nach jedem islamistischen Terroranschlag den Eiapopeia-Satz "Terror hat keine Religion" abspulen, eine tiefliegende Unwissenheit offenbaren. Eine geradezu erschütternde Ahnungslosigkeit. Terror (lat. terror: "Schrecken", "einschüchternder Eindruck") ist ein Kernelement religiösen Empfindens. Religionswissenschaftler reden in diesem Zusammenhang vom "Mysterium tremendum", einem Seligwerden durch "Furcht und Zittern". Diese Wortverbindung stammt übrigens - oh Wunder! - aus dem Neuen Testament. Das Wesen des "Mysterium tremendums" ist die Erschütterung. Und gemeint ist damit keineswegs nur die Erschütterung einer Nonne angesichts eines nackten Hinterns. Theologen neigen dazu, das "Mysterium tremendum" kleinzureden, weil es dem Bild des allgütigen Gottes oder des Gottes der Gerechtigkeit widerspricht. Das Göttliche kann grausam sein. Und in seiner Grausamkeit ist es unbegreiflich. Dieses destruktive Element der Überwältigung und Gewalt ist in jeder Religion enthalten. So wie der Sturzflug  zur Luftfahrt gehört, gehört die Gewalt zur Religion. Ein Sturzflug ist weder wünschbar noch erfreulich, und trotzdem gehört er zur Aviatik. Wer fliegt, sollte sich bewusst sein, dass er abstürzen kann. Und wer einer Religion anhängt, sollte sich bewusst sein, dass er auf einem Pulverfass sitzt. Religionen sind nicht per se gewalttätig, aber sie haben das Potential, gewalttätig zu werden. Religionen zu verharmlosen, indem man die bösen Menschen oder die bösen Machtstrukturen aus ihnen entfernt, ist ein billiger Trick - und reichlich naiv. Damit erklärt man zum Beispiel nicht die Blutrünstigkeit der religiösen Texte. Oder die Halsstarrigkeit, mit der Fundamentalisten an den absurdesten Gebräuchen, Normen und Ansichten festhalten. Mit Freud kommt man der Sache allerdings ein gutes Stück näher. Ein zentraler Begriff bei Freud ist der "traumatische Wiederholungszwang". Damit bezeichnet er den Impuls, Unangenehmes und Schmerzhaftes zu wiederholen. Zum Beispiel in einem Spiel oder Ritual. Obwohl Freud nicht so weit geht, diesen neurotischen Vorgang mit der Sphäre des Religiösen in Verbindung zu bringen, muss man nicht sehr scharfsinnig sein, um einen Zusammenhang zwischen Neurose und Religion herstellen zu können. Dieser Zusammenhang drängt sich fast auf. Analysiert man Religionen mit der Lesebrille von Freud, stösst man unweigerlich auf ein neurotisches Element. Die Frage ist nicht, ob Religionen neurotisch sind oder nicht. Die Frage ist vielmehr: wie stark. Natürlich kann das je nach religiöser Ideologie sehr unterschiedlich sein. Und natürlich kann man nicht allen religiösen Gruppierungen unterstellen, sie seien gewalttätig. Ein Geistesgestörter kann Menschen umbringen. Er kann aber auch harmlose Dinge tun. Zum Beispiel Pflastersteine zählen. Ob er das eine oder andere tut: die Unterschiede sind nur graduell. Die Ad-hoc-Unterscheidung zwischen einer "guten" und einer "bösen", einer "richtigen" und einer "falschen" Religiosität scheitert an ihrem Anspruch. Schon rein methodisch. Wer sagt denn, wo die Grenze verläuft? Wer setzt die Kriterien fest? Der liebe Gott? Der Papst? Der Dalai Lama? Der Obermufti aus Gruftistan? Im liberalen Mainstream hat sich ein Erklärungsmuster durchgesetzt, mit dem man Religionen für gut erklärt, indem man scheinheilig darauf hinweist, dass alles Böse in ihnen nur eine Verfälschung sei. Man geht davon aus, dass Religionen in ihrem Original- oder Idealzustand, den man natürlich selber definiert, friedlich und human sind. Und dass die Gläubigen erst durch ungute Einflüsse politischer oder sozialer Art auf die schiefe Bahn geraten, nicht durch die Religion an sich. Denn die Religion an sich ist gut. Sie hat jenen "wahren und guten Kern", den es sowohl gegen die Atheisten als auch gegen die religiösen Extremisten zu verteidigen gilt. Und hier fängt der religiöse Unfug schon an. Diesen "wahren und guten Kern" verteidigen nämlich auch die Fundamentalisten - und sogar die religiösen Terroristen. Nur definieren sie ihn halt ein bisschen anders. Jeder biegt sich sein religiöses Ideal irgendwie zurecht. Wobei die Fundamentalisten insofern im Vorteil sind, als sie den textbasierten religiösen Absolutheitsanspruch gradlinig in die Tat umsetzen können. Die Mühe aufwändiger Interpretation können sie sich sparen.

 

Die Rede von der Religion, die an und für sich gut ist, aber von bösen Menschen (oder von bösen politischen Kräften) vereinnahmt und korrumpiert wird, ist zweischneidig. Sie stützt nicht nur die liberale Religiosität, sondern auch den Fundamentalismus. Es ist eine Diktion, die im liberalen Mainstream oft genug gegen Religionskritik aufgeboten wird, aktuellerweise vor allem nach islamistischen Terroranschlägen. Es ist eine Diktion, die an der Sache vorbeigeht, weil sie einer religionsinhärenten Logik folgt: Religion wird hier verteidigt, nicht hinterfragt. Unterschwellig nimmt man damit den Fundamentalismus in Schutz. Sowohl die liberalen Gläubigen als auch die Fundamentalisten meinen, das richtige Verständnis ihrer Religion (oder von Religion im allgemeinen) zu haben, und beide meinen zureichende Gründe zu haben, die eigene Auffassung als als die richtige hinstellen zu können. Beide meinen im Recht zu sein. Auch der liberale Theologe, der sich für tolerant hält, arbeitet unablässig daran, seinen eigenen Standpunkt als den richtigen herauszustellen. Dem Fundamentalisten spricht er die "richtige" Religiosität ab. Allerdings ist er sich der gemeinsamen Basis bewusst. Für ihn ist die "richtige" Religiosität eine Frage des Masses. Oder der richtigen Auswahl. Die Religiosität an sich kritisiert er natürlich nicht, und was den Fundamentalismus betrifft, so kritisiert er ihn nicht wie ein Atheist, sondern vom Standpunkt des Glaubens her. Auch der liberale Theologe hat eine religiöse Überzeugung und eine religiöse Lesart. Was ihn vom Fundamentalisten unterscheidet, ist das Bemühen, den Glauben an säkularistischen und humanistischen Werten auszurichten. Insofern hält er den Glauben für beliebig formbar. Diese Formbarkeit hat allerdings den Haken, dass sie ständig gegen den überzeitlichen Anspruch der heiligen Schriften ankommen muss und in letzter Konsequenz den Glauben auflöst, da sie die religiöse Verbindlichkeit - und damit auch die religiöse Gruppenbindung - aushöhlt. Glauben ist dann nur noch subjektive Interpretationssache. Für den Fundamentalisten eine Verfälschung oder Pervertierung des "wahren und guten Glaubens", den er in der wortwörtlichen Schrifttreue findet. Diese wiederum ist für den liberalen Theologen eine Verfälschung oder Pervertierung des "wahren und guten Glaubens", weil der Glaube, so die liberale Auffassung, etwas Gewordenes und Wandelbares sei, etwas Kontexthabhängiges und Menschengemachtes, womit die liberale Theologie meist ungewollt eine Türe zu Feuerbach und Marx aufstösst. Die liberale Theologie ist der gutgemeinte Versuch, einen Spagat zwischen religiösem Absolutheitsanspruch und einer lebbaren modernen Spiritualiät zu machen. Was natürlich nicht aufgeht. Oder nur unter der Voraussetzung, dass man die heiligen Schriften so gut wie möglich umschreibt und zurechtstutzt. So kommt es, dass sich die meisten christlichen Theologen auf den bequem verkündbaren Jesus der Nächstenliebe konzentrieren, den Sozialarbeiter-Jesus, und die Kernbotschaft des Christentums ausblenden: das Ostermysterium, die Auferstehung. So wie sie auch alle anderen Glaubenselemente ausblenden, die nicht in das moderne Weltbild passen. In letzter Konsequenz ist dann alles Biblische nur noch symbolisch gemeint. Und genau das ist der Knackpunkt. Das Ostermysterium wäre kein Mysterium, wenn es nur symbolisch gemeint wäre. Hier zündet das Evangelium seine heimliche Atombombe. Hier wird denn auch der Spreu vom Weizen getrennt. Entweder glaubt man. Oder man glaubt nicht. Punkt. Und genau das ist der Punkt, den der Fundamentalist mit Hochgenuss gegen die liberale Theologie ausspielt. Sein Selbstbewusstsein kommt nicht von ungefähr. Er weiss, dass er im Recht ist. Und auch objektiv gesehen hat er Recht. Man kann den Fundamentalismus nicht einfach als falsche Religiosität abtun. So einfach ist es nicht. Insofern steckt die liberale Theologie in einer Zwickmühle. Sie will tolerant sein. Aber kann sie auch tolerant gegenüber den Intoleranten aus den eigenen Reihen sein? Und was, wenn die Fundamentalisten die wahren Gläubigen sind? Wenn man von der liberalen Warte aus alles und jedes anzweifeln kann, dann müsste man als Liberaler auch den eigenen Standpunkt anzweifeln können.

 

Im Grunde genommen haben wir hier zwei Rosinen, die im gleichen Teig stecken. Auch die Gemässigten sind in den religiösen Wahn verstrickt. Egal, ob sie mit dem Fundamentalismus gemeinsame Sache machen oder ihn abwehren: sie hängen mit drin. Und jeder Versuch, religiös motivierte Gräueltaten von der "wahren und guten" Religiosität abzuspalten, ist Teil des Problems - und nicht die Lösung. Gerade deshalb sollte man jede Argumentation für die "richtige" Religiosität mit dem Skalpell des gesunden Menschenverstandes kappen. Es gibt keine "richtige" Religiosität. Religionen sind von Grund auf fragwürdig und dissonant, weil der religiöse Absolutheitsanspruch immer mitläuft. Man kann ihn unterdrücken, - was im Mainstream-Christentum selten ein Problem darstellt, weil das Christentum eine tief verwurzelte platonische Prägung hat und dank der jesuanischen Trennung von Weltlichkeit und Geistlichkeit keine absoluten Zugriffsrechte auf das Leben der Gläubigen besitzt. Radikale Christen können die Gesellschaft nicht im gleichen Masse vereinnahmen, wie das zum Beispiel radikale Muslime können. Doch letztlich bleibt der religiöse Extremismus auch im Christentum eine Gefahr. Die vernünftigen und humanen Seiten, die es durchaus gibt, kann man nicht aus dem Ganzen heraustrennen und isolieren - so wie man auch nicht herzhaft in einen Apfel beissen kann, von dem man weiss, dass ein Wurm drin ist.

 

Wer in einen Apfel beisst, sollte dies sehenden Auges tun. Wurm und Apfel sind keine Gegensätze. Der Apfel ist für den Wurm ein natürliches Biotop. Und so verhält es sich auch mit Religionen. Für Gewalttäter und Fanatiker sind sie seit jeher ein natürliches Biotop. Und vor allem auch für die Verrückten. Freud hat das nicht explizit so dargestellt, aber mit seiner Theorie des "traumatischen Wiederholungszwangs" hat er die Grundlage für eine illusionslose Einschätzung des Religiösen geschaffen. Weshalb stehen Religionen nicht nur für Nächsten- und Gottesliebe, sondern auch für Gewalt, Hass und Manipulation? Weil der Mensch nun mal so ist? Weil eine Religion eine Organisation ist, in der es immer auch um Macht geht? Solche Erklärungen sind unzureichend. In Wirklichkeit liegt das Problem in den Religionen selbst, in ihrem innersten Wesen. Und die wichtigste und wohl auch provokativste Erklärung für das, was Religionen so problematisch macht, stammt von Freud. Religionen gewährleisten eine psychische Bewältigung. Sie sind die Bühne, auf der die Menschheit die traumatische Grunderfahrung ihres Daseins immer und immer wieder durchspielen muss, zwanghaft und mit allen Schrecknissen, die zu dieser Grunderfahrung gehören. Das Einzige, was diesen Wiederholungszwang durchbrechen oder aufheben kann, ist das Bewusstsein der menschlichen Unabhängigkeit von "göttlichen Mächten". Das nennt sich Aufklärung. Religionen wollen immer nur scheinbar das Gute, und ihr Friedenspostulat betrifft immer nur einen Frieden auf Zeit oder unter speziellen Bedingungen. Religionen sind Wölfe im Schafspelz.  Leider hat sich in letzter Zeit ein Diskurs etabliert, der Religionen in Schutz nimmt und sie sogar als Heilmittel gegen religiösen Terrorismus anpreist. Das ist ein Irrtum. Der liberale Islam ist nicht das Heilmittel gegen den fundamentalistischen Islam. Der liberale Islam ist lediglich ein Islam, der ein bisschen schwächer dosiert ist.

 

Die längste Zeit ihrer Existenz ist die Menschheit einer bedrohlichen, unberechenbaren und zu einem Grossteil unerklärlichen Umwelt ausgesetzt gewesen. Angesichts von Naturgewalten, Krankheiten und der eigenen Sterblichkeit haben sich die Menschen einer projektiven elterlichen Autorität zugewandt, verkörpert im Göttlichen und seinen "unfehlbaren" Weisungen. So sieht Freud die Funktion des Religiösen. Aber noch wichtiger ist der Aspekt der psychischen Entlastung durch Wiederholung, Der unkontrollierbare Schrecken einer feindlichen, als traumatisch erlebten Umwelt wird in der Wiederholung quasi ritualisiert - und damit kontrollierbar. Das klassische Beispiel hierfür ist das Tier- oder Menschenopfer. Man besänftigt den schrecklichen Gott mit einem Opfer. Deutlich sehen wir das ja im Christentum: Jesu Opfertod dient der Versöhnung der abgefallenen, "sündigen" Menschen mit dem Göttlichen. Dieser Opfertod muss immer wieder inszeniert werden, er bleibt immer aktuell. Jede Religion ist von einer mehr oder weniger sublimen Wiederholung des Schrecklichen geprägt, das im rituellen Vollzug wie auch in der ganzen religiösen Praxis symbolisch durchgespielt wird. Das religiöse "Reenactment" bindet den Schrecken in dramatische Erzählungen, in Bilder und Rituale ein - und macht ihn dadurch erträglicher. Es mildert ihn ab. Der Mensch entlastet sich, indem er das Schreckliche  nach oben projiziert. Anstatt getötet zu werden, bringt er ein Opfer dar. Anstatt an einer Krankheit zu sterben, zelebriert er das Leiden und den Tod. Anstatt sich mit dem Unerklärlichen des Universums zu konfrontieren, definiert er etwas Heiliges, das ihn schaudern lässt, und umgibt es mit allerlei sinnlosen Tabus. Anstatt an den Naturgesetzen zu verzweifeln, die ihn hungern, frieren und altern lassen, stellt er religiöse Gesetze auf, und wer sich nicht an sie hält, wird ausgestossen oder getötet. Anstatt dem ewigen und ungerechten Zufall des Lebens unterwirft er sich einer irrationalen Macht, deren Ratschlüsse unergründlich sind. Und sogar noch in Bachs Toccata spürt man das Zittern vor dem urgewaltigen Schrecken, den man bewältigt, indem man ihn nachvollzieht und wiederholt. Indem man ihn künstlich erzeugt. Zum Beispiel in Form musikalischer Dramatik, für die Bachs Toccata ein Musterbeispiel ist. Was einen Freudianer kaum verwundern dürfte: Bachs Toccata findet häufig in Horrorfilmen Verwendung. Den rituellen Vollzug kann man durchaus mit dem kathartischen Effekt eines Horrorfilms vergleichen, den man mit anderen Leuten zusammen anschaut. Man durchleidet das Schreckliche gemeinsam. Man ist nicht allein damit. Der traumatische Wiederholungszwang verbindet sich mit der religiösen Nestwärme einer Gruppenideologie. Dieser Mechanismus, der seinen grausig archaischen Hintergrund oft mit sublimer Theologie bemäntelt, schützt den Einzelnen wie auch das Kollektiv vor den Schrecknissen einer unkontrollierbaren Realität. Die Vorstellung einer höheren Ordnung und eines personalen, planvoll lenkenden Gottes tröstet über die tatsächlich vorhandene Sinnlosigkeit alles Seienden hinweg. Wobei dann eben das Theodizee-Problem ("Wie kann ein guter Gott das naturbedingte Übel in der Welt zulassen?") zu einer steten Abwehr zwingt. Der religiöse Mensch muss eine Logik verteidigen, die eigentlich wahnsinnig ist. Die Realität, so weit ist überhaupt erkennbar ist, bestätigt eigentlich nur, dass da kein Gott ist, der vernünftigerweise angebetet werden kann.

 

Das grosse Staunen über die eigene Existenz und die Existenz überhaupt ist eine Grundwurzel von Spiritualität. Aber auch von Philosophie. Und hier scheiden sich bereits die Geister. Während der Mystiker wie auch der Philosoph die Welt als Fragezeichen oder Abgrund begreift, gibt es Menschen, die sich mit dieser existentiellen Unsicherheit nicht abfinden können oder wollen. Für sie gibt es das religiöse Normengefüge, das im jeweiligen Glaubensbekenntnis verbrieft ist. Mystik und Philosophie beruhen nicht auf Normen und Bekenntnissen. Sobald man etwas festnagelt und zum Dogma erklärt. ist es mit der Mystik und der Philosophie vorbei. Was liberale Theologen gerne herunterspielen. Ein Spagat zwischen Religion und offener Spiritualität und erst recht zwischen Religion und Philosophie, die seit Kant jede metaphysische Aussage als gegenstandslos ansieht, ist äusserst schwierig. Vielleicht sogar unmöglich, wenn man diesen Spagat ohne intellektuelle Schummelei vollziehen möchte. Der philosophische "Sprung in den Glauben" (Blaise Pascal, Kierkegaard) ist ein Ausdruck persönlicher Exzentrik: faszinierend, aber kaum nachahmenswert. In der nicht-philosophischen Praxis der menschlichen Existenz, auch Leben genannt, gibt man damit den Verstand an der Garderobe ab. Der religiöse Mensch muss mit dieser Diskrepanz fertig werden: eine gefährliche Überforderung. Entweder setzt er auf Verdrängung und flüchtet in eine Scheinwelt. Oder er wird zum religiösen Fanatiker und knüppelt alle logischen Einwände nieder. Die religiöse Gefahr liegt darin, das das regressiv-kindliche Wunschdenken, auf das schon Freud hingewiesen hat, massiv gekränkt wird, wenn die Realität davon abweicht. Eine Zeitlang kann man dieses  Harmoniebedürfnis an der Realität vorbeischmuggeln: mit viel Weihrauch und autosuggestiven Beschwörungen und Ritualen. Oder mit dem falschen Bewusstsein, ein "Bekehrter" zu sein, ein "wahrer Gläubiger". Auf Dauer zeigen sich dann aber doch ein paar Risse, die man nicht verdrängen kann. Die uneingestandene Widersinnigkeit des Glaubens - seine Inkompatibilität mit der Realität - treibt strenggläubige Menschen in ein kompensatorisches Sicherheits- und Überlegenheitsszenario hinein. Mit diesem Befund rückt man den Glauben in die Nähe einer ganzen Reihe psychischer Erkrankungen, die mit ähnlichen Mechanismen zusammenhängen. Und so landet man wieder bei Freud und seinem "traumatischen Wiederholungszwang".

 

Eine Religionskritik, die sich mit Freud wappnet, um den psychischen Mechanismus des Religiösen freizulegen, geht viel weiter als Dawkins, der sich lediglich an irrationalen Wahrheitsaussagen festbeisst. Damit bleibt er oft an der Oberfläche. Er fokussiert und kritisiert, was religiöse Menschen für wahr halten. Doch deren "Für-wahr-Halten" betrifft immer nur das Faktische. Auf dieser Ebene kann man Religionen relativ leicht demontieren. Jeder Primarschüler kann das Christentum oder den Islam als faktenwidrig entlarven, dazu braucht es keinen renommierten Naturwissenschaftler. Schwieriger wird es, wenn es um Bedeutungsmuster und Erfahrungswerte geht, die sich nicht im Faktenglauben erschöpfen. Auch unterscheidet Dawkins kaum zwischen den verschiedenen Religionen. Ausser vielleicht zwischen monotheistischen und nicht-monotheistischen Religionen. Innerhalb des Spektrums der abrahamitischen Religionen und vor allem auch innerhalb des Christentums macht er kaum Qualitätsunterschiede, wirft alles in den gleichen Topf. Wobei er sich besonders ausführlich mit den Evangelikalen beschäftigt. Dawkins ist zwar Brite, bezieht sich jedoch sehr stark auf US-amerikanische Verhältnisse. Sein Hauptfeind ist der Evangelikalismus. Als Europäer fragt man sich allerdings, ob sich Dawkins nicht besser den Islam vorknöpfen sollte. Auf das Christentum einzuprügeln, hat immer ein bisschen den Anstrich von Gratismut. Der Witz am Christentum besteht ja gerade darin, dass es Kritik und Blasphemie zulässt. Und dass es all das gewährleistet, was Dawkins dem Fundamentalismus entgegensetzt. So verkennt Dawkins zum Beispiel, dass das Christentum schon in den Evangelien (Matthäus 22,21) dem Säkularismus den Boden bereitet hat. Und dass durch die christliche Vorstellung eines Gottes, der Mensch geworden ist und dessen Leiden und Schwächen teilt, ein menschenzentriertes, von Grund auf humanistisches Weltbild geschaffen wurde, das dem Islam fremd ist. Dawkins nimmt die Religion als Gesamtphänomen unter Beschuss. Wenn er aber konkret wird, zielt er allzu schnell auf das Christentum ab. Eine Haltung, die man bei vielen Atheisten findet. Klar, der Atheismus ist in der Auseinandersetzung mit dem Christentum entstanden. Christen und Atheisten sind wie ein altes, ständig verkrachtes Ehepaar. Man kann nicht miteinander, aber ohne einander kann man auch nicht. Und eigentlich hat sich dieser Krach überlebt. Im 21. Jahrhundert geht die atheistische Fixierung auf das Christentum am gefährlichsten religiösen Fanatismus vorbei. Es gibt keine radikalen Christen, die sich mit Sprengstoffgürteln in die Luft sprengen oder Flugzeuge in Hochhäuser lenken. Auch arme und unterdrückte Christen morden (fast) nie im Namen ihrer Religion. Diesen Unterschied allein auf politische und soziale Faktoren zurückzuführen, greift zu kurz. Das Christentum hat den Sprung in die moderne Welt geschafft, der Islam nicht. Das Christentum kennt einen liberalen Mainstream, der Islam nicht. Das Christentum kann in Übereinstimmung mit säkularen Grundwerten gelebt werden, der Islam nicht. Der Islam ist eine Staats-, Gesellschafts- und Rechtsordnung, die mit einer säkularen Gesellschaft nicht vereinbar ist. In der Diaspora bietet der Islam eine Zwischenlösung an, die als solche klar definiert ist. Eine solche Regelung kennt das Christentum nicht: Weltliches und Geistliches sind hier schon immer getrennt gewesen. Nicht absolut - und nicht überall gleich stark. Aber die Trennung ist schon in der theologischen Grundanlage als Programm enthalten: man gebe dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Man könnte sogar argumentieren, dass es ohne das Christentum keinen Humanismus, keinen Säkularismus und keinen Atheismus gäbe. Das Christentum konnte sich - wenn auch unter Krämpfen - selber entmachten und verweltlichen, was dem Islam nicht möglich ist. Eine Liberalisierung ist im Islam ziemlich schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Unter diesem Aspekt muten Dawkins Angriffe auf das Christentum manchmal etwas fehlgeleitet an. Dennoch hat er Recht, wenn er den Monotheisten pauschal einen "Gotteswahn" unterstellt, insofern er damit auf die Grundstrukturen des Glaubens zielt, und er geht keineswegs zu weit, wenn er die liberale Theologie, die diesen "Gotteswahn" unterschwellig mitträgt, in die Verantwortung nimmt.

 

Was Dawkins mit Freud verbindet, ist der Realitätssinn. Religiösen Wahnsystemen kann man nichts anderes entgegensetzen. Man muss sie immer und immer wieder mit der Realität konfrontieren. In der gegenwärtigen Debatte um Mohammed-Karikaturen, Dawkins "Gotteswahn" und die "neue Ethik für nackte Affen", wie Michael Schmidt-Salomon seinen humanistischen Atheismus nennt, entlarven sich auch gemässigte religiöse Repräsentanten als erstaunlich aggressiv. Und was die Fundamentalisten angeht, so kann man von einem regelrechten Revival reden. Die Verrückten sind wieder da! Und wehe, man bezeichnet sie als verrückt! Eine Bezeichnung, die weit über blosse Polemik hinausgeht. Hier liegt ja eigentlich der Kern der Sache. Wenn wir zum Beispiel sehen, wie religiöse Fundamentalisten (und im Islam oft auch schon Mainstream-Gläubige) auf Religionskritik reagieren, so kommen wir nicht umhin, Religionen mit besonders schwierigen Irrenhauspatienten zu vergleichen. Man muss Rücksicht nehmen. Man darf nicht alles sagen. Man muss dem Irren, der sich für Napoleon hält, zu verstehen geben, dass man sein Selbstbild und seine Realitätswahrnehmung respektiert. Tut man es nicht, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Freud ist insofern der ultimative Religionskritiker, als sein pathologischer Befund auch die Normalgläubigen trifft. Wenn ich als Katholik oder Protestant Christi Blut trinke, sieht sich niemand veranlasst, mich in die Klapsmühle zu sperren. Was ich in der Eucharistie oder beim Abendmahl glaube und mache, unterliegt einem gewissen Gruppenkonsens, egal, wie exklusiv es ist. Ausserdem kann man es theologisch relativieren und kontextualisieren. Wenn ich aber selber eine Religion gründe und auf der Strasse Ketchup verteile, das ich als das heilkräftige Blut der grossen Tomatengottes anpreise, muss ich damit rechnen, dass ich gratis ein neues Hemd bekomme: eines mit Schnallen und Schnüren. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob ich vom Wahrheitsgehalt meiner Religion überzeugt bin oder sie nur inszeniere, um mich wichtig zu machen. So oder so gelte ich als verrückt. Inhaltlich handelt es sich bei den beiden Vorgängen (Eucharistie/Ketchup-Speisung) in etwa um das Gleiche. Oder zumindest kann man es auf die gleiche Stufe des Wahnsinns stellen. Bei 20 bis 30 Prozent aller Schizophrenieerkrankungen treten religiöse Wahnvorstellungen auf. Diese Häufung ist kein Zufall. Das Wahnhafte gehört ganz wesentlich zur Grundstruktur des Religiösen. Das wusste Freud aus seiner psychiatrischen Praxis. Und bis heute hat dieser Befund nichts von seiner Gültigkeit verloren. Der Unterschied zwischen einer paranoischen Phantasie und einer akzeptierten Religion liegt in der Rezeption, nicht in der Sache an sich. Oder anders gesagt: wenn sich ein einzelner Mensch in eine Wahnvorstellung verstrickt, gilt er als wahnsinnig. Wenn es eine kleine Gruppe tut, gilt sie als sektiererisch. Und wenn es zwei Milliarden Menschen tun, gelten sie als religiös.

 

“Ein Mann von 57 Jahren leidet seit einem Jahr an Wahnsinn. Er glaubt mit Gott in einer besonderen Verbindung zu stehen und erwartet seine Verherrlichung und die Demütigung seiner Feinde. Er behauptet, dass Gott, welchen er auch mit dem Wort BARONS-GROSSVATER bezeichnet, verdeckt mit ihm spreche, d.h. auf eine Art mit ihm spreche, dass er nicht alles verstehen könne. Er sei, erzählt er ferner, am rothen Meer gewesen, und habe dort einen Mann in einer Höhle sitzen sehen, welcher JUBEL heisse und ein Stiefbruder des Evangelisten Johannes sei. Er würde diesen Mann noch näher beschreiben können, wenn er (der Kranke) nicht GESPRENKELT sei. GESPRENKELT sei aber gleichbedeutend mit geblendet.”

 

(“Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin”, Berlin, Verlag August Hirschwald, 1852)

 

2013